Heft #19 Auftrag Kunst - Staatstheater Hannover

HEFT #19
00.01
03 EDITORIAL 04 DER AUFTRAG 06 CORINNA HARFOUCH IN HEINER MÜLLERS DER AUFTRAG. EIN GESPRÄCH 10 RETURN TO SENDER.
HARTMUT EL KURDI SPIELT DEN BALL ZURÜCK 13 LARS-OLE WALBURG UMKREIST UND UMREISST DEN POLITISCHEN AUFTRAG DES THEA­
TERS 15 WOLFRAM LOTZ IM GESPRÄCH ÜBER SCHIMMELKÄSE, SPRICHWÖRTER UND DAS UNMÖGLICHE 18 DIE LÄCHERLICHE FINSTERNIS
20 MANUEL SCHEIDEGGER BEFRAGT DAS STADTTHEATER DES 21. JAHRHUNDERTS 24 MARIUS VON MAYENBURG ÜBER DEN ELAN DES AUFBRUCHS UND DIE ERKENNTNISSE DER PRAXIS 28 NIS-MOMME STOCKMANN SCHREIBT EIN AUFTRAGSSTÜCK. SZENE EINS 34 HUMOR UND
HERRSCHAFT. FRANK-MARKUS BARWASSER IM GESPRÄCH MIT ILIJA TROJANOW 38 CLEMENS MEYER ERINNERT SICH AN DIE LEIPZIGER
STALLGESPRÄCHE 40 ALEXANDRA BADEA THEMATISIERT DAS MODERNE ARBEITSLEBEN 42 DIETER HUFSCHMIDT ZUM 60. BÜHNENJUBILÄUM 43 SHOCKHEADED PETER 44 HÖHEPUNKTE OKTOBER 2015 BIS JANUAR 2016
02.03
ICH KENNE KEINEN AUFTRAG.
ANTOINE IN HEINER MÜLLERS DER AUFTRAG
LIEBE ZUSCHAUERINNEN,
LIEBE ZUSCHAUER,
in Heiner Müllers Stück Der Auftrag, das unsere Spielzeit eröffnet hat, sollen drei
Emissäre des französischen Konvents die Revolution und ihre drei Prinzipien Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit in die Welt hinaustragen. Ihr Auftrag ist klar. Sie sollen
einen Aufstand auf Jamaika anzetteln. Als Napoleon im fernen Frankreich die Macht
übernimmt ändert sich alles. Der Auftrag wird hinfällig. Das Stück hat den Untertitel
Erinnerung an eine Revolution. Zu Beginn des Stücks überbringt ein Matrose einen
Brief an den Auftraggeber Antoine, in dem vom Scheitern der drei Emissäre erzählt
wird. Später wird im Rückblick das Geschehene erinnert. Antoine leugnet, etwas mit
dem Auftrag zu tun zu haben. »Ich weiß von keinem Auftrag.«
Vor zwanzig Jahren starb Heiner Müller, und mit ihm verstummte eine Stimme, die in
der deutschen Dramatik fehlt. Corinna Harfouch, die im Auftrag hier in Hannover
spielt, verband mit Müller eine langjährige Arbeitsbeziehung. Sie erinnert sich in
diesem HEFT (S. 06) an die Arbeit mit dem Dramatiker und denkt über ihre Arbeit am
Auftrag und die damit verbundene Frage nach der Positionierung des Künstlers in
heutiger Zeit nach. Denn was lag näher, als die Frage nach unserem Auftrag zum
Thema des ersten HEFTes zu machen. Wissen wir denn noch, was unser Auftrag als
Theaterkünstler ist? Wissen wir es und leugnen es aber wie Antoine? Wer gibt einem
überhaupt einen Auftrag? Die Gesellschaft? Ein namenloser Chef wie im Monolog Der
Mann im Fahrstuhl, der in den Auftrag eingebettet ist und in dem es heißt: »Vielleicht
geht die Welt aus dem Leim und mein Auftrag, der so wichtig war, daß ihn der Chef
mir in Person erteilen wollte, ist schon sinnlos geworden durch meine Fahrlässigkeit.«
Dass die Welt aus dem Leim geht, ist ein Eindruck, der sich einem schon seit
Längerem aufdrängt. Was sind die Konsequenzen daraus? Gedanken, die Hartmut El
Kurdi (S. 10) und Lars-Ole Walburg (S. 13) aufgreifen, wenn sie über Theater in Spannung zur Politik nachdenken. Und der Philosoph Manuel Scheidegger denkt über den
Auftrag des Stadttheaters des 21. Jahrhunderts an der Schnittstelle von Computergames, gemischter Sauna und Eucharistie nach (S. 20).
Wenn wir das Thema unseres HEFTes an einem Stück des Dramatikers Heiner Müller
aufhängen, dann ist es fast folgerichtig, dass dieses HEFT auch ein ausgesprochenes
Autorenheft geworden ist. Der Dramatiker Wolfram Lotz, von dem seit kurzem Die
lächerliche Finsternis in der Cumberlandschen Bühne läuft, spricht über seinen Anspruch als Autor (S. 15), Marius von Mayenburg, der mit Was ihr wollt erstmals in
Hannover inszeniert, erzählt über den Elan des Aufbruchs und die Erkenntnisse der
Praxis während seiner Zeit als Dramatiker und Dramaturg an der Berliner Schaubühne
(S. 24), Nis-Momme Stockmann thematisiert in einem ersten Auszug seines Auftragsstücks Amerikanisches Detektivinstitut Lasso genau die Schwierigkeiten mit dem Auftrag, ein Musical über Fritz Haarmann zu schreiben (S.28), die junge rumänisch / französische Autorin Alexandra Badea erzählt über ihr Stück Zersplittert (S. 40) und
Clemens Meyer bricht in einem Auszug aus seiner III. Frankfurter Poetikvorlesung
eine Lanze fürs Theater (S. 38). Der Autor Ilija Trojanow, der uns drei Jahre als Moderator der Weltausstellung Prinzenstraße begleitete, spricht mit dem Kabarettisten
Frank-Markus Barwasser aka Erwin Pelzig über Humor und Herrschaft (S. 34).
Dieses HEFT ist der Versuch einer Standortbestimmung von uns als Theaterkünstlern
für Sie als Zuschauer und vielleicht eine Grundlage, um miteinander ins Gespräch zu
kommen, wie wir auf die Veränderungen, die unweigerlich anstehen, reagieren können. AUFTRAG KUNST.
Johannes Kirsten
Foto:
Foto:Peter
Katrin
Hiltmann
Ribbe
04.05
Hagen Oechel, Corinna Harfouch, Janko Kahle in Der Auftrag
Foto: Katrin Ribbe
AUFTRAG »AUFTRAG«
EIN GESPRÄCH MIT DER SCHAUSPIELERIN CORINNA HARFOUCH ÜBER IHRE ARBEIT MIT HEINER MÜLLER, DER AUFTRAG IN HANNOVER UND
DEN AUFTRAG ALS THEATERKÜNSTLERIN
06.07
INTERVIEW: JOHANNES KIRSTEN
Foto: Katrin Ribbe
FÜR MICH HAT SICH THEATER UM DIE GROSSEN FRAGEN ZU DREHEN.
Corinna Harfouch, Sarah Franke in Der Auftrag
Wann ist dir das erste Mal ein Text von Heiner Müller
begegnet? __HARFOUCH Das war Die Schlacht in einer
Inszenierung an der Volksbühne am Rosa-LuxemburgPlatz Berlin. Ich war im ersten Studienjahr der Schauspielschule. Ich erinnere mich an die enorme Verwirrung, die dieser Abend in mir ausgelöst hat. Jürgen
Kuttner erzählte mir kürzlich, dass auch er damals diese
Inszenierung gesehen habe und sie es war, die ihm
überhaupt erst die Idee davon gegeben hat, dass Theater für ihn ein interessanter Ort sein könnte. Für mich
gab es die vorher schon. Ich wollte ja Schauspieler­in
werden, wollte ans Theater, diesen Spielraum. Die
Schlacht war ein Erlebnis, das ich nicht deuten konnte.
Ich kann mich noch entsinnen, dass mir schlecht wurde
und ich überhaupt nicht mit dem Kopf reagieren konnte.
Am Ende meines dritten Studienjahres dann habe ich
mit Fritz Marquardt eine Probenwoche im Roten Salon
der Volksbühne verbracht. Wir probten Klein Eyolf von
Ibsen. Aus irgendeinem Grund hatte Marquardt von mir
erfahren. Am Ende ist es nicht zu einer Premiere gekommen, aber Marquardt muss Heiner Müller auf mich
aufmerksam gemacht haben, denn plötzlich bekam ich
das Angebot, die Lady Macbeth in Müllers Inszenierung
zu spielen. Ich dachte zunächst ganz konventionall,
Lady Macbeth müsste eine ältere Frau sein. Aber das ist
sie nicht. So lernte ich diesen Autor und Theatermacher
kennen. Das Schöne war, dass ich nicht wusste, was
das eigentlich heißt. Aus diesem Grund war ich, was
ihn betrifft, relativ frei. Das Ensemble der Volksbühne
war auch damals ein sehr starkes. Ich war voller Ehrfurcht vor diesen Schauspielerpersönlichkeiten. Alle
hatten ein lockeres Verhältnis Müller gegenüber. Er war
für sie einfach ein Kumpel, der irgendwie auch mitmachen durfte. Es gab keine Ehrfurcht, sondern eine sehr
freundschaftliche, lockere Art und Weise, miteinander
umzugehen.
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Hast du den Auftrag in Müllers Inszenierung an der
Volksbühne damals gesehen? __HARFOUCH Ja, die
war im 3. Stock der Volksbühne, in einem Raum für nur
40 Zuschauer. Dass die damals im 3. Stock zur Aufführung kam, hatte sicher auch mit dem Bühnenbildner
Schlieker zu tun. Er war bis dahin Bühnenarbeiter und
wurde gerade von Müller als Bühnenbildner entdeckt.
Einem Anfänger gibt man zunächst eine Inszenierung in
einem kleinen Raum. Der damalige Intendant wollte
vielleicht auch der Regiearbeit von Müller nicht so viel
Bedeutung beimessen. Schließlich war er in erster Linie
Autor. Ich habe damals zur gleichen Zeit in der Volksbühne probiert. Als Studenten haben wir statt einer Abschlussarbeit eine Inszenierung entwickelt. Die durften
wir, aus welchen Gründen auch immer, in diesem Thea­
ter probieren. Ich sah das Ensemble des Auftrags immer
Corinna Harfouch in Der Auftrag
in ihren Probenraum huschen – wie eine Sekte, die an
ihren Geheimort geht.
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Ist Müller der einzig wahre Inszenator seiner Stücke?
__HARFOUCH Nein, so würde ich das nicht sehen. Es
hat auch andere wichtige Inszenierungen seiner Texte
gegeben. Aber es ist schon eine große Frage, wie man
Müller inszeniert, wie man mit seinen Texten umgeht.
Deswegen bin ich inzwischen überzeugt davon, dass
wir in unserer Inszenierung hier am Schauspiel Hannover eine ganz gute Form gefunden haben. Es ist ja die
Frage: Wie verführt man den Zuschauer zu Müller? Ich
liebe diese Sprache und diese Gedankenwelt schon seit
Langem. Sie ist wie ein Lebenselixier für mich. Ich liebe
das mit meinem ganzen Körper, diese Sprache zu sprechen. Aber ich bin auch erst langsam in diese Gedankenwelt hineingewachsen. Ich glaube, man muss das
lernen. Das sollte man dem Publikum auch zugestehen.
Man kann das nicht voraussetzen. Die Begegnung mit
Müller hat mich in meiner Sicht auf Theater insgesamt
beeinflusst. Für mich hat sich Theater um die großen
Fragen zu drehen, es ist auch der einzige richtige Darstellungsraum, wo man die wirklich großen Fragen bearbeiten kann. Frank Castorf hat das nach der Wende
an der Volksbühne großartig vorgemacht: die ganz
großen Überschriften, das ganz Banale unten drunter
und der ganze Rest dazwischen. Andernorts ging es
nach der Wende mehr und mehr darum, sich private
Geschichten auf dem Theater zu erzählen. Meine erste
Arbeit dieser Art war in der Inszenierung von Jürgen
Gosch. Ich hatte Probleme damit, dass es sich nur um
diese private, psychologische Geschichte handelt, die
das Entscheidende, das meiner Meinung nach aufs
Thea­ter gehört, den gesellschaftspolitischen Horizont,
einfach weglässt. Das ist ja leider inzwischen mehr und
mehr so.
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Da hat sich im Verlaufe der Jahre etwas im Selbstverständnis des Theaters gewandelt? __HARFOUCH
Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, dass es damals in der DDR
eine wesentlich politischere Zeit war. Ganz egal, wie
die Leute sich im Einzelnen vielleicht versteckt haben,
war doch jeder mit der politischen Situation konfrontiert
und hatte von ihr ein ausgeprägtes Bewusstsein. Auftrag war damals wirklich ein in der Zeit sitzendes Stück,
mit all den Fragen, die damals jeder auf die DDR bezogen hat. Aber wie sich jetzt herausstellt, ist das Großartige an diesem Stück – an den Müller-Stücken überhaupt –, dass sie einen viel größeren Kosmos aufmachen.
Das würde ich auch von den Texten sagen, von denen
gerne behauptet wird, man kann sie nicht mehr spielen, weil sich der Bezugsrahmen verändert hat. Man
sollte sie sich mal genauer angucken.
Foto: Katrin Ribbe
08.09
Ich bin ein großer Fan von Der Lohndrücker. __HARFOUCH Das ist doch ein großartiges Stück!
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Das Stück behandelt natürlich Fragen, die sehr spezifisch mit den Anfängen der DDR zu tun haben, aber
vielleicht muss man das Stück und gleichzeitig in
einer anderen Ebene, die Distanz zu dem Stoff erzählen. Was ist in den letzten 50 Jahren passiert und
warum lesen wir das Stück jetzt anders als damals.
Was steckt in so einem Stoff an Ideen über die die
Zeit hinweggegangen ist und die man vielleicht zu
Unrecht vergessen hat? __HARFOUCH Ich lese gerade
von Irina Liebmann das Buch über ihren Vater Wäre es
schön? Es wäre schön! Er war der erste Chefredakteur
des Neuen Deutschlands und sie versucht, in dem Buch
sein Leben zu verstehen. Worin bestand der unerschütterliche Glaube dieser Kommunisten? Es ging ihnen darum, eine Gesellschaft zu organisieren, die gerecht ist,
wo es keine so immensen Unterschiede mehr bei den
Eigentumsverhältnissen geben würde. Diese Gedanken
sind für mich absolut nachvollziehbar. Die Lektüre dieses Buches hat in mir Wut und Trauer ausgelöst. Dieser
Glaube der Kommunisten, dass die Partei unangreifbar
ist, ähnlich wie in einer Religion und dann scheitert alles an dem Niveau des Einzelnen, der den und den Charakter hat. Wie ist diese Dynamik entstanden? Es gibt
für mich keine Frage, dass die kommunistische Idee
nicht von außen zerstört worden ist, sondern sich tatsächlich von innen heraus diskreditiert hat. Das ist es,
was einen so wütend macht.
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Da sind wir auch wieder beim Ende vom Auftrag und
bei der Frage des Verrats. __HARFOUCH Es lassen sich
im Moment so unglaublich schwer Kollektive denken,
die eine gewisse Kraft und Macht haben, um tatsächlich
etwas zu verändern – Kollektive, die sich um eine Utopie herum ansammeln. Durch die Entwicklungen im
Moment, durch die Menschen, die unterwegs sind, fliehen und heimatlos werden, sind wir gezwungen, uns zu
bewegen. Und vielleicht ist das auch richtig. Es ist eine
Situation, die ich als große Chance betrachte. Da kommen grundsätzliche Fragen auf den Prüfstand. Ist dieses
System, in dem wir jetzt leben, wirklich das allheiligmachende System oder können wir uns tatsächlich neu
aufstellen? Was für Utopien haben wir überhaupt? Worum geht es uns?
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Und wir machen Theater mit dem Anspruch, uns
genau diesen Fragen zu stellen. __HARFOUCH Das
stimmt, nur sind wir als Theater in keiner Weise schlauer. Wir sind auch eine kleine Gesellschaft. Die ist nicht
homogen, sondern sehr vielfältig. Wir sollten uns nicht
hinter irgendeinem Auftrag verstecken, der von außen
an uns herangetragen wird. Wir haben keinen Auftrag.
Wir haben den Auftrag als Theater zu überleben.
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Als anachronistische Form? Als Utopie? __HARFOUCH
Die innere Theater-Organisation, die ist so altmodisch
hierarchisch und widerspricht eigentlich jeglichen Utopien! Die widerspricht allem. Das ist eine Arbeitsorganisation, die per se vollkommen unliberal ist. Deswegen
finde ich, das Theater kann sich durchaus auch selber
befragen und sich als Labor begreifen, in dem menschliche Arbeitszusammenhänge untersucht werden können. Ist es eben doch so, dass diese sogenannte Ungleichheit allein schon darin besteht, dass jeder Mensch
niemandem gleicht? Man ist nun mal ein Individuum.
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Wie erging es dir hier in der konkreten Arbeit am
Auftrag ? __HARFOUCH Bei unserer Arbeit habe ich es
als großes Glück empfunden einer sehr starken Setzung
zu begegnen, mit der ich mich bekannt machen musste – es ging darum zu versuchen, so gut zu werden, wie
die Idee ist. Das ist eine sehr angenehme Arbeit für
mich gewesen. Und dann ist es natürlich ein großes
Glück, sich überhaupt mal wieder mit Müller zu beschäftigen und mit einem Theater, das sich mit den Fragen, die mich nachhaltig und wahrscheinlich bis ans
Ende meiner Tage zutiefst bewegen und angehen, auseinandersetzt. Ich hab als Kind relativ frühzeitig versucht, den nicht gerade reichlich ausgestatteten Bücherschrank meines Vaters zu lesen. Das waren alles
Erwachsenengeschichten und ich habe nur einen
Bruchteil davon verstanden. Diese Literatur wirkte aber
wie Zeitbomben, die dann erst nach Jahren hochgingen. Oft habe ich sehr viel später erst begriffen, was ich
gelesen hatte. Ich finde, auch das Theater muss Ereignis
bleiben! Für den Zuschauer. Wir müssen dafür sorgen,
dass wir nicht noch mehr dem Produktionsdruck verfallen und wir uns in der Vielzahl und in der Beliebigkeit
der Dinge, die wir machen, verlieren. Wir müssen intensiv bleiben. Wie machen wir das? Das ist die große
Frage.
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Intensiv bleiben und die Fragen stellen, die sonst
keiner stellt, die nicht marktkonform sind. Wenn das
lustvoll und mit Verführung geschieht, wie ich das
bei unserer Auftrag-Inszenierung empfinde, dann
umso besser. __HARFOUCH Unbedingt. Verführung ist
wichtig. Ich kann mir vorstellen, dass unsere Inszenierung, neben all der Lust, das zu sehen, auch eine tiefe
Ratlosigkeit auslöst. Es ist überhaupt nicht einfach, sich
persönlich da irgendwo anzubinden. Aber das sind die
Dinge, die vielleicht dazu führen, dass der Zuschauer
reingeht und nicht gleich im Anschluss über etwas vollkommen anderes redet.
Am Ende vom Auftrag kommt der Verrat. Man kann
diese »Erinnerung an eine Revolution« auch als eine
große Resignation lesen. Ist das eine Haltung, die du
dir auch zu eigen machst? __HARFOUCH Ich habe das
Gefühl, ich darf gar nicht resignieren. Wie komme ich
dazu? Ich glaube, dass dieses Leben schon immer eins
war, wo wir mit dem Mund gerade noch so über dem
Wasser sind und rudern, kämpfen und schwimmen, um
oben zu bleiben. Es ist eventuell gar nicht möglich irgendwann auf irgendeinem Gipfel, auf dem dann alles
gut ist, anzukommen. Aber es ist wichtig, dass es eine
Utopie, eine Idee, ein Streben gibt. Resignation würde
für mich bedeuten, dass man diese ganz großen Fragen
und Utopien, wie menschliches Leben tatsächlich aussehen sollte, leugnet und wegnimmt. Man würde dann
von den Strömen der Zeit überwältigt werden und nur
noch reagieren und versuchen, seine Haut zu retten.
Genauso wie das Theater, das nur seine Haut rettet,
wenn es sich in den Dienst irgendeines Auftrags stellt.
Theater muss ein Ort der Utopien sein. Von so Yazmina
Reza Stücken, diesen Beschreibungen von kleinen
Wehwehchen und Befindlichkeiten, habe ich so die
Nase voll. Unsere Todesangst auf so eine seltsam private
Formel zu bringen, empfinde ich als ein einziges Gejammer. Theater ist mir zu schade dafür. Die Möglichkeiten
des Theaters sind zu schade dafür. Der Tod ist bei Müller
nie privat. Ich glaube, auch unser Abend, wie spielerisch er auch ist, hat eine Wucht und einen Schmerz.
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CORINNA HARFOUCH WURDE IN SUHL GEBOREN. 1978
BEGANN SIE IHR STUDIUM AN DER HOCHSCHULE FÜR
SCHAUSPIELKUNST ERNST BUSCH BERLIN. 1983
SPIELTE SIE IN HEINER MÜLLERS INSZENIERUNG
»MACBETH« DIE LADY MACBETH AN DER BERLINER
VOLKSBÜHNE UND WURDE ANS BERLINER ENSEMBLE
ENGAGIERT. SEIT 1991 IST HARFOUCH ALS FREIE
SCHAUSPIELERIN TÄTIG. AM DEUTSCHEN THEATER
BERLIN ARBEITE SIE UNTER ANDEREM MIT STEPHAN
KIMMIG UND JÜRGEN GOSCH, AUSSERDEM GASTIERTE
SIE AN DIVERSEN ANDEREN DEUTSCHSPRACHIGEN
BÜHNEN, DARUNTER BURGTHEATER WIEN, STAATSTHEATER STUTTGART, SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH UND
NUN ERSTMALS AM SCHAUSPIEL HANNOVER. NEBEN
IHRER ARBEIT AM THEATER WIRKTE SIE IN ZAHLREICHEN KINO- UND FERNSEHPRODUKTIONEN MIT.
HARFOUCHS ARBEIT WURDE MEHRFACH AUSGEZEICHNET, ZULETZT MIT DEM THEATERPREIS BERLIN.
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Ensemble in Der Auftrag
RETURN TO SENDER
10.11
EINE WIRRE, SEMIPATHETISCHE, ABER NOTWENDIGE POLEMIK ÜBER AUFTRÄGE IM THEATER UND DIE POLITIK-SIMULATIONSFUNKTION DER
KUNST
TEXT: HARTMUT EL KURDI
Trotz der verfassungsmäßig garantierten Freiheit der Kunst, trotz des von manchen
Kulturschaffenden mantramäßig geäußerten Credos, Kunst habe niemandem zu dienen, nur sich selbst, Kunst sei ein autonomes System, muss man realistisch feststellen: Das Theater ist nicht frei. Und war es auch noch nie. Nicht frei von Ansprüchen
und Forderungen der Herrschenden, der Religionen, der Gesellschaft, nicht frei von
Aufträgen, die ihm erteilt wurden. Und nicht frei von selbst formulierten ExistenzLegitimationen.---------------------------------------------------------------------In Deutschland fällt einem dazu zwangsläufig das etwas schwammige, bildungsbürgerliche – wahlweise Platon oder der deutschen Klassik zuzuordnenden – »Wahre,
Schöne und Gute« ein. Doch damit war es nicht getan. Im Laufe der Zeit sollte das
Theater, die Kunst – je nach politischem System – neben der Unterhaltung diversen
anderen Zwecken dienen: der religiösen Erbauung, der moralischen Aufrüstung, der
Revolution, der Volksbildung, der Ästhetisierung des Alltags, der Schaffung des neuen
Menschen oder der Festigung demokratischen Denkens. Selbst die Darstellung der
Überlegenheit der »arischen« Herrenrasse gehörte zeitweilig zum Bildungsauftrag der
Theater. ----------------------------------------------------------------------------Und so sehr sich Theaterleute einerseits gegen diese Vereinnahmung und Funktionalisierung wehren, wollen sie andererseits nicht wirklich in Ruhe gelassen werden.
Theater will Reaktion, Wirkung. Da ist die Formulierung eines Auftrags – und sei es
ein selbstgewählter – und die Überprüfung des Erreichens des Auftragsziels Teil des
Spiels. Theater ist eine Kunstform, bei der die gleichzeitige Anwesenheit von Kunstmachern und Kunstrezipienten unabdingbar ist, und so wird jede Theateraufführung
zu einem sehr direkten Kommunikationsvorgang. Oft sogar zu einem interaktiven,
denn schon das Klatschen, Lachen, Schweigen, Auf-dem-Sessel-hin-und-herrutschen ist eine Meinungsäußerung und ein Kommentar und hat Rückwirkungen auf
das Bühnengeschehen. Manchmal gelingt diese Kommunikation, manchmal ist sie
fruchtlos.---------------------------------------------------------------------------Das alles ist nicht neu. Neu und besonders ist der Widerspruch zwischen dem, was
Gesellschaft und Politik vom Theater fordern – und was die fordernden Instanzen
selbst zu leisten bereit sind.--------------------------------------------------------Konkret: Es gibt ein Selbstbild dieser Gesellschaft, eine Behauptung wie das Zusammenleben bei uns organisiert ist und welches unsere gemeinsamen Werte sind. Dieses Bild ist ein im weitesten Sinne christlich-sozialdemokratisches, sozialmarktwirtschaftliches. Es sieht ungefähr so aus: Wir wollen eine demokratische Gesellschaft, in
der es viele Formen der Mitbestimmung und Gestaltungsmöglichkeiten geben soll,
wir wollen eine gerechte Gesellschaft, mit Aufstiegschancen für alle, egal welcher
sozialer oder ethnischer Herkunft, egal welchen Geschlechts, wir wollen eine solidarische, mitmenschliche Gesellschaft, die den Bedürftigen hilft und allen Bürgern soziale und kulturelle Teilhabe ermöglicht. Wir wollen aber auch eine Bildungs- und
Aufstiegsgesellschaft, die den Fleißigen belohnt, Eigeninitiative ermöglicht und individuelle Talente fördert. ------------------------------------------------------------Diese gesellschaftliche »Erzählung« sollen die Künstler miterzählen. Deswegen haben
sowohl die primären staatlichen Geldgeber, wie auch öffentliche oder private Stiftungen und gesellschaftlich relevante Gruppen aktuell einen differenzierten, sich teilweise widersprechenden Forderungs- und Auftragskatalog an die Kunstinstitutionen.
Hier eine kleine Auswahl: ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Die Theater sollen:
– möglichst viele Zuschauer erreichen, sowohl quantitativ wie schichtenübergreifend, nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus »demokratischen« Gründen.
– unsere Einwanderungsgesellschaft spiegeln, in der Publikumsstruktur, den Thematiken, aber auch durch Partizipationsprojekte.
– vermehrt das junge Publikum ansprechen und sie mit Kultur vertraut machen, also
kulturelle Bildung betreiben. Dementsprechend sollen Spielpläne auch mit den
Lehrplänen (z. B. den Abitur-Prüfungsthemen) korrespondieren.
– angesichts der leeren öffentlichen Kassen sparen bzw. durch wirtschaftlich sinnvolles Haushalten handlungsfähig bleiben.
– aktuelle politische und kulturelle Diskussionen und Diskurse aufnehmen: von der
Asylpolitik bis zum »Ende der Utopien«.
– künstlerisch innovativ sein. Und populär. Also publikums- und feuilletonwirksam.
Dazu im Inhaltlichen komplex und vielschichtig. Aber verständlich. Und geeignet,
künstlerisch die Bedeutung einer Landes- oder Bundeshauptstadt oder eines
Regions-Oberzentrums zu repräsentieren.
– ein »weicher Standortfaktor« für die Wirtschaft sein.
– aktuelle politische und kulturelle Großereignisse in der Spielplangestaltung flankieren, z. B. den 100. Todestag eines Großdichters oder »500 Jahre Reformation«.
------------------------------------------------------------------------------------Das ist, wie gesagt, nur eine kleine Auswahl. Nun kann man als Theater – oder mit
nur leicht differierender Argumentation auch als Museum, Kulturzentrum oder Sinfonieorchester – dies alles von sich weisen und darauf bestehen, sich nicht ins Programm und damit in die Inhalte reinreden zu lassen. Und falsch wäre das nicht. Denn
selbstverständlich lähmen zu viele Ansprüche von zu vielen Seiten die Kreativität.
Selbstverständlich muss man als Künstler genau das tun, was man für richtig hält und
nicht, was andere von einem erwarten.---------------------------------------------Andererseits ist es unrealistisch und naiv zu glauben, man bekäme Millionen in die
Hand, ohne dass eine Gegenleistung verlangt wird. Und vielleicht wäre es auch gar
nicht erstrebenswert – weil Kunst immer auch durch Reibung entsteht. Auch durch
die Reibung mit und an der Macht.---------------------------------------------------
Aber es gibt noch einen ganz anderen Aspekt in dieser Diskussion. Schaut man sich
die Forderungen, Aufträge und Ansprüche noch einmal kühl an, stellt man fest, dass
sie fast alle schon lange zur Agenda der meisten Theater gehören. Oft freiwillig, aus
Überzeugung, manchmal auch unter Zwang – wie die Forderung nach Wirtschaftlichkeit, die ja meist nichts anderes bedeutet als Einsparungen, Spartenwegfall oder
Theater­zusammenlegungen. Und hier wird man übrigens zum ersten Mal stutzig. Wobei dies zugebenermaßen ein verführerisch naheliegendes und damit auch leicht populistisches Argument gegen das Anspruchsdenken der Politik ist: Die Legitimation
der Kunst-Subventionen wird zunehmend in Frage gestellt, viele Theater werden in
GmbHs verwandelt und sollen sich trotz öffentlicher Gelder privatwirtschaftlich organisieren – aber der Staat ist offensichtlich nicht einmal in der Lage einen Flughafen
zu Ende zu bauen, einen Bahnhof zu kalkulieren oder funktionierende Waffen für
seine Armee zu kaufen. Der Berliner Flughafen kostet den Steuerzahler jeden Tag, an
dem er nicht in Betrieb genommen wird zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Euro. Allein
mit diesen Tagesausgaben könnte man ein kleineres Kinder- und Jugendtheater ein
Jahr lang finanzieren ...-------------------------------------------------------------Aber lassen wir das kleinkrämerische Gegenrechnen und konzentrieren uns auf die
inhaltliche Diskussion. Denn hier beginnt man den eigentlichen Braten zu
riechen. Man bekommt den Verdacht, dass die Kultur etwas richten soll, woran die
Politik und viele gesellschaftliche Institutionen schon lange kein aktives Interesse
mehr haben, auch wenn sie gerne anderes behaupten. Originär politische Aufgaben
werden an die Kulturschaffenden delegiert, man selbst hält sich aus immer mehr
Bereichen heraus. In Sonntagsreden wird zwar die Wichtigkeit bestimmter Themen
betont, aber in der Realität überlässt man die Menschen sich selbst. Oder der Privatwirtschaft.---------------------------------------------------------------------------
Wenn ich hier von »der Politik« oder »der Gesellschaft« spreche, tue ich das in Ermangelung besserer Begriffe. Ich meine damit nicht »die da oben« im pegidaoiden Sinn
oder eine verschwörerische dunkle Macht, sondern letztlich ein System der Machtorganisation, das seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird, beziehungsweise
Ansprüche in die eine Richtung formuliert, aber in die andere Richtung agiert.------Betrachten wir nur mal exemplarisch die ersten beiden der oben angeführten Forderungen: Die nach einem Theater »für alle« und den Anspruch, das Theater müsse
unsere Einwanderungsgesellschaft spiegeln.----------------------------------------Die Forderung, das Theater habe möglichst viele Menschen zu erreichen und dürfe
keine elitäre Kunstform sein, ist mir zutiefst sympathisch. Andere sehen das anders
und betonen das Artifizielle, das Sperrige und Schwierige als Qualität. Darüber kann
und sollte man diskutieren. Vor allem auch unter ästhetischen Kriterien. Aber: Selbst
wenn das Theater eine Elitenveranstaltung wäre, hätte dieser Umstand keinerlei
Bedeutung im Vergleich zu dem Problem, dass Politik und Demokratie heute elitäre
Veranstaltungen sind.---------------------------------------------------------------Bei Bundestagswahlen verweigert fast ein Drittel der Wahlberechtigten den Urnengang. Bei vielen Kommunalwahlen sind die Nichtwähler inzwischen die Mehrheit,
obwohl in den Kommunen Politik angeblich am greifbarsten und direktesten ist.
Trotzdem liegt dort die Wahlbeteiligung oft unter 50 Prozent. Was real bedeutet, dass
die Städte von Politikern und Parteien regiert werden, die im besten Falle von einem
Viertel der Bevölkerung gewählt wurden. Dazu passt, dass sich die Mitgliederzahlen
der großen Volksparteien in den letzten Jahrzehnten halbiert haben. Die Politiker
erreichen die Menschen nicht mehr, vor allem das marginalisierte sozial schwache
untere Drittel der Gesellschaft. Diese Menschen glauben nicht mehr, dass Politik für
sie gemacht wird. Das und die Tatsache, dass die Politik sich nicht mehr um diese
Leute kümmert ist ein gesellschaftliches Problem – nicht eine einzelne vielleicht »unverständliche« am primären ästhetischen Verständnis des Durchschnittsbürgers vorbei gehende Theaterinszenierung.--------------------------------------------------Auch im Bildungsbereich hat die Politik den Anspruch, den sie ans Theater stellt,
längst aufgegeben. Selbst Linke, Sozialdemokraten und Grüne rütteln dort, wo sie
regieren nicht mehr ernsthaft an unserem elitären, ungerechten Schulsystem, aus
Angst vor ihrer eigenen, zum Teil bildungsbürgerlichen Wählerschaft. Weil aber kaum
noch jemand sein Kind dem Stigma des Hauptschulbesuchs aussetzen will, hat man
sich fast allerorten dazu durchgerungen, das dreigliedrige in ein zweigliedriges System umzuwandeln – aber niemand stellt mehr das Gymnasium in Frage. Klar ist
aber – und jede Studie, ob national oder international, bestätigt dies: Ein gerechtes,
faires Bildungssystem mit Aufstiegschance für alle kann nur durch längeres verpflichtendes gemeinsames Lernen – sprechen wir es aus: durch ein flächendeckendes Gesamtschulsystem – erreicht werden. Die meisten erfolgreichen Länder haben ihre
Bildung so organisiert. Nur bei uns ist es den Konservativen gelungen, Bildungsgerechtigkeit als sozialistisches Zwangssystem darzustellen und die Vorteile des längeren gemeinsamen Lernens auch für die leistungsstarken Schüler erfolgreich zu
leugnen. Und so schicken die Gebildeten, Privilegierten und Wohlhabenden, unabhängig davon, welche Partei sie wählen, ihre Kinder weiterhin auf die Gymnasien.
Selbst wenn dies vielleicht gar nicht ihren Fähigkeiten entspricht. Damit ist dieses
System nicht nur ungerecht, sondern auch leistungsfeindlich – denn die Kehrseite
dieses Phänomens ist, dass die Aufstiegschancen für Kinder aus bildungsfernen
Haushalten immer geringer werden. Unabhängig davon, wie intelligent sie sind. Intellektuelle Potenziale werden so vergeudet und erfolgreiche Bildungsbiografien verhindert. An Universitäten findet man kaum noch Kinder aus Arbeiterfamilien, und
auch der Anteil der Studierenden mit Migrationshintergrund entspricht nicht annähernd dem Anteil der Migranten an der Gesellschaft. Nirgendwo in der westlichen
Welt ist die soziale, ethnische und einkommensbedingte Bildungssegregation so auf-
KEIN PROBLEM DER ANDEREN
12.13
EIN GESPRÄCH MIT DEM REGISSEUR UND INTENDANTEN DES SCHAUSPIEL HANNOVER, LARS-OLE WALBURG, ÜBER DEN KÜNSTLERISCHEN
UND POLITISCHEN AUFTRAG DES THEATERS
INTERVIEW: HARTMUT EL KURDI
fällig wie in Deutschland. Unser Bildungssystem dient dem Zwecke, die vermeintlichen Eliten sich selbst reproduzieren zu lassen. -----------------------------------Wir haben uns in der Realität faktisch darauf geeinigt, dass höhere Bildung nichts für
alle bzw. nichts für die »unteren« Gesellschaftsschichten ist. Das passt zwar nicht mit
unserem Selbstbild zusammen, aber dafür gibt es ja zum Beispiel die Theater. Dann
sollen die gefälligst für alle sein und Theaterpädagogen in die Brennpunktschulen
schicken oder Problemstücke über Drogen, sexuellen Missbrauch und Rechtsradikalismus auf den Spielplan setzen. Und wenn die Theatermacher so nebenbei auch
noch die ästhetische Bildung übernehmen, kann man in den Schulen die Stundenzahlen für die musischen Fächer weiter reduzieren.---------------------------------Ähnlich verhält es sich mit der Forderung, die Theater sollten Migranten als Publikum
ansprechen, »migrantische« Themen verhandeln oder Migranten in Partizipationsprojekten einbinden. Auch dies ist ein Gedanke, mit dem man bei mir wie auch vielen
anderen Theatermachern offene Türen einrennt.------------------------------------In der politischen Realität bleibt die aktive Integration von Einwanderern und Flüchtlingen aber – wenn sie überhaupt stattfindet – eine lästige Pflicht. Nach wie vor
schotten wir uns ab und vermitteln mit unserer Einwanderungs- und Asylpolitik, dass
wir eigentlich unter uns bleiben wollen, dass jeder Mensch, den wir hereinlassen
eine Zumutung und Belastung ist. Und sind die Menschen dann doch hier, lassen wir
sie – wie die Asylbewerber – zum Teil nicht arbeiten, kasernieren sie, bieten ihnen
keine, wenig oder schlechte Sprachkurse an – tun also alles dafür, Integration zu
erschweren, wenn nicht sogar zu verhindern. Statt dort, wo die Migrantenzahlen am
höchsten sind, die besten Schulen einzurichten, mit kleinen Klassen und innovativen
Lehrmethoden, lassen wir es zu, dass selbst gutwillige Lehrer an den Umständen und
an den fehlenden Mitteln verzweifeln. In Deutschland geborene und aufgewachsene,
gut integrierte Kinder werden immer wieder in Nacht- und Nebelaktionen in für sie
fremde Länder abgeschoben, weil irgendein Bürokrat feststellt, dass die Eltern vor
fünfzehn Jahren bei der Einreise gelogen haben. Und Teile der Medien hofieren Hetzer wie Thilo Sarrazin oder die inzwischen schon berüchtigten »besorgten Bürger«,
weil diese den Finger angeblich in existierende Wunden legen. Wer diese Wunden
aber wann gerissen hat, wird nicht diskutiert. Ganz zu schweigen davon, dass wir an
den EU-Außengrenzen Menschen einfach ertrinken oder in den LKWs der Schlepper
ersticken lassen. Man möchte verzweifeln angesichts dieser Heuchelei.-------------Soweit nur zu zwei Aspekten dieser »Auftragsliste«.---------------------------------Und nun? Wie soll die Kunst auf diese Scheinheiligkeit reagieren? Mir scheint es so,
als könne man diese dreiste Provokation nur durch aggressives Zurückgeben der Verantwortung kontern. Indem wir wahrheitsgemäß antworten: Ja, wir integrieren, inkludieren, sind nachhaltig, sparen überall, bilden, unterhalten, lassen partizipieren,
diskutieren ... und wir müssen uns wahrscheinlich noch viel mehr einmischen in die
Politik und das gesellschaftliche Leben! Aber das ist alles für die Katz, Makulatur,
Feigenblattdasein – solange die Politiker, die bildungsnahen und gutverdienenden
Schichten, die Unternehmen sich nicht endlich wieder ihrer Verantwortung für diese
Gesellschaft stellen. Deswegen: Hört auf Schwimmbäder, Gemeinschaftshäuser und
Bibliotheken zu schließen, bezahlt Kindergärtnerinnen ordentlich, verkleinert die
Klassen, vor allem in Brennpunktschulen, macht Bildung gerechter, hört auf Kunstund Musikstunden zu kürzen, bietet Deutschkurse für Ausländer an, lasst Asylbewerber arbeiten, hört auf Kinder abzuschieben, schafft eine Alternative zu den demütigenden Hartz-IV-Gesetzen, zahlt eure Steuern (!), hört auf Geld für fragwürdige
Großprojekte aus dem Fenster zu schmeißen, lasst die Menschen über sie betreffende
Projekte mitentscheiden, schafft wieder mehr Mitbestimmung und damit Demokratie
in Betrieben, Schulen, Universitäten, hört auf, öffentlichen Besitz zu privatisieren und
damit alles dem Markt zu übereignen – gebt den Menschen wieder mehr Möglichkeiten, über ihr Leben zu bestimmen.------------------------------------------------
Nicht das Theater ist elitär, sondern diese Gesellschaft ist elitär, weil sie ein relativ
kommodes Leben für die gut gebildete, arbeitende Bevölkerung ermöglicht, aber den
Rest der Menschen ignoriert und der materiellen, sozialen und kulturellen Verwahrlosung überlässt. Dagegen können die Theater, Museen, Orchester und Musikschulen
kaum etwas tun. Und dennoch sollten sie es ganz dialektisch versuchen. Engagierte,
leidenschaftliche Sinnlosigkeit bleibt das originäre Metier des Künstlers. Letztlich
aber bleibt dies – negativ formuliert – eine gewünschte Politiksimulation. Die Kultur
soll gute Stimmung machen und damit ablenken von den Kürzungen, Schließungen,
Privatisierungen. Von der Kapitulation der Politik vor dem Primat der Wirtschaft.----Damit sollten wir die Politik nicht durchkommen lassen. Unsere gewählten Vertreter,
die Regierung(en), die Parteien und die gesellschaftlichen Institutionen müssen wieder selbst handeln und Politik machen. Also: Hier habt ihr euren Auftrag zurück!----++++++++++++++++++++++++++++++++++++
HARTMUT EL KURDI, GEBOREN 1964 IN AMMAN/JORDANIEN, AUFGEWACHSEN IN
LONDON UND KASSEL, STUDIERTE KULTURWISSENSCHAFTEN UND ÄSTHETISCHE
PRAXIS MIT SCHWERPUNKT THEATER, MUSIK UND POPULÄRE KULTUR AN DER UNIVERSITÄT HILDESHEIM UND ARBEITETE ALS AUTOR, PERFORMER, REGISSEUR UND
MUSIKER. ER SCHREIBT HÖRSPIELE, KINDERBÜCHER, THEATERSTÜCKE SOWIE SATIRISCHE KOLUMNEN UND REZENSIONEN (U. A. FÜR DIE TAZ UND DIE ZEIT). SEIT DER
SPIELZEIT 2015/16 ARBEITET ER ALS DRAMATURG AM SCHAUSPIEL HANNOVER UND
GLAUBT GRUNDSÄTZLICH AN DIE VERÄNDERBARKEIT DER ZUSTÄNDE. ZUMINDEST
THEORETISCH. MANCHMAL AUCH PRAKTISCH. KOMMT DRAUF AN.
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Wenn du den Begriff »Auftrag« im Zusammenhang
mit Theater hörst, was fällt dir als erstes dazu ein:
Die Aufträge und Ansprüche, die von außen an dich
als Theaterleiter und / oder Regisseur herangetragen werden – oder eine Art Selbstverpflichtung
bzw. ein selbstdefinierter und sich selbstdefinierender Auftrag? __WALBURG Zweiteres. Ich denke zuerst an den Grund, weswegen man irgendwann einmal
diesen Beruf ergriffen hat: Im Theater kommen ja Menschen zusammen, die meinen, eine Botschaft zu haben,
etwas mitteilen zu müssen. Das klingt für manchen vielleicht unangenehm missionarisch, aber ich glaube, nur
wenn man das Bedürfnis hat, etwas mitzuteilen, entsteht dieser Druck und die Bereitschaft, sich die im Theater übliche Selbstausbeutung zuzumuten. Das ist aber
nicht unbedingt ein konkret formulierter »Auftrag« mit
dem man morgens zur Arbeit geht, sondern eine Grundeinstellung, ein Lebensgefühl, das damit zu tun hat,
dass man auf Zustände reagieren möchte, die man so
nicht hinnehmen will. Die man verändern möchte.
++++++++++++++++++++++++
Das ist eine klare politische oder zumindest gesellschaftliche Definition des Kunstauftrags. Es gibt unter Künstlern durchaus auch Positionen, die die
Funktion von Kunst anders sehen und sich politisch
eher bedeckt halten. __WALBURG Ja. Wobei der Begriff des Politischen im Theater ja immer etwas missverständlich ist. Wir sind keine Politiker. Unsere Mittel sind
andere als die der Politik. Wichtig ist, dass wir aber
trotzdem versuchen, auf gesellschaftspolitische Veränderungen hinzuarbeiten. Ob das im Einzelfall immer
gelingt, ist fraglich, aber wir haben mit Sicherheit mit
unserer künstlerischen Arbeit die Möglichkeit, Entwicklungen und Probleme innerhalb der Gesellschaft zu benennen, Diskussionen anzustoßen und weiterzuführen.
Und diese Möglichkeiten sollten wir nutzen.
++++++++++++++++++++++++
Was heißt das in der aktuellen Situation, mit der
sich verschärfenden wirtschaftlichen Situation in
vielen Ländern, den Kriegen und Bürgerkriegen
und vor allem mit den daraus resultierenden Flüchtlingszahlen, die ja begleitet werden von einerseits
einer großen Empathie und Hilfsbereitschaft, andererseits von rassistischen Beschimpfungen bis hin
zu Brandanschlägen? Welchen »Auftrag« empfindet
man da als Theater? __WALBURG Als Theater sollte
man nicht nur reagieren, sondern zumindest versuchen,
den gesellschaftlichen Entwicklungen einen halben
Schritt voraus zu sein. Nicht unbedingt mit einer Deutungshoheit, eher fragend: Wohin könnte die momentane Situation führen? Was entsteht aus dem, was ist?
Auf die aktuelle Situation bezogen, bemerke ich, dass
ich vor allem darüber nachdenke, wie sich eine Gesell-
Foto: Katrin Ribbe
ALS THEATER SOLLTE MAN NICHT NUR REAGIEREN, SONDERN ZUMINDEST VERSUCHEN, DEN GESELLSCHAFTLICHEN ENTWICKLUNGEN EINEN HALBEN SCHRITT
VORAUS ZU SEIN.
Lars-Ole Walburg
schaft verändert, wenn nun, sagen wir, eine Million
Menschen dazukommen. Und dann vielleicht noch eine
Million? Wie entwickelt sich die angesprochene Empathie? Wie reagiert die Bevölkerung, wenn sie versteht,
dass mit den Flüchtlingen die Verteilungsungerechtigkeiten dieser Welt bei uns ankommen, dass diese Ungerechtigkeiten das eigentliche Thema sind? Letztlich
geht es bei der Hilfe für die Flüchtlinge ja nicht um Almosen unsererseits, sondern um ein Zurückzahlen von
ungerechtfertigt angeeignetem Reichtum – angeeignet
über Jahrhunderte, angefangen bei der Kolonialisierung. Und wir können froh sein, wenn dieses Zurückzahlen über Flüchtlingsströme passiert und nicht über
Kriege. Deswegen wäre auch ein Gefühl, ein Selbstbild
im Sinne von »Wir gastfreundlichen, hilfsbereiten Deutschen tun den Flüchtlingen jetzt etwas Gutes« falsch.
Weil es die Flüchtlinge als Bittsteller definiert, was his­
torisch einfach nicht wahr ist.
++++++++++++++++++++++++
Trotz dieses differenzierten Ansatzes reagiert das
Schauspiel Hannover ja auch sehr direkt. An der
Fassade hängt der Slogan »Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall«, zum Hoffest wurden Flücht­linge eingeladen und nach den Vorstellungen wird
Geld für Flüchtlinge gesammelt. Was ist das? Solidarität? Selbstvergewisserung? PR? Das Gefühl,
man müsse sich verhalten? __WALBURG Es ist bei uns
nicht anders als im Rest der Bevölkerung. Dieses Grundgefühl, über das ich sehr froh bin: Dass man sich jetzt
nicht abschotten will, sondern, dass das Herz aufgeht
und man hilft. Auch wir haben den gleichen Reflex, nur
dass man als große Kulturinstitution in bestimmten
Bereichen, was zum Beispiel die Wahrnehmung in der
Öffentlichkeit betrifft, vielleicht ein paar mehr Möglichkeiten hat. Selbstverständlich ist das eine notwendige
und richtige Reaktion, aber dass dies überhaupt in dieser Form notwendig ist, hat ja auch damit zu tun, dass
alle, inklusive der zuständigen politischen Gremien,
scheinbar überrascht sind von der Situation. Obwohl
seit Langem klar ist, dass das Problem existiert. Auch im
letzten Jahr wusste man schon, dass 60 Millionen
Flüchtlinge auf der Welt unterwegs sind. Und jetzt
kommt ein Teil von denen bei uns an und der Innen­
minister tut so als hätte man damit nicht rechnen können und muss permanent die Zahlen nach oben korrigieren. Wir hätten uns alle viel früher damit beschäftigen
müssen. Aber so sind alle Reaktionen zwangsläufig etwas hilflos. Keiner weiß, wie man damit umgehen soll.
Ich finde es im Moment richtig, dass wir Geld sammeln,
aber das ist zunächst einmal nur der erste Impuls. Geld
ist ja auch immer etwas Anonymes. Was mich gefreut
hat, war, dass unsere Schauspieler und auch Mitarbeiter
aus anderen Abteilungen zum Beispiel gesagt haben:
Wir fahren in die Flüchtlingsheime, wir richten ein
DEN DENKRAUM MÖGLICHST
OFFEN HALTEN
14.15
EIN GESPRÄCH MIT DEM AUTOR WOLFRAM LOTZ
INTERVIEW: JOHANNES KIRSTEN
Shuttle ein und holen die Leute zum Hoffest ab. Das ist
der eigentliche Punkt: Nur über Begegnungen, über das
gegenseitige Kennenlernen schafft man es, dass Leute
verstehen, dass das ein gemeinschaftliches Problem ist
und nicht ein Problem der Anderen, das wir weg organisieren müssen.
++++++++++++++++++++++++
Das Schauspiel Hannover hat ja auch in der Vergangenheit Erfahrungen mit konkreten politischen
Themen gemacht, zum Beispiel mit dem WendlandProjekt. Da gab es sehr eindeutige Reaktionen aus
der Politik. Wie empfindet man das? Freut man sich,
dass man offensichtlich den Finger in die Wunde
gelegt hat? Nervt das? Empfindet man das als Einmischung? __WALBURG In diesem Fall gab es tatsächlich Einmischungen in die Freiheit der Kunst, die man
nur zurückweisen kann. So etwas darf nicht sein. Aber
sicher freut man sich heimlich auch ein bisschen drüber, weil das besagt, dass man einen Nerv getroffen hat,
dass man trotz des langen Vorlaufs, den Theater immer
braucht, punktgenau gelandet ist und ein offensichtlich
in diesem Moment in der Gesellschaft relevantes und
kontroverses Thema auf den Spielplan gesetzt hat. Und
das will man ja: inhaltlich relevante Aussagen treffen
oder Fragen stellen. Auch dabei sieht man wieder, wie
wichtig es ist, in der Planung der Diskussion, wenn
möglich, einen halben Schritt voraus zu sein, damit man
dann, wenn das Thema schließlich auf die Bühne
kommt, wieder auf der Höhe der Zeit ist.
++++++++++++++++++++++++
Anderes Thema: Hat der Intendant Walburg einen
anderen Auftrag als der Regisseur? __WALBURG Inhaltlich würde ich das nicht sagen. Da unterscheidet
sich das, was ich mir als Intendant erhoffe, mit einem
Haus erreichen zu können, nicht wirklich von dem, was
ich künstlerisch als Regisseur anstrebe. Im Zahlenwerk
und – noch wichtiger – in der Ästhetik kollidiert es natürlich immer wieder. Ich glaube, es ist auch unser Auftrag, die Seh- und Hörgewohnheiten, die Rezeptionsgewohnheiten eines Publikums weiter zu entwickeln.
Sicher muss man das nicht mit jedem Stück machen,
und wenn es kein kontinuierlicher Prozess ist, kann es
auch schnell passieren, dass die andere Seite sich verweigert und einfach nicht kommt. Dann hat man auch
nichts erreicht. Aber wenn man subventioniert wird,
dann muss mit diesem Geld etwas entstehen, das im
kommerziellen Bereich nicht entstehen könnte.
++++++++++++++++++++++++
Es gibt ja auch die andere Argumentation: Die bekommen so viel Geld und müssen dafür Theater
produzieren, das allen gefällt. __WALBURG Das gibt
es, aber dann muss man nochmal über den Begriff
»Subvention« reden. Manche Politiker tun ja so, als ob
sie aus ihrer Privatschatulle Geld verteilen und dementsprechend auch etwas Bestimmtes erwarten können. Es
ist aber so, dass es sich hierbei um eine gesellschaftliche Übereinkunft handelt – die es auch nicht erst seit
gestern gibt – dass man bewusst Bereiche unterstützt,
weil man diese für die Herzens- und Geistesbildung einer Bevölkerung für wichtig erachtet. Wenn das aber
nur in der Richtung genutzt wird, dass man sich in dem
bestätigt, was man schon kennt und nicht fordert, dann
macht man sich selbst überflüssig.
++++++++++++++++++++++++
Aber wenn die Leute nicht kommen, war auch alles
umsonst. Das ist ja auch der Hauptunterschied zwischen Theater und anderen Künsten. Beim Theater
muss der Rezipient anwesend sein, sonst findet es
nicht statt. Eine Skulptur kann man herstellen, einen Roman kann man schreiben, ohne dass ihn zunächst jemand rezipiert. Das Kunstwerk existiert
trotzdem und kann vielleicht in hundert Jahren goutiert werden. Theater ohne Publikum ist sinnlos. __
WALBURG Klar. Und es ist und bleibt ein Spagat. Man
muss ja mit dem Publikum an einem Punkt ansetzen, an
dem es sich noch gerne fordern lässt. Außerdem ist es
ja auch so, dass kein Schauspieler vor leerem Haus
spielen möchte. Und auch sonst ist im Theater niemand – weder die Theaterleitung noch die Technik –
scharf drauf, leere Stuhlreihen zu sehen. Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen Theater erst
dann große Kunst war, wenn man die Hütte leer ge­
spielt hatte. Das ist ja völlig widersinnig und wenn man
so denkt, sollte man seinen Beruf wechseln.
++++++++++++++++++++++++
Du bist ja in der DDR aufgewachsen, hast als junger
Erwachsener dem System kritisch gegenüber gestanden, bist mit ihm auch in Konflikt geraten und
schließlich ausgereist. In der DDR hatte Theater im
Spannungsfeld zwischen staatstragendem Kulturschaffen und Oppositions-Nische durchaus sehr unterschiedliche, aber immer gesellschaftlich relevante Funktionen. Inwieweit beeinflusst dich diese
Herkunft und Sozialisation in deinem Verständnis
von Theater und deinem Verständnis von der gesellschaftlichen Funktion des Theaters? __WALBURG Das betrifft ja nicht nur das Theater allein, sondern da geht es um die Rolle und Funktion von Kunst
insgesamt innerhalb einer Gesellschaft. In der DDR hatte Kunst eine gewisse Ventil- und Informationsfunktion.
Das heißt, Theaterleute haben im Theater über bestimmte Dinge aufgeklärt, über die sonst nicht gesprochen wurde, zumindest nicht offen. Das geschah dann
meist verkappt, in der sozialistischen Fabel oder im
Klassiker versteckt. Man lernte als Zuschauer zwischen
den Zeilen zu lesen und diese Informationen und Hal-
tungen herauszuziehen. Das ist natürlich eine gesellschaftliche Funktion, die heutzutage nicht mehr einklagbar ist. Diese Drucksituation ist nicht mehr da,
Gott-sei-Dank, und wir haben eher das Gefühl, viel zu
viele Informationen zu bekommen, sodass wir schon
weder beginnen, uns dagegen abzuschotten, weil es
uns bedrängt und unser persönliches Leben in einer Art
beeinflusst, wie wir es nicht wollen: zu schnell, zu laut,
zu viel … Insofern kann man diese Veränderung nur
feststellen. Es gibt da keinen Grund für Larmoyanz,
weil der gesellschaftliche Umstand, der zu dieser Funktion von Theater und diesem Rezeptionsverhalten
führte, mich immer abgeschreckt hat. Interessanter finde ich, welche Denkweise hinter Kunst, Literatur, Thea­
ter in der DDR stand. Das hat mich tatsächlich geprägt.
In der DDR wurde immer versucht, die Dinge dialektisch
und historisch zu beleuchten. Man wurde schon in der
Schule getrimmt, die Für- und Widerseite gleichzeitig
einzunehmen, den historischen Kontext zu sehen und
sich erst dann eine Meinung zu bilden. Das ist für mich
eine ganz wichtige Erfahrung. Auch im Theater gibt es
diesbezüglich eine gewisse Tradition: Brecht, Heiner
Müller …
++++++++++++++++++++++++
Das widerspricht ja dem herkömmlichen Bild, das
man von der DDR hat, als wenn nicht totalitärem, so
doch autoritärem System. Das Abwägen, das Für
und Wider, klingt ja geradezu pluralistisch … __
WALBURG Gerade wenn ein Staat versucht, doktrinär
etwas vorzugeben, an das 95 Prozent der Bevölkerung
sowieso nicht glaubt, dann ist die Gegenposition ja immer präsent. Das ist dann sozusagen eine nicht gewollte
Dialektik. Denn natürlich bezog sich das gewünschte
dialektische Abwägen nicht auf die Staatsdoktrin. Die
wurde nicht in Frage gestellt. Es ging eher darum, dass
man lernte, bestimmte gesellschaftliche oder politische
Ereignisse oder Entwicklungen, z. B. den Militärputsch
in Chile, die Bürgerrechtsbewegung in den USA unter
diesem historisch-dialektischen Gesichtspunkt zu analysieren: Was sind die geschichtlichen Ursachen? Wer
ist beteiligt? Welche Interessen sind da im Spiel? Was
wir sehen, ist ja immer nur die Spitze des Eisbergs.
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Spielt für dein Schreiben die Frage nach einem gesellschaftlichen Auftrag des
Künstlers eine Rolle und wenn ja, ist das eine Frage die du dir bewusst stellst
oder schwingt das sowieso immer mit, weil man ein in der Gesellschaft agierender Künstler ist? __LOTZ Die Frage spielt natürlich eine Rolle für mich, weil man
ja immer in die Gesellschaft hineinschreibt. Was schreibt man wie und was für Auswirkungen hat das? Ich weiß natürlich, dass die Auswirkung von Literatur für gewöhnlich als marginal bezeichnet wird, dass die Autoren darüber klagen, dass ihr
Tun keine Auswirkungen hat. Ich sehe das aber überhaupt nicht so. Ich bin davon
überzeugt, dass die Art und Weise, wie Geschichten erzählt werden, eigentlich entscheidend für unsere Gesellschaft ist, weil das Erzählen unser Denken maßgeblich
bestimmt, unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten und also unsere Handlungsmöglichkeiten. Deshalb gibt es eine starke gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers,
des Autors.
Ich wundere mich auch immer, wenn zum Beispiel über bestimmte amerikanische
Serien gesprochen wird, und gesagt wird: Gut, das ist vielleicht keine Kunst, aber es
ist zumindest anspruchsvolle Unterhaltung. Ich kann und will aber gar nicht zwischen Unterhaltung und anderer Literatur bzw. Kunst unterscheiden, weil alles immer
unter diesem gesellschaftlichen Auftrag gesehen werden muss und alles in den Pool
der Geschichten, die wir zur Weltwahrnehmung haben, eingespeist wird.
++++++++++++++++++++++++++++++++++++
Aber bildet dann die Fiktion die Wirklichkeit unterschiedlich ab oder würdest du
eher sagen, dass die Fiktion, die Erzählungen die Wirklichkeit auch bilden? __
LOTZ Gut, was ist die Wirklichkeit? Aber klar ist, dass die Art und Weise, wie wir die
Dinge erzählen, natürlich Folgen hat für den Umgang mit dieser Wirklichkeit. Wie
Figuren oder Gruppen oder Identitäten erzählt werden, hat zur Folge, wie bestimmte
Personengruppen behandelt werden oder wie etwas wahrgenommen wird. Mein
kleiner Sohn hat immer gern Nudeln mit Gorgonzolasauce gegessen, aber irgendjemand hat ihm jetzt gesagt, dass das Blaue an diesem Käse, das er eigentlich immer
am besten fand, Schimmel ist, und jetzt mag er es nicht mehr. Die Erzählung über
diesen Käse hat sich einfach nur geändert, das Verhältnis meines Sohnes dazu ist in
der Realität etwas vollkommen anderes geworden, obwohl der Käse immer noch
genauso schmeckt. Natürlich ist es kein großes Problem, weil es nur ein Käse ist, aber
es zeigt, was das Erzählen für einen Einfluss auf die Wirklichkeit bzw. den Umgang
damit hat.
++++++++++++++++++++++++++++++++++++
Muss man versuchen, sich vom Diktat der Wirklichkeit zu lösen? __LOTZ Ich glaube, dass das, was in der Wirklichkeit als Möglichkeit vorhanden ist, auch eine Erzählfrage ist. Im Moment hat beispielsweise die Erzählung vom Ende der Geschichte, also
dass die Form des heutigen Kapitalismus alternativlos sei, auch wieder Rückwirkungen auf unsere Handlungsmöglichkeiten und also unser Handeln. Das ist aber nur
eine bestimmte Erzählung und es wäre die Aufgabe, es anders zu erzählen, um wieder handlungsfähig zu werden.
++++++++++++++++++++++++++++++++++++
Um noch mal zum Auftragsbegriff zurückzukommen. Ist es die Aufgabe des
Künstlers, die gesellschaftlichen Bedingungen und die großen Erzählungen immer wieder in Frage zu stellen? __LOTZ Die gesellschaftliche Verantwortung oder
der Auftrag besteht für mich im Hinblick auf diese Erzählungen zunächst einmal eher
im Zerstören als im Herstellen. Es ist ja nicht so, dass wir nicht genügend intakte
Erzählungen zur Verfügung hätten, sondern es sind zu viele zu einfache. Es geht mir
da um eine Zerstörung, um eine Öffnung und um ein Abräumen oder ein Zerschlagen
in eine Komplexität hinein, in der dann wieder Dinge sichtbar werden können, die
vorher in diesen Erzählungen nicht vorkamen. In unseren Erzählungen kommen ja
eben ganz viele Dinge nicht vor, die sind deshalb für uns auch nicht da. Es gibt bei-
Foto: Carsten Tabel
WER ANDEREN EINE GRUBE GRÄBT, FÄLLT NICHT UNBEDINGT HINEIN.
Wolfram Lotz
spielsweise für eine bestimmte Armut, die wir in Deutschland haben, eigentlich keine
Erzählung, weil sie nicht mehr rein ökonomisch ist. Wenn ein Obdachloser vorm
Bahnhof sitzt und friert, dann haben wir dafür schon noch eine Erzählung. Das hilft
ihm auch nicht unbedingt, aber es kann ihm helfen. Es gibt aber eine Gruppe von
Personen, die Hartz-IV-Empfänger, die ökonomisch einen Sockel haben, die also
nicht frieren müssen und auch etwas zu essen haben, die aber beispielsweise praktisch nicht mehr teilhaben an der Gesellschaft, die keine Anerkennung bekommen,
denen suggeriert wird, dass sie überflüssig sind, und die deshalb sozial isoliert werden, eine Verarmung an sozialen Möglichkeiten. Für diese kompliziertere Art von Armut haben wir keine richtige Erzählung, deshalb haben diese Leute auch keine Lobby. In diesem Fall würde es nun wieder darum gehen, Erzählungen zu finden,
komplexere. Wenn es aber in diesem Sinn wieder ums Herstellen geht, kann es ja in
der Kunst nur darum gehen, der Gesellschaft etwas hinzuzufügen, eine weitere
Möglichkeit, eine Verkomplizierung der bisherigen Geschichten – also letztlich eine
Erweiterung, eine Grenzüberschreitung, die ich als Auftrag an die Kunst verstehen
würde.
++++++++++++++++++++++++++++++++++++
Bei den Erzählungen, die uns tagtäglich über die Nachrichten vermittelt werden,
kommt man der Realität oder dem, was eine andere Erzählung der Wirklichkeit
sein könnte, vielleicht am nächsten in der Lücke, in dem, was die Fernsehnachricht nicht erzählt. __LOTZ Ja, aber es ist nicht so, dass ich gegen Nachrichten oder
Abbildungen oder Erzählungen bin, aber es muss immer klar sein, dass diese nicht
einfach die Wirklichkeit zeigen, wie es ein einfacher, mimetischer Realismusbegriff
vorgibt. Das heißt aber keineswegs, dass die Realität nicht darstellbar ist. Ich würde
ja sagen, dass über die Fähigkeit der Kunst, eine eigene Realität herstellen zu können, ein postmimetisches Verhältnis zur Realität entstehen kann, das wiederum
selbst auf komplexere Art mimetisch ist. Es gibt also nicht ein Zeichen, das auf Wirklichkeit referiert, sondern es gibt eine Struktur, die selbst ja wirklich ist, zum Beispiel
die Struktur eines Textes, die aber auch in einer Art mimetischem Verhältnis auf die
übrige Realität verweisen kann. Aber eben nicht als ein Zeichen, das ein Ding bezeichnet, sondern als eine Struktur, die auch Strukturen an anderen Orten meinen
kann.
Anhand dieser Fragen spüre ich
selbst schon wieder, wo
eigentlich der
Ein anderer Boden fehlt offenbar und das ist grauenhaft.
++++++++++++++++++++++++
Hat man als Künstler die Aufgabe, sich dem Druck
des Ökonomischen zu widersetzen? __LOTZ Man
spricht ja als Künstler in die Gesellschaft hinein. Man
spricht mit der Gesellschaft und will verstanden werden. Eine wirklich »funktionierende« Kommunikation ist eine Kommunikation, in der ich etwas sage
und der Andere versteht es, einfach, weil er es
schon weiß. Hollywoodfilme werden so gut
verstanden aus diesem Grund, weil die
Mitteilung die sie einem machen, eigentlich bereits vorhanden ist und
sie eigentlich nur abgerufen werden muss. Einerseits ist so ein
Film funktionierende Kommunikation, andererseits ist er
eine absolut leere Kommunikation. Und man ist
natürlich immer in dem
Zwiespalt gefangen, dass
man kommuniziert und
verstanden werden will,
aber etwas mitteilen
will, das noch nicht
verstanden ist. Man
schlingert da in komischen Bereichen
hin und her, und
man benutzt zum
Teil fertige Dinge,
die man als Vehikel
benutzt und zugleich
wird man von diesen
Dingen korrumpiert.
Würde man ein Kunstwerk machen, das
nicht schon mit festen
Formen arbeitet, würde
man wahrscheinlich über­
haupt nicht kommunizieren. Es würde überhaupt
nicht verstanden werden. In
diesem Sinne ist ja auch Erfolg
eine ganz heikle Angelegenheit.
Hat man Erfolg als Künstler, bedeutet das möglicherweise, dass
man zu sehr das kommuniziert hat,
was alle schon wissen. Deswegen sollte
man sich bei Erfolg nicht so sehr die Frage
stellen, was man richtig macht, sondern eher,
was man falsch macht.
+ + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + + Konkret aufs Theater bezogen befinden wir uns ja
auch in einem Kommunikationsraum. Die offensichtlichste Kommunikation ist vielleicht die, die
zwischen dem Geschehen auf der Bühne und den
Zuschauern abläuft. __LOTZ Das stimmt, aber es gibt
für mich als Autor noch einen Schritt, der vorgeschaltet
ist, nämlich wenn der Text ins Theater kommt und dort
erst einmal intern mit einer Gruppe von Leuten kommuniziert. Die Voraussetzung dafür, dass der Text in den
Zuschauerraum kommunizieren kann, ist die Frage, ob
diese erste Kommunikation vom Text zu den damit beschäftigten Theaterleuten funktioniert hat, in einem guten Sinn. Wenn das nicht gegeben ist, kann auch die
Kommunikation mittels eines Textes von der Bühne
Kr
au
ßi
nD
ie
l
äc
he
rlic
he
Fin
ste
rnis
Es ist wichtig, die Verschwendung in diesem Sinn zu
behaupten, als
ph
ie
dass etwas eben nicht so ist, sondern dass es anders
sein könnte. Es geht darum, in der Fiktion Räume begehen zu können, die nicht möglich waren. Indem man
sie in der Fiktion gedanklich begeht, erhöht sich die
Wahrscheinlichkeit, sie auch tatsächlich begehen zu
können.
++++++++++++++++++++++++
Es geht also um unmögliche Aussagen, die Aussagen sind und bei denen gleichzeitig die Widersprüchlichkeit zur vorhandenen Wirklichkeit schon offen zutage tritt? __LOTZ Ja,
vielleicht. Also wenn Aussagen, dann nur
Aussagen gegen die Welt, nicht über.
Aussagen über die Welt sind etwas
Befestigendes, sie verleugnen die
Veränderung und also die Zukunft. Und sie beenden die
Auseinandersetzung mit den
Dingen, verhindern, dass
der zukünftige Widerspruch der Dinge erhört
werden kann.
Die aussagenhaftesten
Aussagen sind ja eigentlich Sprichwörter,
die eine absolut klare
Haltung zur Welt, zu
den Dingen haben,
weil sie sich ganz sicher sind und sich
gleichzeitig von den
Dingen abgewendet
haben. Wer anderen
eine Grube gräbt,
fällt nicht unbedingt
hinein. Das muss
man tatsächlich immer wieder neu untersuchen.
Es wird aber auch oft als
Eskapismus verstanden,
keine Stabilität zu behaupten. Aber als Autor hat man
sich immer für das, was wir
Realität nennen, zu interessieren. Und die Realität ist der permanente Widerspruch. Ihr kann
man nie genügen und sie stellt immer wieder an das Schreiben und an
die Kunst Fragen, an denen man sich abarbeiten muss. Es ist wichtig, dass man
nicht endet, das ist irgendwie zu versuchen.
Ich finde, wenn man in der Kunst klare bzw. finale
Antworten gibt, geht man mit der Realität nicht verantwortlich um.
++++++++++++++++++++++++
In den 27 Forderungen an das Theater, die du mit
Hannes Becker formuliert hast, lautet der erste
Punkt: »Die Theaterbauten werden verschwenderisch gestaltet, denn die Verschwendung ist für das
Theater grundlegend.« Hat man als Künstler die Aufgabe zur Verschwendung? __LOTZ Ganz banal ist in
Bezug auf die Kunst vielleicht erst einmal gemeint, dass
man etwas herstellt, das nicht gegessen werden kann
und mit dem man wiederum selbst nichts herstellen
kann. Ein Gedicht ist auf diese Weise nicht einsetzbar
und das Schaffen einer Sache, die nicht auf diese Art
und Weise brauchbar ist, ist vielleicht Verschwendung.
So
++++++++++++++++++++++++
In einem Text eine bestimmte Struktur zu haben,
kann ihn also realistischer machen, als einen vermeintlich realistischen Text? __LOTZ Ja, das denke ich
schon. In den aktuellen Polemiken gegen das Performative wird für mein Empfinden immer übersehen, dass
diese Strukturen, die angeblich nicht auf etwas anderes
verweisen als sich auf selbst, durchaus ein mimetisches
Verhältnis, und zwar ein komplexeres, zur Wirklichkeit
haben. Und zwar weil sie Wirklichkeit nicht auf ein Zeichen reduzieren, sondern selbst Wirklichkeit zeichenhaft verwenden – und eben doch auch wieder auf etwas anderes als sich selbst verweisen können.
++++++++++++++++++++++++
Dem performativen Theater wird ja vorgeworfen, nur
noch selbst »wirklich« zu sein, und keine Aussagen
oder Positionen mehr hervorzubringen und deshalb
unpolitisch zu sein ... __LOTZ Ja, aber ich glaube, eine
Aussage ist etwas sehr Schließendes, Fertiges, und also
energetisch gesehen etwas relativ Folgenloses. Ich
glaube deshalb, dass nicht Aussagen, sondern ein Oszillieren von offeneren Sätzen in einem gesellschaftlichen Sinn viel produktiver ist. Also etwas, das in sich
einen Widerspruch enthält, einen realen Widerspruch
in diesem Sinn »abbildet«, und diesen nicht im Kunstwerk selbst löst – was ja auch der Fall ist, wenn eine
reale Lösung nahegelegt wird – sondern ständig Fragen
dazu generieren kann. Man kann jetzt sagen, so ein Oszillieren ist aber absolut wahllos und hat keinen Inhalt
mehr, aber das stimmt nicht. Auch ein Oszillieren ist gut
auszurichten auf bestimmte Dinge, die es konkret befragen kann.
Wenn man z. B. eine Information bekommt, die man
normalerweise als Aussage nehmen könnte, die aber in
sich einen Widerspruch enthält, dann stimmt man unter
Umständen erst zu und handelt sich dann aber ein Problem ein. Mir geht es oft genau um diese Brüche des
jeweiligen Denksystems oder der Erzählung, die auf
eine bestimmte Art und Weise anfängt und auf einmal
anders aufhört und man sich fragen muss, ob man die
jetzt so annehmen will, oder ob man das jetzt weiterhin
so denken will? Etwas fehlt und das muss man sich
dann auf einmal selbst suchen – ein erneutes Zugehen,
auf das, was einen umgibt. Es geht, glaub ich, im Moment darum, den Denkraum möglichst offen zu halten,
für das Andere, die Alternativen. Klar, das ist immer unkonkreter als eine einfache Aussage, aber es sucht die
Aussagen und Lösungen in die Zukunft hinein und
meint das Denken der Zuschauenden.
++++++++++++++++++++++++
Du hast mal eine »Rede zum unmöglichen Theater«
geschrieben. Geht es dir immer wieder um die Beschwörung des Unmöglichen? __LOTZ Bei dem, was
Hannes (Becker) und ich das unmögliche Theater nennen, geht es immer darum, dass sich das, was auf der
Bühne zu sehen ist, nicht schließt und nicht genügt.
Sondern dass es in das hinausweist, was jenseits der
gegenwärtigen Möglichkeiten liegt, also ins Unmögliche. Dass da noch was fehlt, dass es nicht ausreicht.
Dass also ein Sehnen entsteht, die Wirklichkeit als unfertig und ungenügend wahrnehmbar wird.
Indem man das Unmögliche formuliert, scheint ja erst
der Zwang auf, dem man unterworfen ist, z. B., dass der
Stein immer nach unten fällt und nicht nach oben.
Wenn man sagt, »der Stein fällt nach oben«, dann spürt
man den Zwang erst, oder die Gesetzmäßigkeit, in der
man agiert und sich befindet. Darüber sprechen zu können ist das Privileg der Fiktion - annehmen zu können,
Foto: Katrin Ribbe
16
16.17
.17
etwas Befreiendes.
Das hat auch mit Spiel
zu tun, mit wirklichem Spiel.
Selbst Kinder haben im Grunde nur noch das Recht zu
spielen, weil ihr Spiel ja auch oft in dem Sinne gesehen
wird, dass es wichtig ist für ihre Entwicklung, um den
Anforderungen der Gesellschaft standhalten zu können,
was also schon wieder so eine Nützlichkeit meint. Eigentlich müsste es ein Recht auf Spiel geben, nur weil
es Spiel ist.
Zwang herkommt
und worauf alles ausgerichtet ist bzw. was immer die letzte
Frage ist. Wenn ich sage, dass es ein Recht auf Spiel
geben soll, frage ich mich reflexartig schon wieder, was
das bringt, wodurch ich es also rechtfertigen kann.
Rechtfertigen heißt, einen Boden zu haben, von dem
man sich abstoßen kann, und der einzige Boden, der
einem heute im großen Gespräch der Gesellschaft noch
unter die Füße kommt, ist letzt­lich das Ökonomische.
hinunter nicht funktionieren. Das Eine ist nicht gegen
das Andere auszuspielen, sondern das ist ein Ablauf,
der aus zwei Schritten besteht.
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Liegt im Moment der Aufführung, also des Wiedereintretens der Fiktion in die Realität Theater ein utopisches Potenzial? __LOTZ Das Eintreten der Fiktion in
die Realität im Moment der Aufführung öffnet das Fertige des Textes wieder. Jede Wiederholung ist etwas
anderes. Deshalb ist die Aufführung als Kunstwerk eigentlich besser als ein Text, der vermeintlich fertig ist,
weil der Schmutz der Realität immer wieder Einzug halten kann und das Kunstwerk erneut ungeschlossen ist
und immer bleiben muss, einfach weil die Wirklichkeit
das Absolute nicht zulässt.
Ich bin auch dagegen, dass ein Theaterabend als »fertig« erklärt wird. Es ist ja etwas total Merkwürdiges,
dass im bürgerlichen Theater in dem Augenblick, in
dem die Zuschauer hinzukommen, also bei der Premiere, das Kunstwerk als fertig und stabil erklärt wird, und
aufgehört wird zu proben – also in dem Augenblick, in
dem der Kommunikationspartner hinzutritt. Offenbar
spielt seine Antwort oder Rückfrage in diesem Gespräch
keine besondere Rolle.
++++++++++++++++++++++++
WOLFRAM LOTZ WURDE 1981 IN HAMBURG GEBOREN
UND WUCHS IM SCHWARZWALD AUF. LOTZ STUDIERTE
LITERATUR-, KUNST-, UND MEDIENWISSENSCHAFTEN
IN KONSTANZ UND LITERARISCHES SCHREIBEN AM
DEUTSCHEN LITERATURINSTITUT IN LEIPZIG.
ER SCHREIBT THEATERSTÜCKE, HÖRSPIELE, LYRIK UND
PROSA UND WURDE BEREITS MEHRFACH AUSGEZEICHNET, U. A. MIT DEM KLEIST-FÖRDERPREIS, DEM DRAMATIKERPREIS DES KULTURKREISES DER DEUTSCHEN
WIRTSCHAFT IM BUND DER INDUSTRIE E. V. UND WURDE 2011 NACHWUCHSDRAMATIKER DES JAHRES IN DER
KRITIKERUMFRAGE DER FACHZEITSCHRIFT »THEATER
HEUTE«. 2015 WURDE ER FÜR DEN MÜLHEIMER DRAMATIKERPREIS NOMINIERT, IM GLEICHEN JAHR FUHR
DIE URAUFFÜHRUNG SEINES LETZTEN STÜCKES DIE
LÄCHERLICHE FINSTERNIS ZUM BERLINER THEATERTREFFEN. IN DER REGIE VON MILENA FISCHER HATTE
DAS STÜCK AM 13. SEPTEMBER 2015 IN HANNOVER
PREMIERE.
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Foto: Katrin Ribbe
18.19
Philippe Goos, Mathias Spaan in Die lächerliche Finsternis
STATTTHEATER IM 21. JAHRHUNDERT?
(KEIN TIPPFEHLER)
20.21
VON MANUEL SCHEIDEGGER
DER SCHATZ DES THEATERS IST DIE VERSCHWENDUNG VON LEBENSENERGIE –
NUR FÜR SIE.
Stadttheater und Gegenwart, das ist wie Miley Cirus und ein Keuschheitsgürtel. Theater
hat etwas Antiquiertes. Es ist furchtbar elitär. Wenn man bedenkt, wie teuer ein
Thea­
terabend ist und wie wenig Menschen etwas davon haben, schlimm. Man
könnte das ganze Geld doch auch verwenden, uns endlich vom Heuschnupfen zu
befreien! Oder man dreht eine gute Serie; die könnten mehr Leute öfter und sogar auf
dem heimischen Sofa sehen! Vor allem ist Theater dröge. Es gibt doch viel attraktivere
Freizeitangebote. Verbringt doch einen Abend auf Chatroulette und schaut mit einem
Mausklick in die nächste Wohnstube – das ist sozialer Realismus. Tinder, Kinder, ist
doch viel interessanter als Romeo und Julia. Seid ihr vom Dorf, dass ihr noch ins Thea­
ter geht? Theater ist das letzte. Wo ist das Feedbackformular, wenn ein langweiliger
Monolog vor sich hin eiert? Ein Theaterabend ist es nicht mal wert, einen Shitstorm
loszulassen. Dislike. Und bitte nicht Politik und echte Probleme. Das ist zu peripher,
kompliziert und langweilig. Das gehört in die Zeitungen, die zum Glück auch aussterben. Theater ist vorbei. Aber die Welt ist immer noch am Arsch.---------------------------------------------------------------------------------------------------------Blödes Gepöbel was? --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Bitte entschuldigen Sie diesen Diss. Es ging nur darum, mir etwas Luft zu verschaffen,
in dem ich Sie ärgere, nerve, oder so was. Ich glaube, dass das elementar etwas mit
dem Geschäft zu tun hat, was das Theater treibt und was die Philosophie mit ihm teilt.
Philosophie beginnt bekanntlich mit dem Staunen. Und am wenigsten staunen wir oft
über das, was uns selbst am nächsten ist, unsere Gefangenschaft in Ich-en und unseren Stereotypien, Idiosynkrasien und Denkabkürzungen. Deshalb gelte es, sagt
Heidegger, zuerst die Tradition unseres Denkens über uns selbst zu destruieren. ----------------------------------------------------------------------------------------Das Wesen der Revolution und das Versprechen der Utopien ist, dass es eine andere
Weise gibt, uns selbst zu entwerfen. Ich glaube, dass Theater auch immer damit beginnt, Sie in Aufruhr zu versetzen und eine kleine Revolution in Ihnen zu bewirken,
dass Sie Ihnen einen Abend lang (und manchmal ein Leben weiter) nicht mehr Herr
und Dame im eigenen Haus sind. Natürlich muss das nicht gewaltsam und zynisch
geschehen, es kann im Gegenteil aus einer gewaltigen Zärtlichkeit hervorgehen, mit
denen Ihnen ein Ensemble die Tür öffnet und sie liebevoll einlädt, gemeinsam verrückt zu werden. Alle Kunst beginnt mit dem Buhlen um Vertrauen. Im Theater geht
es, so meine These, um eine gemeinsame Verwandlung aller derjenigen, die im Raum
zusammen sind. Da kommen Sie rein, als die, die Sie sind, und gehen raus, als die, die
sie sind. Dazwischen werden sie liebevoll in Stücke gerissen. Theater ist immer
etwas zwischen Sadomaso, Milgram-Experiment, gemischter Sauna, Disneyland,
Eucharistie, Engtanzen, Sit-In und Bisinsmorgengrauenzusammendiskutieren und –
trinken (auch Wasser).--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Genauso wie die Vernunft fragt das Theater nicht danach, was wir sind, sondern OB
WIRS AUCH SEIN WOLLEN. In dieser wesenhaften Nähe von Theater und Aufklärung
liegt nun vielleicht auch die sanfte Melancholie derjenigen, die die Gesellschaft verändern wollten. An die Revolution mag keiner mehr so richtig glauben. Der liberale
Kapitalismus hat sich durchgesetzt und verkörpert anscheinend das bestmögliche
Maß an Freiheit. Und dem Theater geht es ein bisschen wie den alten Recken der
kritischen Gesellschaftstheorie. Es scheint überholt. Einerseits gibt es dank der digitalen Revolution (immerhin eine Revolution) eine ganze Reihe von Erlebnismedien, in
denen das Erfahren und Erproben von Handlungsräumen möglich ist. Das 3-D-Kino
erzählt, in dem es uns in eine fremde Welt wie Pandora einlädt. Computerspiele erlauben uns eine Gang in einer US-Großstadt zu befehlen, oder gleich selbst Regisseurin zu spielen, wenn wir Sims durch ihr Leben lenken. Soziale Netzwerke offerieren
eine Vielzahl von Selbsterprobungen; Selfies sind die Verbildlichung des Verspre-
chens des Digitalen: Dass jeder Zugang ins Medium hat, ohne Gatekeeper. Zweitens,
hat sich das Theater nicht auf die Welt entgrenzt? Es ist heute selbstevident, dass
nicht nur Politik von Inszenierungen durchdrungen ist, sondern auch die Arbeitswelt
genaue Anforderungen an die Performance von Akteuren und Aktien kennt. Drittens
und letztens hat das Theater sich den Virus eines ideologischen Konservativismus
eingefangen: Allenthalben, genau da, wo Enthusiasten wüten, wird das Theater für
seine Körperlichkeit, für die Ereignishaftigkeit seiner Aufführungen und vor allem seine Fähigkeit gerühmt, dem Diktat der Technologien die Brüchigkeit und Ironisierung
bodenständigen, körperlichen Spiels entgegenzuhalten. Kunsthandwerk statt Gegenwart. Kein Wunder, werden Stimmen laut, die eine solche partikulare Selbstzirkulation einer gesellschaftlichen Sperrminorität nicht länger als wesentlich begreifen.----------------------------------------------------------------------------------------Sie haben Unrecht. Genauso wie diejenigen vielleicht Unrecht haben, die behaupten,
dass die Idee alternativer Gesellschaftsordnungen obsolet sei. Die digitale Revolution
selbst hat hier einen Farbtupfer gesetzt. Zum ersten Mal seit 150 Jahren Industrialisierung verbindet sich mit technischem Fortschritt auch die Ahnung von gesellschaftlicher Innovation. Das liegt an den üblichen Verdächtigen wie Wikipedia und deren
kollektiver Umformung der Wissensgesellschaft. Es liegt aber auch darin, dass wieder
der Geist anderer Gesellschaftsformen umgeht. Axel Honneth, der berühmte Sozialtheoretiker aus Frankfurt, hat unlängst in Vorlesungen die Idee des Sozialismus wieder propagiert. In neuem Gewand diesmal freilich: Nicht mehr gehe es um eine totale Abschaffung des Marktes und eine Diktatur des Proletariats, in der liberale
Freiheitsrechte nichts mehr zählen. Wie auch: Eine Revolution, die uns was aufzwängt, braucht keiner! Vielmehr müsse darüber nachgedacht werden, wie Freiheit
und ein gebändigter Markt und die Gleichheit der Chancen und Fairness zusammen
gedacht werden können. Googlen Sie mal das Real Utopias Project, in dem der Kanadier Erik Olin Wright mögliche Organisationsformen gesellschaftlicher Neuerung sammelt. Das bedingungslose Grundeinkommen zum Beispiel, vielleicht andere Schulen
für lebenslanges Lernen statt neun Jahre Obligatorium, warum, so eines meiner Lieblingskunstprojekte (Dellbrügge & de Moll), verlagern wir Kriege nicht auf ein extraterritoriales Battle Field auf dem Mond, wo Rüstungskonzerne weiter verdienen, Aggressionen heroisch ausgelebt werden könnten von denen, die das brauchen, aber ohne
Schaden für die, die nichts dafür können. Kurzum: Wir leben in einer Zeit, in der die
gesellschaftliche Innovation längst an kein Ende gekommen ist, und wo es darum
geht, Lebensweisen zu finden, zu entwickeln, zu ermöglichen. Sodass mehr Menschen ihre Konzeption des Lebens gestalten können wie sie wollen. Unlängst stand
in der FAS ein Leserbrief, der sich wunderte: Wenn nun Homosexuelle bald Ehen
schließen können, stünden dann die Polyamoren nicht schon in den Startlöchern oder
würde bald grundgesetzlich verankert, dass eine Familie entsteht, wenn ein Individuum zur Samenbank geht? Ob das Fortschritt sei? JA!!! Wenn es mehr Menschen frei
macht, wenn Kinder in guten sozialen Beziehungen stehen, dann ist es egal, wen
man Familie nennt. Demokratie ist verwirklicht, wenn jeder wählen kann, wer seine
Eltern sind (René Pollesch).---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Muss das Theater also das gesellschaftliche Labor sein, in dem der letzte Schrei des
emanzipierten Individuums engineered wird? NEIN. Gerade nicht. Wäre Theater darauf aus, Gesellschaft konkret zu verändern, die Revolution für gut betuchte Bürger zu
retten, es würde zu nichts führen außer einer Art Artificial Hell, wie die Theoretikerin
Claire Bishop es ausdrückt. Die völlig nutzlose Veränderung einer Kleingruppe, die mit
der sozialen Realität draußen nichts zu tun hat. Nein. Theater ist die soziale Kunst
schlechthin. In ihr geht es darum, das Soziale selbst zum Modus der Kunst zu machen.
Ganz konkret. Theater ist der Ort, an dem wir gemeinsam Lebenszeit verbrauchen.
Wir sind mitten im Geschehen und schauen uns zugleich dabei zu, wie wir uns ver-
»Theater ist immer etwas
zwischen Sadomaso, MilgramExperiment, gemischter Sauna,
Disneyland, Eucharistie, Engtanzen, Sit-In und Bisinsmorgen­
grauen­zusammendiskutieren und
-trinken (auch Wasser).«
ändern, und wie (mit uns) gespielt wird. Alte Stücke eignen sich manchmal sehr gut
dazu, mit uns Gegenwärtigen in eine neue Hyperrealität zu verschmelzen. Aber auch
die Expertise des Schrebergärtners als Apologet einer marxistischen Utopie oder die
Performance über das eigene Tagebuch vermögen uns in eine gemeinsame und artifizielle Situation mitzureißen. Denn Theater ist die Kunst, in der Handlungen immer in
ihrer vollständigsten und echtesten Weise vor uns und mit uns stattfinden: als echtes
Vergehen unserer Biografie, in die wir für einen Abend Fremde einlassen. Fremde, die
uns Bilder zeigen, Identitätssplitter, Träume, Visionen, Mut, Verzweiflung, weinend,
raunend, uns anschreien, beschimpfen, anflehen, ironisierend, augenzwinkernd, todernst. Und wir lassen es geschehen, machen mit, und sehen zugleich das Bild, den
sich vor uns entfaltenden 3D-Film, in dem wir mit im Boot sitzen, und den wir wieder
in Bezug setzen müssen zu unserem Leben. Früher haben wir uns vielleicht stärker an
den festen und vereinheitlichten Handlungsbögen orientiert. Heute misstrauen wir
den Stereotypen und schauen uns an, wie die PerformerInnen und SchauspielerInnen
mit all den Angeboten einer unüberblickbaren Jetztzeit spielen. Aber auch so, wenn
die Performerin aus ihrem Spiel hervor blitzt, schaffen wir eine gemeinsame und
künstliche Situation vom Entstehen und Vergehen von Bildern, in die wir eintauchen,
um zu gewärtigen, dass vor aller gesamtgesellschaftlicher Diagnose die soziale Energie des Hier und Jetzt steht. Das Leben, die List der Vernunft und das Versprechen des
Sex, die Liebe, das Laster und die Ohnmacht, Hoffnung, Wut, die Natur, das Pech des
falschen und das Glück des rechten Augenblicks, alles das.-------------------------------------------------------------------------------------------------------------Der Auftrag des Theaters ist darum keine Revolution der Gesellschaft. Das, was dieser
kleinen Gruppe von Menschen an einem Abend passiert, soll für sich bleiben. Sie
verwandeln sich mit uns in eine Situation, nicht um sich zu verändern, sondern um
ihren Entwurf von sich selbst neu zu sehen, ihre Sicht, ihr Fühlen und Wirken. Sich
von einer ganz konkreten, ganz ungebändigten Situation her bestimmen zu lassen.
Das Theater schaut auf die Gesellschaft, in der Aufträge ein Organisationsprinzip der
Ökonomie sind und es zeigt, was vorher und nachher passiert, wenn Aufträge Individuen zurichten und unfrei machen. Das ist Kritik, aber im Modus lustvoll verbrauchter
Lebensenergie. Das Theater als Ort ist ein Gegenbild des Kapitalismus, weil die Menschen, die sich in ihm ausbeuten lassen, es gerne tun. Sie beuten sich aus, um sich
ihnen zu schenken. Auch darin ist Theater sehr sozial. Der Schatz des Theaters ist die
Verschwendung von Lebensenergie – nur für Sie. Wenn daraus eine Revolution hervorgehen soll, die gesellschaftlich wirkt, dann nehmen Sie Ihre Freunde mit, streiten
Sie mit Ihnen und beschlafen Sie sie, gehen Sie in die Politik, machen Sie Zwischenrufe, und setzen Sie verrückte Experimente wie das bedingungslose Grundeinkommen um und hören Sie auf zu sagen, wir seien an ein Ende gekommen. Wir leben
doch gerade mal 200 Jahre nach der gescheiterten Revolution. Theater ist nichts
weniger und nichts mehr als die lokalste Kunst der Gegenwart, es ist die andere Seite der Politik einer Stadt, eines Dorfes, der Ort, an dem die kurzweilig Verrückten
probieren, was die Gesellschaft morgen sein könnte, und dann reden und fordern
oder schweigen und anderen Raum lassen. Der Diskurs gehört dazu – drum führen
Sie bitte weiter gute Gespräche und gehen Sie sehr gerne auf dem Kopf nach Hause.
Aber der Diskurs (der Philosophie) holt ins Allgemeine, was das Theater gerade konkret für Sie war und was nie eingeholt werden kann. Eine gemachte Erfahrung im
Leben außerhalb des Lebens. Eine virtuelle Realität, die Sie speichern und die neben
Ihnen steht, wenn Sie im Büro sitzen, Ihre Chefin was von Auftrag labert, und Sie vor
Ihrem Auge die Avatare Ihrer Theaterabende sehen, die Ihnen zuzwinkern und Sie
auffordern, eine Haltung einzunehmen. Theater hat nie ausgedient. Es passt alles
rein: das Digitale, das Körperliche, das Inszenieren des Alltags, die Rollen und Stereo‑
typen, die es zeigt, wie sie wirken, wie sie entstehen und vergehen, wie frei SIE
letztlich sind, Politik zu machen, mit anderen aushandeln, wie es weiter geht, in der
Partei oder in der Patchworkfamilie, im Yacht- oder dem Swingerclub, der Gassenküche oder dem Charityball, oder da, wo sich alle treffen, Philosophinnen, Künstler,
Bürgerinnen, Bankerinnen, Angestellte: am Rande des Marktplatzes. Theater ist immer unser aller Drama. Flüchtig, aber mit bleibendem Eindruck. Alles kann das Thea­
ter in sich aufnehmen und soll es im wortwahrsten Sinne ver-handeln, alles kann es,
außer: Sie allein lassen. Statt Theater gibt es nichts, keine Kunst wie das Stadttheater
(und ihre offenen Türen für die freien Szenen), die Sie mehr zusammen leben lässt!
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MANUEL SCHEIDEGGER FRAGT SICH AUCH, WAS SEIN AUFTRAG IST. ER ARBEITETE
AM THEATER, VERDINGTE SICH ALS WERBETEXTER UND GRÜNDETE DAS STARTUP
FARFROMHOMEPAGE. SEIT 2013 ARBEITET ER AN SEINER PROMOTION IN PHILOSOPHIE: IN »DIE KUNST DER HANDLUNG« FRAGT ER NACH DEM ZUSAMMENHANG VON
SZENISCHEN KÜNSTEN WIE THEATER, FILM ODER GAMES MIT UNSEREM SUBJEKTIVEN SEIN UND SOZIALEN HANDELN.
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Foto: Katrin Ribbe
Daniel Nerlich, Janko Kahle, Corinna Harfouch, Sarah Franke, Hagen Oechel, Jonas Steglich in Der Auftrag
Foto: Peter Hiltmann
22.23
AUFTRAG KUNST –
GESPRÄCH MIT MARIUS VON MAYENBURG
24.25
EIN GESPRÄCH MIT DEM AUTOR, REGISSEUR UND DRAMATURGEN MARIUS VON MAYENBURG
GESPRÄCH: JUDITH GERSTENBERG
Unsere Eröffnungsproduktion Der Auftrag. Erin­ner­
un­gen an eine Revolution von Heiner Müller thematisiert die Orientierungslosigkeit nach dem Verlust des gesellschaftlichen Auftrags. Sie hat uns
veranlasst, auch über den ambivalenten Anspruch
der Gesellschaft an die Kunst nachzudenken. Welche Aufgabe hat die Kunst? Welche Aufgabe hat das
Theater? Was ist Selbstverpflichtung, was Fremdverpflichtung. Ich frage dich sowohl als Theaterpraktiker – du bist Regisseur und warst lang­
jähriger Dramaturg an der Schaubühne Berlin – als
auch als Theaterautor. Es heißt, eine Stimme wie
Heiner Müller gibt es nicht mehr, man beklagt das
als Verlust, als den Verlust eines dialektisch-kritischen Geschichtsbewusstseins auf der Theaterbühne. Würdest du bestätigen, dass sich der Tonfall
der Theaterliteratur gewandelt hat? __VON MAYEN­
BURG Ja. Und ich begrüße die Veränderung des Tonfalls. Bei Müllers Texten höre ich immer den Nachklang
des Totalitären. Seine Texte spiegeln eine unverhohlene
Faszination für Gewalt, auch für die Gewalttätigkeit von
Sprache, seine Sätze sind wie ausgestanzt, ich höre in
ihnen das Echo des National­sozialismus. In der formelhaften Verkürzung, in der er Gedanken gerinnen lässt,
sie auf ein Schlagwort bringt – ein poetisches Schlagwort natürlich – empfinde ich seine Sprache als militaristisch.
++++++++++++++++++++++++
Definiert sich poetisches Sprechen nicht durch Verdichtung? __VON MAYENBURG Aber hier spüre ich einen Zwang. Mir macht seine Sprache Beklemmungen.
Diese auftrumpfende Rhetorik, die so tut, als wäre jede
Formulierung ein Volltreffer.
++++++++++++++++++++++++
Lässt sich der Wandel des Tonfalls näher beschreiben? __VON MAYENBURG Heiner Müller steht ja nicht
alleine. Peter Weiss würde ich auch dazu rechnen oder
Volker Braun. Alles Dramatiker, die sich der Erbschaft
Bertolt Brechts verbunden fühlten. Besonders bei DDRAutoren ist dieser Bezugspunkt spürbar, auch die Bürde,
die dieses Erbe bedeutet, der stetige Druck, sich zu ihm
verhalten zu müssen. Diese Auseinandersetzung war
sicher eine lohnende, schließlich führte sie auch immer
wieder zu theatral ungeheuer fruchtbaren Ergebnissen.
Doch für Autoren, die heute beginnen für die Bühne zu
schreiben, ist Brecht relativ fern. Man orientiert sich
mehr an Stimmen, die nicht aus dem Theater kommen,
sondern aus der Bildenden Kunst, der Musik oder einer
anderen Form von Literatur.
++++++++++++++++++++++++
Drückt sich darin auch ein verändertes Selbstverständnis aus? Gegenwärtige Texte thematisieren
oft die Überflutung durch Eindrücke, die Schwierig-
Foto: Katrin Ribbe
VIELLEICHT MUSS MAN THEATER AUCH NOCH EINMAL VON DEM BEGRIFF »KUNST«
TRENNEN.
Marius von Mayenburg
keit, alle zugänglichen Informationen in sein Leben
zu integrieren, sich zu ihnen in Beziehung zu setzen, letztlich die Überforderung und Erschöpfung.
__VON MAYENBURG Ein Merkmal der zeitgenössischen
Dramatik scheint mir ihre Vielgestaltigkeit zu sein. Es
gibt diejenigen, die für die zersplitterte Wirklichkeitswahrnehmung einen neuen literarischen Ausdruck suchen und daneben gibt es Autoren, die mit einer fast
naiv wirkenden Haltung an bestimmten Werten festhalten und die gängige Rede von der Komplexität der Welt
als Affirmation der Verhältnisse entlarven. Diese unterschiedlichen Strömungen führen ja auch zu den ideologischen Grabenkämpfen zwischen postdramatischem
und nicht-postdramatischem Theater. Manchen scheint
es unmöglich ihr Erleben in die Struktur einer Geschichte zu überführen, Figuren zu zeichnen, die kohärente
Biografien haben, andere Autoren, zu denen ich mich
zähle, behaupten dagegen, dass es sehr wohl erzählbare Lebensläufe gibt. Das verdankt sich einer unterschiedlichen Wahrnehmung. Ich empfinde mein Leben
gar nicht als so zerstört und aufgelöst, wie der Diskurs
suggeriert. Dennoch verstehe ich den anderen Ansatz,
ich schaue auch gerne solches Theater, weil sich daraus
eine neue Perspektive auf das eigene Leben öffnet. Darin sehe ich übrigens auch den Auftrag der Kunst: dass
sie neue Blicke auf unsere Wirklichkeit ermöglicht,
Blicke auf Sachverhalte, die wir vielleicht nicht wahrhaben wollen oder verdrängen, vielleicht aber auch auf
solche, die wir sogar selber schon einmal gesehen haben, aber nicht in der Differenziertheit, wie sie uns ein
anderer Autor oder Theatermacher eröffnen kann.
++++++++++++++++++++++++
Wie kann das dem Theater gelingen? __VON MAY­
EN­B URG Zuallererst einmal durch die kollektive Erfahrung, die gemeinsam verbrachte Zeit. Das ist der große
Vorteil, den das Theater allen anderen Medien gegenüber hat. Damit meine ich nicht nur das Zuschauerkollektiv, sondern auch die Gemeinschaft, die aus den
Spielern und den Zuschauern jeden Abend neu entsteht. Und für mich stehen dahinter auch immer noch
die Autoren, die bereit sind etwas von ihrem möglicherweise sehr persönlichen Blick auf die Welt zu teilen.
Das Theater hat die Mittel, auch Gedanken gegen den
Widerstand eines Publikums zu offenbaren, indem es
die Zuschauer in ein Erlebnis verwickelt – es kann zum
Nachvollzug einladen, aber auch überrumpeln oder einen gemeinsamen Rausch erzeugen.
++++++++++++++++++++++++
Du warst ein frühes Mitglied des Teams um Thomas
Ostermeier, das von 1996 – 1999 die Baracke am
Deutschen Theater in Berlin bespielt hat. Euer Erfolg führte zum Angebot, die legendäre Schau­bühne
am Lehniner Platz zu übernehmen. Ihr galtet als die
neuen jungen Wilden, seid mit einem ungeheuren
Furor gestartet, habt ein Manifest verfasst und euch
manches Dogma auferlegt. Was ist daraus gewor-
den? __VON MAYENBURG Ich stehe noch immer hinter
diesem sogenannten Manifest. Es war ein Text, mit
dem wir in unserem ersten Spielzeitheft versucht haben zu erklären, was wir als unsere Aufgabe sehen. Als
unseren Auftrag. Wir haben also gesagt, dass das Theater ein Ort sein sollte, an dem man Antworten auf die
Frage sucht, wie man leben sollte. Und dass diese Frage eine politische Frage ist. Es ging letztlich um die
Verpflichtung des Theaters, auf Wirklichkeit zu reagieren und keine abgehobene Elfenbeinturmkunst zu betreiben. Unser Leben wird von individuellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Konflikten bestimmt,
die in dieser Form in der klassischen Dramenliteratur
nicht vorkommen. Insofern war unser Text vor allem
ein Bekenntnis zu einem Theater der zeitgenössischen
Autoren.
++++++++++++++++++++++++
Auch eine Abgrenzung zu der Entwicklung, die die
Schaubühne zuvor genommen hatte? __VON MAYEN­
BURG Eine Abgrenzung zu den Protagonisten, die sie
am Ende geprägt haben. Eigentlich haben wir ja mit
unserem Programm an die Anfänge dieses Theaters angeknüpft, als die Schaubühne am Halleschen Ufer gegründet wurde.
++++++++++++++++++++++++
Euch war es wichtig, diesen Anspruch zu verschriftlichen, euch damit ein Profil zu geben. Warum? __
VON MAYENBURG Ich finde es normal, dass man sich in
einem subventionierten Theater überlegt, wofür man
die Subventionen eigentlich bekommt, und dass man es
auch wagt zu formulieren, was man mit dem Geld vorhat. Wir hatten eine klare inhaltliche Ausrichtung und
wollten uns damit nicht verstecken. Unser Spielplan
war bestimmt von neuen Stücken, Stücken, in denen
sich unsere Wirklichkeitserfahrung wiederfand, Stücke,
die sich politisch positionierten. Wir wollten nicht, wie
seinerzeit Leander Haußmann in Bochum, nur »Viel
Spaß« ins Programmbuch drucken. Wir wollten signalisieren, dass wir mehr wollten. Doch die Wirkung dieser
Geste hatten wir völlig unterschätzt. Dieses Manifest
wurde uns um die Ohren gehauen.
++++++++++++++++++++++++
Weniger wegen seines Inhalts – denn den dort formulierten Anspruch teilten sicher viele Theatermacher –, sondern tatsächlich wegen des Gestus. Die
Lust, euch zu beweisen, dass ihr eurem eigenen
Anspruch nicht gerecht werdet, war groß, größer
als die Sympathie mit Künstlern, die sich allen
sichtbar die Latte hoch hängen. Das finde ich interessant. Was zeigt das? __VON MAYENBURG Ich
glaube, unsere damaligen Inszenierungen wurden sogar unserem Anspruch gerecht. Übel nahm man uns die
Abgrenzung, die in dieser Geste lag. Schon nach dem
ersten Satz unseres Textes – »den Theatermachern in
Deutschland ist ihr Auftrag verloren gegangen« – war
eigentlich der Ofen aus. Wir haben so getan, als hätten
wir was kapiert, was alle anderen nicht begriffen. Und
ich muss zugeben, das war damals wirklich mein Eindruck. Man darf auch nicht vergessen, wie grauenvoll
altherrenhaft die Theaterlandschaft damals war. Da
hatte sich die ganze Stagnation von 16 Jahren Helmut
Kohl niedergeschlagen. An der Baracke hatten wir einen ungeheuren Rückenwind. Das Publikum hat uns
geliebt, wir hatten in unserer jugendlichen Selbstüberschätzung das Gefühl, diese Liebe auch voll und ganz
verdient zu haben. Mit diesem Selbstbewusstsein haben wir uns hingestellt und die Generation der Zadeks,
Steins, Breths, Bondys und Dorns herausgefordert.
++++++++++++++++++++++++
War es eine Last, den Kunsttempel Schaubühne zu
übernehmen? Er war ja über viele Jahre das Aushängeschild der westdeutschen Theaterkunst auch
im Ausland. __VON MAYENBURG Ich selbst habe das
nicht als belastend empfunden. Ich habe auch nicht so
sehr unter unserem Misserfolg der ersten Jahre gelitten.
Es war vorhersehbar, dass wir erst einmal einen Großteil der alten Zuschauer verlieren würden. Ich habe das
als notwendigen Verlust in einer Schlacht, die geschlagen werden muss, gewertet. Wir wollten ein Autorentheater, den Gegenwartsstimmen die Bühne überlassen
und nicht die hundertste Faust- oder Tschechow-Inszenierung produzieren. Die wenigen Klassiker, die wir ins
Programm nahmen, sahen wir als Paten, z. B. Georg
Büchner mit Dantons Tod.
++++++++++++++++++++++++
Heute sieht der Spielplan der Schaubühne, an der
du noch immer regelmäßig, wenngleich nicht mehr
in der Leitung, arbeitest, anders aus. Zeitgenössische Autoren sind die Seltenheit. In der Mehrzahl
stehen eben jene bürgerlichen Klassiker auf dem
Programm. Welche Erkenntnisse haben zu dem
Wandel geführt? __VON MAYENBURG Sehr verkürzt
könnte ich sagen: Wir sind an der Architektur der
Schaubühne gescheitert. Das Haus und die Literatur, die
gegenwärtig für Theater geschrieben wird, passen
nicht zusammen. Die meisten jungen Autoren schreiben
für das Studio, damit sie die Chance haben, überhaupt
gespielt zu werden. Überschaubare Personenzahl, wenig Aufwand und Bezugnahme auf einen bestehenden
Diskurs, sind die Ratschläge, die man einem jungen
Schriftsteller heute geben muss. Das war früher anders.
Mit Stücken, die unter diesen Vorzeichen entstehen,
waren die großen Säle der Schaubühne nicht zu füllen.
Das Publikum zeigte sich auch nicht bereit, den Vorgang
unserer Suche nachzuvollziehen. Nach drei Jahren kam
der Erfolg mit einer Nora-Inszenierung und damit war
uns klar, an welcher Stelle wir unser Publikum kriegen
können.
++++++++++++++++++++++++
Wie lässt sich das erklären? Das Schaubühnen­
publikum ist mit Sicherheit kunstaffin, bürgerlich
gebildet, auf der Höhe der gesellschaftlichen Diskurse und zieht doch die Literatur des 19. / frühen
20. Jahrhunderts der zeitgenössischen vor? __VON
MAY­E NBURG Das Publikum hat sich in den Figuren dieser Literatur, der dort gezeigten Schicht, wiedererkannt,
in diesem bürgerlichen Milieu. Bei Ravenhills Shoppen
und Ficken standen hingegen Figuren auf der Bühne,
die mit der Lebensrealität unserer Zuschauer wenig zu
tun hatten. Dieses East-London-Prekariat war für den
Zahnarzt aus Charlottenburg allenfalls exotisch, Identifikation unmöglich. Und ich glaube, um die Möglichkeit
der Identifikation geht es im Theater – immer. Es gab
aber noch einen anderen Grund und der ist schmerzlicher: Die Stücke von Ibsen sind vom Format her Romane, die auf der Bühne stattfinden, während viele zeitgenössische Stücke Essays sind, vielleicht Erzählungen,
auf jeden Fall kleinformatiger und mit weniger Sorgfalt
hergestellt. Sie werden für einen schnell reagierenden
Markt produziert, für die Nische, für Festivals, für Stückwettbewerbe. Ibsens Dramen hatten andere Entwicklungsprozesse und dementsprechend mehr kondensierte Lebenserfahrung. Unsere ersten Spielpläne richteten
sich an den Autoren und Texten aus. Die Regisseure
haben wir erst im zweiten Schritt gesucht, auch das ist
heute anders. Wir erkannten, dass wir starke Regisseure brauchten, um unser Ensemble zu fordern. In den
ersten Jahren hatten sie noch Lust auf die neuen Stücke,
aber schließlich haben sich andere Interessen durchgesetzt. Die Regisseure, die wir ansprachen, lockte oftmals
eher das Fremde eines älteren Stoffes. Sie sahen darin
die größere künstlerische Herausforderung.
++++++++++++++++++++++++
Nicht nur inhaltlich seid ihr anders gestartet, sondern auch mit einem Arbeitsmodell, das sich aus
den marktliberalen, ökonomischen Zwängen befreien wollte. Auch das war ein Rückgriff auf die
frühen Schaubühnenjahre. Es gab eine Einheitsgage für alle, Mitbestimmung in der Programmierung,
einen geradezu klösterlichen Zusammenschluss mit
Drehverbot für das Ensemble, um eine Enklave zu
schaffen, die sich auf die Arbeit vor Ort konzentriert
und anderen Verlockungen widersteht. Ihr seid davon, wie auch eure Vorgänger, schnell wieder abgekommen. Ist dieses Modell in unserer Zeit zum
Scheitern verurteilt? __VON MAYENBURG Dieses Arbeitsmodell war der Überzeugung geschuldet, dass man
alle Kräfte braucht, wenn man ein Theater anschieben
möchte. Der neue Standort muss erst einmal als Heimat
Foto: Katrin Ribbe
26.27
ihn inszeniert, sollte möglichst unsichtbar bleiben. Das
Publikum will den Schauspieler so pur wie möglich erleben. Das war für mich eine wichtige Erkenntnis, denn
die Schauspieler sind es, denen das Publikum an diesem Abend begegnet. Mir selber geht es als Zuschauer
auch so. Ich habe bemerkt, wie mich eine originelle
Sprache oder ein ausgesucht formalistischer Regiestil zu
stören beginnen. Daher versuche ich jetzt hinter meinen Stücken als Autor eher zu verschwinden. Und die
Auseinandersetzung mit der Komödie ist der Versuch,
den Kontakt zwischen Publikum und Schauspieler unmittelbarer zu machen. Es funktioniert nirgends so gut
wie in der Komödie, dass diese beiden Protagonisten
des Theaters zu echten Partnern werden und miteinander ins Spiel kommen. Es ist auch nirgends so deutlich
im Probenprozess, dass ein Partner fehlt. Lachen ermöglicht eine sehr direkte Interaktion. Die suche ich.
++++++++++++++++++++++++
Trauerst du den Anfängen, in denen man sich seine
Überzeugungen – vielleicht etwas präpotent – auf
die Fahne schrieb, nach? __VON MAYENBURG Natürlich, aber wir machen Theater. Vielleicht muss man
Theater auch noch einmal von dem Begriff »Kunst« trennen. Theater muss sich im Gegensatz zur Freien Kunst
mit den Machbarkeiten arrangieren. Und trotzdem sollte
es nicht aufhören, dem Zuschauer wenn nötig mit dem
Arsch ins Gesicht zu springen.
++++++++++++++++++++++++
MARIUS VON MAYENBURG GEBOREN 1972 IN MÜNMathias Max Herrmann, Oscar Olivo, Robert Zimmermann, Lisa Natalie Arnold, Vanessa Loibl in Was ihr wollt
etabliert werden, als Punkt, von dem aus man denkt
und agiert. Wir haben das immerhin zwei Jahre durchgehalten und es waren nicht die schlechtesten Jahre.
Im Gegenteil. Die inhaltliche Auseinandersetzung war
nie wieder so intensiv wie damals, wir waren mehr bei
uns und weniger auf äußere Koordinaten ausgerichtet.
Natürlich waren die wöchentlichen Sitzungen, in denen
wir gemeinsam Stücke gelesen haben, auch ermüdend,
aber die Schauspieler haben begonnen dramaturgisch
zu denken, auch konnten sie sich mit Texten, die sie
selbst ausgewählt haben, besser identifizieren. Dieses
Arbeitsmodell ist in dem Moment aufgeweicht worden,
als die ersten Spieler feststellten, dass sie mit der Einheitsgage nicht auskommen, drehen wollten und dafür
das Ensemble verließen. Wir mussten dann die Regeln
lockern und damit auch das Gagengefüge verändern.
Ich halte aber dieses Modell dennoch nicht für gescheitert. Sollte ich einmal ein Haus übernehmen, würde ich
es wieder so machen.
++++++++++++++++++++++++
Es wird viel darüber gesprochen, die Schwelle für
den Theaterbesuch zu senken, Populäres zu bieten,
damit man ein größeres Publikum erreicht und die
Steuergelder wert ist. Das mag für ein Haus in Berlin nicht die gleiche Fragestellung sein wie für uns,
da es in Berlin noch vier große Häuser gibt, die verschiedene Zielgruppen ansprechen. Habt ihr euch
trotzdem damit auseinandergesetzt? __VON MAYEN­
BURG Natürlich. Wir sind ja nicht angetreten, um Theater für Zahnärzte zu machen. Machen wir auch heute
nicht. Wir haben augenblicklich ein sehr durchmischtes
Publikum, es variiert stark von Produktion zu Produktion. Wir haben eine sehr rege Theaterpädagogik, die
sich um Vermittlung bemüht. Als Theater muss man
eine Hitze erzeugen. Man muss etwas machen, was es
sonst in der Stadt nicht gibt, damit die Leute anreisen.
Bei der Baracke war das der Fall. Das war eine Mischung aus Theater, Jugendclub und Disco – da wollte
man dabei sein, auch generationenübergreifend. Als
wir von Berlin-Mitte, wo auch unser Publikum lebte, an
den Kurfürstendamm, die gefühlte Peripherie, wechselten, war das zunächst schwierig.
++++++++++++++++++++++++
Das Schaubühnen-Ensemble ist ein Star-Ensemble,
mit einer Bürgerbühne, wie sie von Wilfried Schulz
in Dresden parallel zum Hauptprogramm eingeführt
wurde und jetzt allerorten entsteht, um ein anderes
Publikum zu generieren, hat das wenig zu tun. Was
hältst du von der Forderung nach Partizipation? __
VON MAYENBURG Wir hatten in Inszenierungen von
Volker Lösch auch schon Laien auf der Bühne stehen,
Prostituierte bei Lulu, Ex-Knastis bei Berlin Alexanderplatz. Dass man damit wirklich andere Publikumsschichten erreicht, wage ich zu bezweifeln. Es ist sicher
auch ein Stück weit Mode. Wenn das, was auf der Bühne passiert, nicht irre ist, hilft das Institutionelle gar
nichts. Man muss Ausnahmeereignisse schaffen.
++++++++++++++++++++++++
Eure Ausnahmeereignisse knüpfen sich meist an
Schauspielernamen, selten an Stoffe bzw. Themen.
__VON MAYENBURG Völlig zu Recht. Das Ereignis am
Abend bleibt der Schauspieler.
++++++++++++++++++++++++
Dann spreche ich dich jetzt als Autor an. Du hast
früh begonnen für das Theater zu schreiben, bist
äußerst erfolgreich, wirst auch rege im Ausland
nachgespielt. In deinen letzten Stücken sieht man,
wie virtuos du das Komödienhandwerk beherrschst,
bekannt wurdest du hingegen mit einem sehr
schmerzhaften Stück über Pubertät, Feuergesicht.
Ist das ein bewusster Wandel? __VON MAYENBURG
Für mich ist Feuergesicht ja auch eine Komödie. Ich
schreibe immer über Sachen, die mir über längere Zeit
keine Ruhe lassen. Das können sehr unterschiedliche
Dinge sein. Irritationen, denen ich schreibend auf die
Spur kommen will. Wie lustig das Stück dann wird,
hängt stark vom Thema ab. Mich haben in den letzten
Jahren ganz unterschiedliche Dinge interessiert, individuelle und politische, und ich habe mir den Luxus gegönnt, darauf sehr unterschiedlich zu reagieren. In ei-
ner stillschweigenden Übereinkunft von Theaterleitern
und Medien ist ja für den lebenden Autor die Nische des
Diskurstheaters reserviert. Da dürfen dann vor dem
nicht so zahlreichen, hauptsächlich studentisch-theaterwissenschaftlichen Publikum auf der Nebenspielstätte formal schwierige Texte zu tagespolitisch relevanten
Themen abgearbeitet werden. Ich habe mich diesem
Druck immer entzogen, auch weil es mir wahrscheinlich
gar nicht geglückt wäre, so zu schreiben, selbst wenn
ich es versucht hätte.
++++++++++++++++++++++++
Du bist ein Erzähler, schreibst großartige Dialoge,
entwickelst geradezu klassisch Situationen. Das
gibt es nicht mehr allzu häufig. __VON MAYENBURG
Ich glaube, durch das Regieführen hat sich mein Schreiben verändert. Ich hatte mir Jahre lang literarische
Dogmen auferlegt, Worte, die ich mir verboten habe,
bestimmte Erzählweisen. Das habe ich alles fallen gelassen. Das Ereignis Schauspieler ist für mich in den
Mittelpunkt gerückt. Wer den Text geschrieben hat, wer
CHEN, NACH DEM ABITUR STUDIUM DER ALTGERMANIS­
TIK, SEIT 1992 IN BERLIN. 1994 BIS 1998 STUDIUM AN
DER HOCHSCHULE DER KÜNSTE. 1998 BIS 1999 DRAMATURGIE-MITARBEIT AN DER SOGENANNTEN BARACKE
DES DEUTSCHEN THEATER BERLIN, VON 1999 BIS 2015
DRAMATURG UND HAUSAUTOR AN DER SCHAUBÜHNE
AM LEHNINER PLATZ. REGIEARBEIT. ÜBERSETZUNGEN.
KLEISTFÖRDERPREIS FÜR JUNGE DRAMATIKER 1997
UND PREIS DER FRANKFURTER AUTORENSTIFTUNG
1997 FÜR FEUERGESICHT. DAS STÜCK WURDE BISLANG
IN MEHR ALS 30 SPRACHEN ÜBERSETZT UND WELTWEIT INSZENIERT. ZAHLREICHE INSZENIERUN­
G EN
AUCH SEINER WEITEREN STÜCKE IM IN- UND AUSLAND. REGIEARBEITEN AN DER SCHAUBÜHNE. MARIUS
VON MAYENBURG LEBT IN BERLIN. IN DER SPIELZEIT
2015 / 16 INSZENIERT ER SEINE NEUÜBERSETZUNG VON
SHAKESPEARES WAS IHR WOLLT AM SCHAUSPIEL HANNOVER. HIER WAREN BEREITS SEINE STÜCKE HAARMANN (2001) UND MÄRTYRER (2013) ZU SEHEN, IM NOVEMBER FOLGT IN DER REGIE VON LARS-OLE WALBURG
PERPLEX.
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AMERIKANISCHES DETEKTIVBÜRO LASSO
28.29
NACH DER FRUCHTBAREN ZUSAMMENARBEIT ZWISCHEN DEM AUTOR NIS-MOMME STOCKMANN UND LARS-OLE WALBURG BEI DER
URAUFFÜHRUNG VON TOD UND WIEDERAUFERSTEHUNG DER WELT MEINER ELTERN IN MIR 2012, SCHREIBT STOCKMANN JETZT FÜR DAS
SCHAUSPIEL HANNOVER AN EINEM AUFTRAGSSTÜCK ODER BESSER AN EINEM AUFTRAGSMUSICAL ÜBER FRITZ HAARMANN UNTER DEM
TITEL AMERIKANISCHES DETEKTIVINSTITUT LASSO. IN EINEM ERSTEN AUSZUG, DEN WIR HIER EXKLUSIV ABDRUCKEN, THEMATISIERT
DER AUTOR DIE SCHWIERIGKEITEN, SICH DIESEM AUFTRAG ZU STELLEN.
VON NIS-MOMME STOCKMANN
OUVERTÜRE
Chor: - D - U- R- C- H- R- E-I - S- E-
BILD 1 – DANK
Guten Abend.
Pause
Willkommen erst mal und danke ... dass Sie eine Eintrittskarte gekauft haben.
Für das Staatstheater wird das alles hier schließlich
sehr teuer, ein Musical von solchen Ausmaßen ... und
das sollte man vielleicht auch mal ... also ... dass ... Ich
meine ...
Modellbau.
Oder ein ...
Hm ...
Ja: Einige Leute haben zum Beispiel einen Garten ...
Nähen ...
Fotografieren –
Billard –
Playstation –
Meine Töchter zum Beispiel reiten montags immer.
Reiten ist relativ teuer.
Obwohl so teuer jetzt auch nicht.
Oder Sie haben einen Hund.
Und der Hund braucht eine Betreuung während des
Theateraufenthalts.
Einen Hundesitter.
Der Hund verursacht sowieso viele Folgekosten.
Zum Beispiel:
Impfungen.
Futter.
Ich habe letztens in einem Forum gelesen, eine dänische Dogge verzehrt jeden Tag Futter im Wert von
1,87 Euro.
Also »verzehrt« ist jetzt nicht das richtig Wort aber ...
Pause
Stimmung zu erzeugen.
Ein Biergarten.
Die Rezeption eines billigen Hotels.
Die Rezeption eines sehr guten Hotels.
Die Rezeption eines Hotels in einer fernen postnuklearen Zukunft, in der telepathisch begabte Echsenwesen
die Erde regieren.
Ein geheimer Raum unter dem Bundeskanzleramt.
Trampolins.
Eine zu zwei Querschnitten aufklappbare Torte, in der
sich ein Attentäter versteckt.
Der Eingangsbereich der Clown-Universität Prag.
Das Innere eines genialen Kopfes, vielleicht George
Washingtons.
Ein schlechtgehendes italienisches Restaurant, in dem
der Chef abends alleine an einem Tisch sitzend in die
Tiefen seines Schnurrbarts einen Versicherungsbetrug
murmelt, den er nie begehen wird.
Ein bühnenfüllendes Spiegelkabinett.
Ein Trank, auf dem steht »Trink mich nicht. Oder von
mir aus: trink mich. Befreie dich aber auf jeden Fall von
den Weisungen der Flaschen«.
Eine Kettensägejonglagenummer.
Ein Strongman-Parcours.
Ein alter Bahnhof auf dem es spukt.
Pause
Sie wissen, was ich meine ...
Entschuldigung ... ich bin jetzt gar nicht darauf vorbereitet gewesen, jemandem zu danken ...
Also: Weil, es gibt ja sonst vielleicht auch eine Reihe
von Involvierten und Unterstützern, die sich ... dann
vielleicht übersehen ... fühlen ...
Die Stadt. Der Bürgermeister –
Ich meine, das ganze Kultursystem ist ja ...
Im Grunde ...
Das so was ermöglicht wird ... ein Musicalabend von
diesen Dimensionen ...
Lange Pause
Räuspern
Bühnentechniker (einen Säbelschrank auf der Sackkarre herbeischiebend): Wohin?
Da hinten, zu dem persischen Bankett.
Lied: Die Kunst hat eine Aufgabe.
Die Kunst hat eine Aufgabe
Die Kunst hat eine Aufgabe
Nämlich zu langweilen.
Die Kunst – wie ich sie jetzt mal nenne – hat eine
Aufgabe –
Nämlich zu langweilen.
Räuspern
Bei meiner Arbeit an dem ...
Ein Bühnentechniker (mit einer Schubkarre voll Dynamit): Wohin?
Unter den Bühnenboden.
Pause
*
Also – danke, dass Sie eine Karte gekauft haben. Trotzdem hoffe ich, dass die Karte jetzt nicht so teuer war für
Sie und Sie jetzt deswegen irgendwie in ... ja: ... andere
Ausgaben dadurch ... also: wenn Sie jetzt zum Beispiel
ein teures Hobby ... Oder: Es muss ja noch nicht mal
besonders teuer sein ... Oder sie haben einfach wenig
Geld ... dann kann Theater ja schnell teuer... und ... ja:
da gibt es ja auch noch andere wichtige Dinge, die
man ...
Pause
Pause
BILD 2 – IRRTUM EINS
Während des Monologs bauen Bühnentechniker die
Musicalkulisse auf:
Raubtierkäfige.
Eine große Showtreppe.
Fackeln.
Eine schmierige Gasse in fadenscheinigem Licht im
England der Industrialisierungszeit.
Ein Gerichtssaal.
Eine Flusslandschaft mit deutschen Weiden, die in der
Ferne gefällt werden, um eine kulturpessimistische
Pardon –
Bei meiner Arbeit an dem Musical zu dem Scheitern an
dem Musical zu Fritz Haarmann habe ich zwei Irrtümer,
die ich als Autor gemacht habe, für mich persönlich aufdecken können.
Ich beanspruche nicht, dass Sie meine Meinung über
diese Irrtümer teilen. Das ist für mich, und auch überhaupt ganz grundsätzlich nicht so wichtig – bzw. sogar
im Sinne der Sache kontraindikativ, das werde ich noch
zeigen. Von mir aus können Sie den ganzen Abend mit
verschränkten Armen dasitzen. Also beziehungsweise
... das klang jetzt vielleicht ... ein bisschen hart ... ich
möchte nicht von Anfang an einen Keil zwischen uns
treiben, ich möchte ja, dass wir uns verbrüdern. Ich
wünsche mir ja das genaue Gegenteil: Offenheit und
gute Stimmung und dass wir gemeinsam das Schöne
am Menschen feiern, und das menschliche Projekt
überhaupt, nachdem so viel schlechtes darüber gesagt
und geschrieben wurde. Aber ich sage nur: Das wäre
schon okay.
Ich finde es jetzt nicht wichtig oder so, dass Sie mit mir
einer Meinung sind ...
Ist man ja am Ende dann sowieso nie wirklich ...
Pause
Gut.
Also:
Lied über den ersten Irrtum:
Irrtum Nummer 1
IrrTum
IrrTum
Irr Tum Nummer 1
Pause
Ich beanspruche lediglich, dass Sie mir zuhören. Und
dafür sind Sie ja schließlich da, dafür haben Sie ja – so
seltsam das auch erscheinen mag, und wir leben in einer seltsamen Welt, zu einer seltsamen Zeit, an der man
sich Theaterkarten kauft, um jemanden wie mir zuzuhören – die Theaterkarte gekauft: um mir zuzuhören. Natürlich auch, um das gewaltigste Musical unserer Zeit zu
erleben, sich von ihm die Pyrotechnik und den Schmalz
um die Ohren hauen zu lassen als wär es der letzte Tag
auf Erden, aber in erster Linie, um mir zuzuhören. Ich
finde das schließlich auch alles sehr seltsam. Dass Sie
eine Karte kaufen, um mir bei meinen steilen Thesen
zuzuhören, meinen halbseidenen. Andere haben ja einen normalen Job, und alleine dadurch oft schon ein
reiches Sozialleben. Ich nicht, das kommt bei mir ja alles aus einem sehr einsamen Kopf, der jetzt über die
Jahre nicht unbedingt ... ich sag jetzt mal: klarer sieht.
Also nicht, dass ich jetzt ...
Also, dass Sie jetzt denken, das soll jetzt kokett wirken.
Oder ich will jetzt hier irgendwie meine Rolle glorifizieren ...
»einsamer Schriftsteller« oder irgendwie so ...
Ne – das ist ja oftmals in Wahrheit ... Also in Wahrheit
hat man, ja: eher ein richtig ernstes Problem ... und
bräuchte regelrecht ... Hilfe ... also ... manche brauchen
richtiggehend therapeutische Hilfe ... oder jemand der
sie mal so richtig zur Rede stellt, und das was die da so
machen nicht für Kunst missversteht, sondern sagt:
Also – jetzt erklär mir mal – was soll der ganze Scheiß.
Kannst du mir mal bitte helfen, die ganzen Widersprüche aufzulösen, vor die du einen da so stellst, wenn
man das da sieht (zeigt auf die Musicalkulisse und -requisite) und dich kennt?
Also wie gesagt: Das ist schon sehr seltsam. Macht genaugenommen überhaupt keinen Sinn und dann aber
eben wiederum total. Das werde ich noch versuchen zu
zeigen. Da bitte ich jetzt erst mal um ein bisschen Geduld.
Die Kunst – wie ich sie jetzt mal nenne – hat jetzt auch
andere Aufgaben als zu langweilen, ja: sie ist reich an
Aufgaben, es sind Aufgaben aller Couleur: Sie soll belehren, oder aufklären. Uns die bürgerlichen Masken
runterreißen, oder den Spiegel der Wahrheit vorführen.
Sie soll sich gut in Galerien machen, und eine PDFschmückende Strahlkraft haben für das Bewerben für
Stipendien im In- und Ausland. Aber ihre vornehmlichste und allerwichtigste Aufgabe ist es zu langweilen.
Pause
Sie mögen mir widersprechen und das ehrt Sie, Ihr
Glauben an die Kunst – wie ich sie jetzt mal nenne –
aber ich bitte Sie mich zu Ende anzuhören.
Also: Die Grundsatzfrage – das kann man schon sagen –
ist:
Betrifft uns das oder betrifft uns das nicht?
Das ist die immanente, sozusagen, die über dem Kunstwerk schwebende Frage, die alle stellen. Der Betrachter. Der Kritiker. Ja – auch der Künstler. Sie messen das
Kunstwerk häufig an dieser Frage.
Pause
Ich sage Ihnen: Kunst – wie ich sie jetzt mal nenne –,
die uns immer nur mit dem in Kontakt bringen soll, was
uns betrifft, dem, was also sozusagen gesellschaftlich
relevant ist, die betrifft uns in Wahrheit nicht.
Denn die Kunst, die uns in Kontakt bringen soll, mit dem
was uns betrifft, und mit dem was gesellschaftlich relevant ist, die kann das ja nur auf eine Art und Weise tun,
die uns bereits bekannt ist.
Sonst könnte sie uns ja gar nicht betreffen.
Und wäre also auch nicht gesellschaftlich relevant.
Pause
Räuspern
Ich merke, wie sich die ersten Widerstände regen. Aber
glauben Sie mir. Wir sind Freunde. Wir sind auf einer
Seite. Wir sind hier, um das Schöne im Menschen zu
feiern und unsere Kräfte freizusetzen.
Lassen Sie mich bitte zu Ende erklären.
Pause
Pause
Knapp gesagt: Es gibt zwei Arten von Kunst – wie ich
sie jetzt mal nenne –
1. Kunst, die uns betrifft.
2. Und Kunst, die uns nicht betrifft.
Pause
Das ist jetzt zugegebenermaßen erst mal ziemlich grob
und lässt sich auch noch mal unterscheiden:
»Kunst, die uns noch nicht betrifft«.
»Kunst, die uns nicht mehr betrifft«.
Und so weiter und so fort. Aber gestatten Sie mir für
eine Sekunde mal ganz undeutsch und auch unakademisch zu sein und alles erst mal ganz grob zu skizzieren – ohne den Anspruch von übergroßer Konsistenz
oder Vollständigkeit. Haben wir eh nicht genug Zeit für.
Denn das hier ist das große Haus und man hat mir gesagt, ich habe maximal sechs Stunden Zeit.
Pause
Ich spreche jetzt nicht von Informationen.
Informationen sind hier nicht der Punkt.
Kunst – wie ich sie jetzt mal nenne – konfrontiert uns
natürlich ständig mit Informationen, die wir nicht kennen, noch nicht kennen, oder die wir kannten aber vergessen haben und die wieder in Erinnerung gerufen
werden. Und da unsere Aufmerksamkeit ein rares Gut
ist, vielleicht das rarste und vermutlich auch das wichtigste heute – das sagen zu mindestens die Medien­
expertenarschlöcher im Fernsehen, die uns erklären,
was so Sache ist, wie wir sie verstehen sollen, Mutter
Zeit – muss um den Platz in unserer Wahrnehmung gekämpft werden.
Und das ist auch in gewisser Hinsicht gut so:
Informationen zum Syrienkonflikt zum Beispiel. Oder
zum Regenwald. Oder zur Gewalt an deutschen Schulen. Das sind natürlich wichtige Informationen.
Aber ist es Sache der Kunst, uns diese zu geben?
Keine Ahnung ...
Foto: Katrin Ribbe
30.31
Bühnenarbeiter (mit dem Skelett des Elefantenmanns):
Wo soll das hin?
Erstmal da rüber.
Bühnenarbeiter: Zu den Bärenfallen?
Ne – da hinten zu Jean d’Arcs Scheiterhaufen.
Die Kunst – wie ich sie jetzt mal nenne – ist es und will
es von uns.
Die Kunst – so ehrenhaft sie auch sein mag –, die uns
betrifft, die arbeitet nämlich nicht daran, dass wir auf
etwas aufmerksam gemacht werden. Die arbeitet auch
nicht daran, dass wir etwas bearbeiten – gesellschaftlich – oder so.
Nein: sie arbeitet daran, dass wir etwas vergessen.
Räuspern
Aber ich möchte mal anmerken, dass das Informationen
sind, die wir von überallher beziehen können. Informationen darüber, wieviele Hungertote es gegeben hat im
letzten Jahr zum Beispiel. Wie groß der Rüstungsetat ist.
Wie groß die Zahl der Flüchtlinge ist. Und so weiter, die
holt man sich doch am besten aus Medien, wo man
dann noch so dreimal nachlesen kann, was anstreichen
oder was rauskopieren kann.
Das ist doch die beste Aufnahmeart für Informationen.
Betrifft uns das?
Ja – es betrifft uns.
Macht es uns betroffen?
Ja – es macht uns betroffen – und ich verwende dieses
Wort, Betroffenheit, ganz unzynisch und ganz wertefrei,
nicht so wie es heute allerorten und zu jeder Gelegenheit verwendet wird, als sein Gegenteil: Dem Heucheln
von Anteilnahme.
Ist das gut so?
Sicher ist das gut so.
Aber jetzt?
Jetzt haben wir die Informationen.
Was jetzt?
Was kommt danach?
Was machen wir mit diesen Informationen.
Das ist doch die Frage.
Sie sagen: Die Kunst – wie ich sie jetzt mal nenne – hat
ja die Kraft und die Möglichkeit, um auf was aufmerksam zu machen.
Dann sind wir aufmerksam
Empört
Und betroffen.
Nis-Momme Stockmann
Was aber kommt nach dem erstaunten Aufmerksamgewordensein, der Empörung und der Betroffenheit – und
es ist mir wichtig festzuhalten: Ich verwende diese
Worte ohne den geringsten Anflug von Negativität oder
Zynismus.
Ich kann Ihnen sagen, was dann kommt.
Das große Vergessen.
Nicht weil wir ignorant und selbstsüchtig sind.
Wir sind nicht das Problem.
Wir haben ja die Karte gekauft, um uns mutig dem Problem zu stellen.
Bühnentechniker: Der Chor der Bürger aller Facetten
ist jetzt da.
Danke. Sehr gut.
Anderer Bühnentechniker: Der Chor der korrupten Politiker auch.
Super.
Ich möchte zwei Dinge konstatieren:
1. In keiner Gesellschaft zu keiner Zeit war man so
informiert über jegliche ihrer Vorgänge: Die
Skandale. Die Missstände. Die dunklen Winkel.
2. In keiner Gesellschaft hatte das so eine geringe
verändernde Kraft.
Die Kunst soll uns versöhnen. In Frieden bringen. Uns
beschwichtigen.
Aber die soll uns nicht, wie ein gängiges Missverständnis mit der Kunst – wie ich sie jetzt mal nenne – aussieht, was Neues erzählen und schon gar nicht was
Neues, das auf irgendeine Art kontrovers oder irgendwie transgressiv ist.
Fangen wir mal klein an. Sagen wir mal zum Beispiel,
ich stelle mich jetzt hier hin und erkläre:
Spanien ist ein mieses Scheißland und die Spanier sind
dreckige Schurken.
Das waren jetzt nur Beispiele. Ich liebe Spanien und
Spanier finde ich im Grunde total okay. Aber sie hätten
schon schön geguckt, wenn ich Ihnen jetzt die Geschichte erzählt hätte davon, was für ein mieses Scheißland Spanien ist. Sie würden nichts davon hören wollen, dass Spanien ein mieses Scheißland ist – und
verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will es auch gar
nicht erzählen, dass Spanien ein mieses Scheißland
ist – aber ich glaube, wenn ich das finden würde, dass
Spanien ein mieses Scheißland ist, dann würde es mir
viel mehr bringen, mich damit auseinanderzusetzen, indem ich sage: Ich habe den Eindruck Spanien ist ein
mieses Scheißland, als Ihnen und mir vorzugaukeln,
dass das Problem des Rassimus bei denen da draußen
liegt, den Faschisten und Rassisten dieser Welt, die den
Rassismus bewirken oder praktizieren, das gesell-
schaftliche Problem, bei dem man von »uns« spricht und
von »wir« und das »wir« davon betroffen ist, und das es
»uns« gelingen muss, einen Weg damit zu finden.
Wenn ich mit dem Finger auf die Faschisten und Rassisten dieser Gesellschaft zeige, wenn ich auf den Rassimus »da draußen« aufmerksam mache, dann beschwichtige ich den konkreten Rassismus in mir.
Aber vielleicht möchte ich ja, um weiterzukommen,
auch mit meinem konkreten Rassismus in Kontakt kommen, statt mit dem gesellschaftlichen.
Und vielleicht sollte ich mir im Theater nicht die Geschichte davon erzählen lassen, wie gut es ist, dass ich
nicht so rassistisch bin wie die »da draußen«.
Dass ich eben – Gott sei Dank – kein Rassist bin.
machen, die man tief im Gedärm spürt.
Ja – das kann die Kunst.
Also: Könnte sie.
Pause
Räuspert sich
Ich bin nämlich total und in ganz vielen Punkten ein
Rassist.
Ich finde zum Beispiel, dass die türkischstämmigen Mitbürger in Berlin-Neukölln sich immer besonders unfair
im Bus verhalten.
Das ist im Grunde rassistisch: so zu generalisieren.
Und es ist eine grundsolide, ganz konkrete Aussage.
Nicht irgendwas »da draußen« sondern eine konkrete
Mutmaßung oder Einstellung, hier drinnen, in diesem
Theatersaal.
Das war jetzt nur ein kleines Beispiel. Ich bin an so vielen Orten und Winkeln meines Geistes rassistisch und
faschistisch und reaktionär und manchmal regelrecht
strunzdumm. So sehr, dass mich erstmal gar nicht der
gesellschaftliche Rassismus »da draußen« interessiert,
also auch: schon, als Zeitungsleser und als Gymnasiast
vielleicht, aber es interessiert mich, was man in den
konkreten Bezügen, die man zu ihm hat, gegen ihn tun
kann, oder viel weniger: wo er überhaupt ist.
Aber nicht in der scheiß Kunst, der saublöden, der sogenannten, da interessiert er mich nicht. Mich interessiert
mein konkreter, mit meinem Kadaver in diese Theaterräume hineingeschleppter Rassismus.
Und auf den immer nur mit dem Finger zu zeigen, taugt
nix.
Man muss da zu neuen Kulturtechniken finden. Man
kann nicht einem hochadaptiven System da draußen
immer mit den selben alten Kulturtechniken hier drinnen hinterherhinken.
Man kann zum Beispiel mit einem Musical frenetisch
das Ende des persönlichen, ganz konkreten Rassismus
feiern. Ihn hier drinnen lokalisieren und bearbeiten,
statt immer nach irgendwas »da draußen« zu suchen.
Und man könnte das, statt mit einem Ernst und einem
zeigelustigen Zeigefinger mit Champagner oder einem
schönen Birnensaft und Pyrotechnik und Bässen
Die Kunst ist sich nicht zu blöd, in ihrer Selbstrechtfertigung immer wieder längst obsolete Kulturtechniken
abzuschöpfen.
Entschuldigen Sie den ganzen Hirnspagat und die
ganzen Verwicklungen. Aber so ist das eben in unserer
Gesellschaft. Ohne Hirnspagat und Verwicklungen und
komplexen Kulturtechniken ...
Bühnentechniker: War das schon das Stichwort?
Nene – noch nicht.
Bühnentechniker: Ich dachte das Stichwort ist »das
kann die Kunst«
Ja – aber das hat sich jetzt so einfach ergeben.
Bühnentechniker: Ah ...
Bühnentechniker: Wohin mit den Gummihühnern und
Nerzmänteln?
Hinterbühne ... ist dem ganzen kaum noch beizukommen.
Aber dafür haben wir Flatscreens und sprechende ...
Autos ... oder so.
Wenn ich vom Weiterkommen spreche, dann meine ich
damit einen ganz zentralen Widerspruch den es aufzulösen gilt, wenn wir weiterkommen wollen mit der Gesellschaft, wenn wir in irgendeine Form von Postkapitalismus finden wollen.
Denn der Kapitalismus – wie ich ihn jetzt der Einfachheit halber mal nenne – ist ein hoch adaptives System.
Die Kunst – wie ich sie jetzt mal nenne – nicht.
Sie verwendet die selben Strategien, die schon in den
Zeiten Goethes alt waren.
Meinen Sie das hilft uns: Idealisierter Lokalimus und
linke Nostalgie? Kleinkommunen und Bannerschwenkerei?
Das hilft (außer dem aus der Warte psychologischer Gesundheit betrachteten hoch zweifelhaften Selbstwert)
niemandem.
Warum nicht?
Weil man nichts angreift.
Weil es da halt auch nix anzugreifen gibt.
Ein Netzwerk hat kein Zentrum.
32.33
Man ist mittendrin.
Damit präsentiert sich die dringend benötigte politische
Linke leider als eine eher abschreckende, die Zeichen
falsch lesende Personengruppe.
Die Linken (zu denen ich mich auch zähle) hinken mit
ihrer Adaptionsunfähigkeit und ihrem hilflosen nostalgietrunkenen Vokabular einer hochadaptiven Welt hinterher, die sich ihrer sogar bedient.
Statt an einer Idee von Zukunft zu arbeiten, heulen sie
einer Vergangenheit hinterher, die so nie stattgefunden
hat.
Und diese Gegenbewegung ist nur eine weitere Spielart
des Kapitalismus.
Mehr Selbstbeschwichtigung als irgendwas.
Und so auch der lange Arm des Kapitalismus:
Seine kapitalismuskritische Kunst.
Sie nehmen die Kunst in Schutz und das ehrt sie, dass
Sie die Kunst als ehrenhaft verteidigen. Und ich gebe
auch zu: die Kunst war ja auch mal was ...
Die Frage ist aber:
Verhält sich die Kunst heute so, dass man sie ehren
sollte?
Lied:
Was machen Sie mit dem gesellschaftskritischen
Roman des zornigen jungen Mannes?
Verbieten Sie ihn?
Nein nein nein
Was machen Sie mit den Schriften der Anarchisten?
Verbieten Sie sie?
Nein nein nein
Was machen Sie mit dem jungen Streetartkünstler?
Verbieten Sie ihn?
Nein nein nein – Sie machen
sie viel effektiver
Undschädlich
Sie werden
Pflichtstoff
an deutschen Gymnasien.
Pflichtstoff
an deutschen Gymnasien
Pflichtstoff
an deutschen Gymnasien
Bühnentechniker: Die Schweinehälften: Catering oder
Ausstattung?
Frag mal den Choreographen.
Bühnentechniker: Choreograph?
Werner
Bühnentechniker: Ach so
Die Kunst.
Kunst Schmunst.
Was hat sie jemals für uns getan?
Die – erlauben Sie mir die Bemerkung – scheiß Kunst.
Die miese Dreckskunst, die eitle. Wos ja dann am Ende
des Tages auch nur ums Ego und den billigen Effekt
geht. Mal auf einer Bühne stehen und jemanden beschimpfen und einen schönen Batzen Geld verdienen,
ein nettes Ruhekissen, so ein Batzen mit Gesellschaftskritik verdientes Geld, oder symbolisches Kapital, symbolische Pinke und Knete, ja, das geht, schockieren und
sich im Grunde selbst feiern, was angreifen, mit dem
Zeigefinger zeigen und was angreifen, das kann die
scheiß Kunst, die dreckige, miese Kackkunst, die sich
hier in den Chroniken des Anarchismus bräunt, als wären sie ein schöner Spanienurlaub, anprangern und beschimpfen.
Aber es ist einfach, sich in den Chroniken des Anarchismus zu bräunen, als wären sie ein schöner Spanien­
urlaub, anzuprangern und zu beschimpfen.
Das kann die dreckige alte Scheißkunst, die nach Kot
stinkende.
Was anderes ist es, das Schöne im Menschen zu feiern.
Nach vorne zu sehen.
Alternativen auszudenken für ein langsam alternativlos
werdendes System, das alle anderen Systeme inkorporiert.
Wie die Borg bei Star Trek. Ja – die Borg bei Star Trek
sind die perfekte Kapitalismuskritikparabel. Da steht die
Kapitalismuskritik in Reih und Glied mit Kulturtechniken wie der Chormusik und der Fußball-Weltmeisterschaft.
Uns belehren oder aufklären oder uns die bürgerlichen
Masken runterreißen, das ist ja einfach, das kann ja jeder.
Kann ich auch.
Ich kann mir selbst die Hucke volllügen und mir sagen:
Mir geht es um die Gesellschaft. Wenn es am Ende des
Abends dann doch nur um mich geht und mir die Gesellschaft eigentlich scheißegal ist, halt irgendwas »da
draußen«, was fremdes, was abstraktes ist. Wenn es am
Ende dann doch nur um meine schnöde Person geht,
das einzige, was nicht irgendwie »da draußen« ist.
Um mein schnödes Geld.
Und meine schnöde Träne.
Wie ich dastehe.
Wenn das einzig Konkrete an dem Vorgang »ich« bin.
Und der Rest ist irgendwo »da draußen«.
Fragen Sie mal den Penner, was so sein Problem ist.
Die Gesellschaft?
Das System?
Seine Probleme sind ja nicht abstrakt.
Sie sind konkret.
Sie abstrakt zu machen, heißt sie zu nivellieren.
Heißt, von sich wegzuverweisen.
Heißt auf Zusammenhänge zu verweisen, die – sobald
begriffen – längst schon Schnee von Gestern sind.
Wenn ich jetzt sage:
Der Kapitalismus gibt mehr Geld für die Kritik am Kapitalismus aus als kleine Länder für ihre Rüstungsin­
dustrie ... ich lasse das mal kurz stehen ...
Dann ist das vermutlich nicht wahr.
Da wo ich gerade bin und schreibe gibt es kein Internet.
Kann das nicht überprüfen.
Aber es ist sicher fast wahr!
Oder was ähnlich Schockierendes ist wahr.
Und das betrifft Sie. Und das ist ja das Problem. Es betrifft Sie und ist eine Wahrheit, und man sagt »ah ja« und
in diesem »ah ja« steckt ein »bitte weiter«. Wir können
hier doch nur immer zu irgendwas »ja« oder »nein« sagen, zu dem schon längst »ja« oder »nein« gesagt wurde.
Wir können hier doch nur noch längst aus der Gesellschaft herausaltern.
Die Frage ist, wohin das führt, eine Kunst, die uns immer betreffen soll? So eine Kunst – wie ich sie jetzt mal
nenne –, die uns betreffen soll, die sagt uns, wer wir
sind. Aber die Kunst sollte uns nicht zeigen, was wir
sind, das wissen wir ja längst, sie sollte uns zeigen, was
wir vielleicht irgendwann mal sein könnten.
Und das tut sie nicht die miese Dreckskunst, die schmierige.
Sie sollte uns das zeigen, was uns nicht betrifft oder
noch nicht betrifft.
Statt immer nur was zu beschimpfen.
Miese nach Eiter riechende Scheißkunst.
Ich schreibe dieses Theaterstück. Über den Kapitalismus. Es ist sechs Stunden lang.
Das Theaterstück sagt:
Der Kapitalismus ist scheiße.
Das Theaterstück sagt:
Ausbeutung ist scheiße.
Das Theaterstück sagt:
Rassismus ist scheiße.
Das Theaterstück sagt:
Die Kritik am Kapitalismus ist scheiße.
Was bringt das?
Das ist ja nur eine Art sich mit dem eigenen Kapitalismus, mit dem eigenen Rassismus, mit der eigenen falschen Kapitalismuskritik zu versöhnen.
Alles, was uns betrifft, soll und wird uns ganz entschieden in Ruhe lassen.
Das ist ein Irrtum, den ich ganz lange mit der Kunst –
wie ich sie jetzt mal nenne – gemacht habe.
Kunst, die uns betrifft, ist nicht politisch.
Im Gegenteil. Sie ist antipolitisch. Sie ist der langsame
Tod des Politischen.
Sie ist repräsentativ für das, was als politisch gilt. Sie ist
die Sackgasse des Politischen.
Sie ist ein gesellschaftliches Ventil.
Sie ist der Ablasshandel.
Die Selbstbeschwichtigung.
Sie ist so pleite als Ehrending, dass jemand, der sie
nicht mehr versteht, sich nicht mal mehr traut, das zu
sagen.
So sehr hat sie uns geblendet mit der Behauptung ihrer
Ehrenhaftigkeit.
Und so sehr lassen wir uns von ihr blenden.
Von der miesen Scheißkunst.
Dem Knecht, dem Büttel, dem Wasserträger der herrschenden Umstände.
Die Kunst meint ja immer nur irgendwas »da draußen« –
aber sie meint selten uns hier drinnen. Als konkrete
Wesen, zum Beispiel hier im Theater. Die meint uns immer nur als Leute, die was Abstraktes meinen über irgendein Abstraktes »da draußen«, aber nie in einem
konkreten Kontext, in einer Situation, die konkret existiert.
Und kurz gesagt: das Gemeine über das »da draußen« –
das bringt halt nix.
Und damit meine ich jetzt nicht nur Effekte und Vorzeigbares, sondern auch – erlauben Sie mir das Wort zu benutzen – für den Diskurs.
Der – erlauben Sie mir das Wort zu benutzen – Diskurs
verbleibt unangetastet.
Oder um ein schönes altes Wort zu benutzen:
Gefällig.
Auch wenn ihm was total ehrenhaftes anhaftet,
Wie »Rassismus ist scheiße«,
Dann reproduzieren wir immer nur wieder die selben
Dinge auf die selbe Art.
Wir schenken einer Aussage, die uns betrifft – »Rassismus ist scheiße« zum Beispiel – ein Theaterstück. Auf
diesem Wege verabschieden wir nicht den Rassismus,
wir helfen dem Rassismus auf die Beine.
Das gilt es zu verstehen.
Wahrheit Nummer 1:
Kunst, die uns betrifft, ist langweilig. Sie soll uns in
Ruhe lassen mit dem, was uns betrifft. Statt die Widersprüche aufzulösen, soll sie machen, dass wir es in ihnen aushalten. Statt kritisch zu überprüfen, soll sie mit
genau diesem Etikett, das Verweilen in den Umständen
ermöglichen.
(mit großem Pathos) Wenn Kunst wirklich was ändern
würde – wäre sie verboten.
Dass wir die Kunst ehren und schätzen und wichtig finden, ehrt uns. Aber es ist nicht das Ergebnis der Bemühungen der Kunst. Es ist eher so die Phantasie, die wir
von Kunst haben. Wir denken uns die Kunst ehrenhaft
und wichtig.
Die ist aber überhaupt nicht ehrenhaft, sondern im
Grunde total eitel und einseitig.
Sie legt sich immer nur ins gemachte Bett.
Die Kunst ist pleite.
Also: Sie ist reicher denn je.
An Moneten.
Und das ist ja auch ein Teilgrund, warum sie pleite ist.
Als Ehrending.
Lied:
Irrtum Nummer 2
IrrTum
IrrTum
Irr Tum Nummer 2
Irrtum Nummer 1 ist daher:
Kunst, die uns betrifft, ist politisch.
Pause. Räuspern
(leise) Das ist von Banksy. Also mit Graffiti. Statt mit
Kunst ...
Lied:
Dies hier ändert nichts
Es ändert mitnichten –
Irgendwas an den Geschichten
Ändert nichts an den –
Problemen
Vor den wir stehen
Dies hier ändert nichts
Setzt nichts ins andre Licht
Nimmt nichts hart ins Gericht
Leistet kein Verzicht
Zahlt nicht
(Oder schlecht)
Gibt nicht
(ist nicht gerecht)
Nimmt nicht
(Ist noch nicht mal echt!)
Dies hier ändert nichts
Es ändert mitnichten –
Irgendwas an den Geschichten
Ändert auch nicht an den –
Problemen
Vor den wir stehen
Irrtum Nummer 2: Die sogenannte Kunst hat die Kraft
irgendwas zu verändern.
*
BILD 3 – IRRTUM ZWEI
Die Turner und die Tänzer dehnen sich.
Die Rhönräder werden hereingerollt.
Die Ringe werden entzündet.
Die Kanonen werden geladen.
Die Sicherheitsschleusen geschlossen.
Die Haie werden über eine Rutsche in die Bassins eingelassen.
Der zweite Irrtum ist im Grunde kein Geheimnis.
Und auch ich habe es, selbst in meiner größten Verstiegenheit, zumindest immer geahnt.
Ich denke aber, es ist trotzdem gut, es gleich von vornerein klarzustellen.
Wahrheit Nummer 2: Die größte Relevanz ist der
kleinste gemeinsame Nenner ist die Reproduktion des
Ewiggleichen ist der Impuls zum Verharren, zum Stillstand.
*
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HUMOR UND HERRSCHAFT
34.35
IM RAHMEN UNSERER REIHE WELTAUSSTELLUNG PRINZENSTRASSE SPRACH ILIJA TROJANOW MIT DEM KABARETTISTEN FRANK-MARKUS
BARWASSER. BARWASSER WAR VON 2010 BIS 2013 IN SEINER ROLLE ALS FRÄNKISCHER HERRENHANDTASCHENTRÄGER ERWIN PELZIG
GASTGEBER DER ZDF-KABARETT-SENDUNG NEUES AUS DER ANSTALT, GEMEINSAM MIT URBAN PRIOL. SEIT 2011 MODERIERT ER, EBENFALLS
IM ZDF, DAS SATIRISCHE TALKFORMAT PELZIG HÄLT SICH.
Foto: Katrin Ribbe
INTERVIEW: ILIJA TROJANOW
Ilija Trojanow, Frank-Markus Barwasser
Erwin Pelzig erscheint auf der Bühne, mit gewohntem
Hütchen und Herrenhandtasche----------------------------------------------------------------------------Ich freu mich sehr, dass mich der Herr Trojanow in diese edlen Räume eingeladen hat. Ich stelle mich gerne
Ihnen und ihm und wenn es sein muss auch der Wirklichkeit dieser Welt, noch lieber würde ich mich der
Wahrheit stellen. Aber ich bin vorsichtig geworden mit
der Wahrheit. Es werden uns so viele Wahrheiten angeboten, sogar die Deutsche Bank bietet Wahrheiten
an, die Deutsche Bank, die inzwischen mehr Besuche
von Staatsanwälten hat als Kundenkontakte. Überall
Wahrheiten, egal ob es um die NSA geht, die Ukraine,
oder womöglich um den Islam. Mein Gott, der Islam! Da
gibt es die Wahrheit der Islamhasser, die sagen: Das ist
eine bösartige Religion. Und es gibt die Wahrheit von
Millionen friedlicher Muslime, die sagen: Schuld ist
nicht der Islam, Schuld sind die Islamisten. Es gibt die
Wahrheit von Jürgen Todenhöfer, der sagt: Schuld ist
George W. Bush, dieser Verbrecher, der wichtigste Ge-
burtshelfer des Islamischen Staats. Und es gibt die immer gleichen Idioten, die sagen: Schuld sind die Juden,
weil die Juden immer Schuld sind. Wie soll denn da
einer wie ich die Wahrheit finden, wo ich doch selbst
nicht wahr bin, sondern nur erfunden. Da halte ich es
lieber mit dem französischen Schriftsteller André Gide,
der hat einmal gesagt: »Glaube denen, die die Wahrheit
suchen und zweifle an jenen, die sie gefunden haben.«
Schöner Satz. Aber ich erleide bei meiner Wahrheitssuche ständig schwerste kognitive Dissonanzen. Ich
nehme an, dieser Begriff ist gerade in einer Stadt wie
Hannover geläufig. Eine Stadt, die es fertig bringt, Hannah Ahrendt und den Pinkelprinzen hervorzubringen.
Eine kognitive Dissonanz erleidet der Mensch, wenn er
zu einem Thema mehrere, sich gegenseitig ausschließ­
ende Erkenntnisse oder Meinungen hat. Und wenn der
Mensch nicht weiß, was er denken und tun soll, findet
er das blöd, das mag er nicht, darum muss er sich diese
Widersprüche so hinbiegen, dass es mental wieder
passt. Man muss sich praktisch alles so lange schön re-
den, bis man seine eigene Lüge für die Wahrheit hält.
Dann hat man die kognitive Dissonanz aufgelöst. Was
hab ich neulich gelesen: »Jeder Deutsche hat 82.000
Euro Nettovermögen.« Schauen Sie mal nach morgen!
Und dann fragen Sie sich, wer Ihre 82.000 gerade verjubelt. Natürlich sind das Durchschnittswerte, das weiß
ich auch, bin ja nicht blöd. Aber was sagen diese
Durchschnittswerte aus? Nichts. Sie sollen verschleiern
und vernebeln, dass es Millionen Deutschen überhaupt
nicht gut geht und erst noch richtig schlecht gehen
wird. Vor allem, nachdem Gerhard Schröder die gesetzliche Rentenversicherung der privaten Versicherungswirtschaft und Leuten wie Carsten Maschmeyer zum
Fraß vorgeworfen hat. »Jeder Deutsche hat 104-mal Sex
im Jahr« – da würd ich gern mal wissen, wer da unter
meinem Namen unterwegs ist. Man kann sich alles
schönreden. Und manche Dinge muss man sich einfach
schönreden, zum Beispiel unsere repräsentative Demokratie. Ich bin ein großer Freund der repräsentativen
Demokratie. Aber ich bin auch ein Freund der direkten
Demokratie. Bei der erleide ich allerdings gerade wieder schwerste kognitive Dissonanzen. Wenn ich diese
Direkt-Demokraten sehe, die unter der Pegida-Flagge
durch Deutschland marschieren und das christliche
Abendland retten wollen, und dann ausgerechnet auch
noch in Sachsen, wo gerade mal 25 Prozent aller Menschen einer Religion angehören, da lach ich ja! Und das
Ganze unter Mitwirkung von Leuten wie Lutz Bachmann. Ich bin schon für Resozialisierung, aber muss so
einer gleich das Abendland retten? Sollte so jemand
nicht erst mal im offenen Vollzug Vogelhäuser zusammenschrauben? Und die sagen, sie sind keine Nazis,
und ich glaube auch, sie sind keine Nazis, aber ich befürchte, wenn sie mehr über die Nazis wüssten, dann
wären sie welche. Was ist denn Pegida? Angst in einer
etwas unglücklichen Kombination aus Internetanschluss und Denkfaulheit. Und die Sehnsucht nach
einem gemeinsamen Feind. Das hält auch manche Ehe
zusammen: Wir haben uns nichts mehr zu sagen, aber
wir hassen die gleichen Leute. Dabei könnte Angst
auch was Gutes sein. Angst hat uns eigentlich immer
gezwungen, neue Wege zu suchen. Angst könnte uns
auch gefühlvoll machen und solidarisch. Uns zusammenrücken lassen. Deswegen, wenn Sie mal wieder
Angst haben, denken Sie daran: Angst ist nichts
Schlechtes. Nur wer die Hosen voll hat, sucht den frischen Wind.------------------------------------------------------------------------------------------------Pelzig geht ab und erscheint kurze Zeit später als
Frank-Markus Barwasser-----------------------------------------------------------------------------------Ich duze mich mit dem Pelzig, können wir das auch
machen? __BARWASSER Ja.
++++++++++++++++++++++++
Immer mehr Leute, auch junge Leute, beziehen ihre
Informationen aus Satire-Sendungen. Manche sagen sogar, dass das politisch kritische Denken, Reden, Aufrütteln inzwischen mehr im Haus des
Humors stattfindet als anderswo. Ist das so? __
BAR­WASSER Das hat natürlich mit veränderten Wahr­
nehmungsgewohnheiten zu tun. Der Anspruch des
Kabaretts ist ja immer, aufzuklären, Informationen zu
vermitteln. Aber das natürlich in einer unterhaltsamen
Weise. Für manchen Rezipienten sind die Informationen
leichter aufzunehmen und zu verarbeiten, wenn er zwischendurch lachen kann. Ich kriege auch oftmals Zuschriften von Menschen, die sich fragen, warum sie
bestimmte Informationen in einer Satire-Sendung erhalten und nicht in den Nachrichten.
++++++++++++++++++++++++
Und was ist deine Antwort darauf? __BARWASSER
Gut, ich recherchiere und suche, aber letztlich habe ich
bestimmte Informationen auch aus öffentlich zugäng-
lichen Quellen. Das kann jeder schaffen, wenn er will,
das ist nur anstrengender.
++++++++++++++++++++++++
Ich finde interessant, dass du das Wort »recherchieren« benutzt. Das heißt, du gehst eigentlich vor wie
ein Journalist. __BARWASSER Ich bin ja gelernter
Journalist. Und so arbeite ich bis heute. Journalistisch in
der Recherche.
++++++++++++++++++++++++
Es ist aber schon so, dass das Material dann zugespitzt wird. __BARWASSER Natürlich lebt die Satire
von der Zuspitzung und Verdichtung, auch von der
Übertreibung und Polemik. Der Unterschied zum reinen
Entertainment ist, dass das Entertainment keine Pointe
auslassen darf. Das Kabarett darf das schon. Ich würde,
wenn ich aus Zeitgründen vor der Wahl stünde »Pointe
oder Information« – wenn die Information wichtig ist –
eben auf die Pointe verzichten. Die Absurdität mancher
Ereignisse oder mancher Zustände verlangt gar keine
Pointe.
++++++++++++++++++++++++
Immer wieder wenn ich Kabarettisten deiner Klasse im Fernsehen sehe und dann am nächsten Tag
die Zeitung lese, erkenne ich viel deutlicher das
den Nachrichten innewohnende Satirische, Absurde, Makabere. Das ist doch auch eine Art Perspektive. __BARWASSER Ich versuche oft, Geschichten hinter den Geschichten zu finden. Nehmen wir als Beispiel
die Flüchtlingsthematik. Da sind wir uns ja einig, dass
das grauenhaft ist und dass die EU viel zu wenig tut. Da
gibt es einen Grundkonsens. Aber die Geschichte hinter der Geschichte ist interessanter. Zum Beispiel die
Geschichte des italienischen Tomatenmarks, das in
Ghana landet, von der EU subventioniert, und dort den
Tomatenmarkt zerstört. In Ghana stellen die Menschen
ihre Essgewohnheiten um, die frischen Tomaten bleiben liegen, der ghanaische Tomatenbauer schickt seine Leute heim, der Markt bricht zusammen. Die fliehen
übers Mittelmeer, landen in Italien, werden da von der
Mafia geschnappt und schuften jetzt auf den italienischen Tomatenplantagen. Die pflücken die Tomaten
für das Tomatenmark, das dann wieder in Ghana landet. Da hab ich dann als Pointe gesagt: »Halten wir fest,
das italienische Tomatenmark sitzt in Ghana und ghanaische Tomatenpflücker in Italien, vielleicht sind sie
sich auf ihrer Reise übers Mittelmeer ja begegnet.« Das
kann man als Pointe mache, aber im Prinzip braucht die
Geschichte keine Pointe mehr, weil sie so absurd ist.
++++++++++++++++++++++++
Könntest du erklären, wieso du die Figur des Erwin
Pelzig brauchst? Es gibt ja auch Kabarettisten, die
ohne Kunstfigur auskommen. __BARWASSER Es ist
die Brechung. Ich habe mir Kabarett immer sehr gerne
angeguckt, aber ich fand es oft auch anmaßend, wenn
da einer stand, gerade in den 70er-, 80er-Jahren im
schwarzen Rollkragenpullover, und mir Antworten geliefert hat. Diese Allwissenheit, damit habe ich gefremdelt. Und ich wollte noch irgendwas zwischen das Publikum und mich stellen, die Distanz wahren. So eine
Figur ist ja auch Schutz. Wenn ich mich irre, dann irre
nicht ich mich, sondern die Figur irrt sich. Aber in erster
Linie ist der Vorteil der Figur, dass ich übersetzen muss.
Ich muss Themen den Möglichkeiten der Figur anpassen und es muss trotzdem stimmen, was sie sagt. Pelzig
habe ich viel zu verdanken, weil ich manche Dinge
selbst erst durch ihn begreife. Pelzig ist auch eine
Art Wiedergutmachung am vielgescholtenem »kleinen
Mann«. Die sogenannten »kleinen Leute« auf der Bühne
werden ja oft als Trottel dargestellt, die reden Unsinn
und das schlaue Publikum sitzt unten und lacht sich tot
darüber, wie doof der da oben ist. Das ist aber nicht das
Prinzip der Figur Pelzig.
++++++++++++++++++++++++
Vorhin hast du ja sehr viel über Suchen und Finden
der Wahrheit gesprochen. Ist Pelzig auch eine
Figur, die vielleicht die Möglichkeit hat, die Suche
zu thematisieren? __BARWASSER So eine Figur kann
ja auch sagen: Ich bin ratlos. Ich hab noch keine Antwort gefunden. In so einer Figur wie Pelzig kann ich
auch mal zwei Minuten schweigend auf dem Stuhl sitzen und den Leuten sagen, dass ich gerade auch nicht
weiß, was ich denken soll. Dass ich ratlos bin. Und dann
wird’s still, zwei Minuten.
++++++++++++++++++++++++
Und dann? __BARWASSER Dann wird das Publikum
nervös und unsicher.
++++++++++++++++++++++++
Aber im Fernsehen machst du das nicht, oder? __
BARWASSER Wenn ich mal einen Gast hätte, wo es sich
anböte, würde ich das machen. Also, wenn man sich
wirklich nichts zu sagen hätte, dann würde ich jetzt
nicht so tun als ob, sondern mein Täschchen aufräumen
und sagen »Ja …« Ich hatte auch schon mal so einen
Gast, das war der Dobrindt von der CDU, der hat sich
einfach vollkommen verweigert und nur »Ja« und »Nein«
gesagt. Es war ein legendäres Gespräch, weil es eben
ein Un-Gespräch war. Sowas liebe ich. Ich mag es ja
viel lieber, wenn Leute nicht funktionieren. Da drehen
natürlich beim Fernsehen alle durch, aber ich mag es
sehr gerne.
Du hast ja öfter Politiker da. __BARWASSER Seehofer
war mal da und dann wollt ich von ihm wissen, wie
sehr es einen Menschen verändert, wenn er dem Tod
ins Auge gesehen hat. Der hatte damals ja diese schwere Herzmuskelentzündung. Ich wollte wissen, warum
man sich dann diesen Mörderjob noch antut. Das war so
zu Beginn der Finanzkrise. Und dann sagte der Seehofer: »Ja Herr Pelzig, so ist das, die, die gewählt sind,
haben nichts zu entscheiden und die, die entscheiden,
sind nicht gewählt.« Da war ich sprachlos. Wenn ich das
als Kabarettist sagen würde, würde man sagen: klischeehaft. Aber das sagte der Ministerpräsident des
Freistaates Bayern.
++++++++++++++++++++++++
Der muss es ja wissen. __BARWASSER Ja, und der hat
das auch nicht ironisch gemeint.
++++++++++++++++++++++++
Die Quintessenz ist: Nach der Herzmuskelerkrankung sagt er einige Tage die Wahrheit, bis er wieder zum Alltag übergeht. __BARWASSER Mein Anspruch ist auch, dass es nicht immer eine angenehme
Plauderei wird. Ich will sie fordern. Aber grundsätzlich
bin ich da pessimistisch. Ich glaube nicht, dass Satire
wirklich gefährlich werden kann. Das ist ja der Grundvorwurf, der immer wieder ans politische Kabarett geht:
Ihr nehmt den Druck aus dem Kessel, systemstabilisierend. Ihr haut mal ordentlich drauf und seid aufklärerisch tätig und 300 Köpfe sitzen im Saal und nicken:
Genau so ist es, jetzt hat’s mal jemand gesagt. Und alles
bleibt, wie es ist.
++++++++++++++++++++++++
Wenn du glaubst, dass das systemstabilisierend ist
und du es aber offensichtlich für ein überwiegendes
Scheiß-System hältst, wieso machst du es dann? __
BARWASSER Naja, ich habe nicht gesagt, dass es systemstabilisierend ist, sondern, dass das der Vorwurf ist,
der uns gemacht wird. Auf lange Sicht glaube ich schon,
dass man da etwas bewirken kann. Aber nicht das Kabarett allein oder die Literatur allein oder das Theater
allein. Für mich ist es ein Erfolg, wenn ich nach der
Show mit Leuten spreche oder sie mir schreiben und
mir sagen, dass sie noch viele Gedanken beschäftigen.
Oder wenn Leute sagen: Das wusste ich nicht, find ich
sehr interessant, das Buch werde ich lesen – in der
Sendung stelle ich ja immer sehr gern Bücher vor.
++++++++++++++++++++++++
Du hast als Pelzig eine ganz spezifische Sprache,
eine Art subjektiven Idiolekt, der eigentlich gegen
die herrschenden Sprachen steht. Eine Sprache, die
hintenrum Skepsis produziert. Stell dir mal vor, es
gäbe Leute wie dich nicht, dann würden wir den
Herrschenden die Sprache vollkommen überlassen.
__BARWASSER Ich bin jetzt auch nicht so resignativ,
dass ich sag: Ich höre auf, das hat alles keinen Sinn. Ich
möchte mich nur nicht überschätzen in meiner Wirkung. Da hat das Kabarett dann doch ein Problem, es
zieht vor allem Zuschauer an, mit denen man grundsätzlich übereinstimmt. Ich möchte aber eigentlich nicht
die Überzeugten, sondern die anders Denkenden ver-
unsichern und ins Grübeln bringen. Künstlerisch greife
ich deswegen oft auf die Form des Fragens zurück. Ich
will weniger Antworten liefern als gute Fragen stellen.
Zum Beispiel, wenn jemand sinngemäß sagt, dass nicht
alle Flüchtlinge zu uns kommen können, und dabei akzeptiert, dass dann eben welche im Mittelmeer ertrinken, dann möchte ich nicht in Schnappatmung geraten
und ihn vors Schienbein treten, sondern nachfragen,
wie er das mit seinen sonstigen Idealen vereinbaren
kann.
++++++++++++++++++++++++
Mit den christlichen zum Beispiel. __BARWASSER
Zum Beispiel. Ich möchte mich eigentlich an die wenden, die so argumentieren und sie in die Enge treiben,
nur durch Fragen, ganz unaggressiv. Da hilft dann wieder die Figur. Der Pelzig darf ein Fragender sein. Der
darf auch ahnungslos sein.
++++++++++++++++++++++++
Darf Pelzig auch Menschen beleidigen, verletzen?
__BARWASSER Die Schmähung, die Provokation, wenn
es sein muss auch die Beleidigung sind Stilmittel, die im
Kabarett möglich sind. Wenn ich über Politiker spreche,
ist für mich der Maßstab: Würde ich das auch sagen,
wenn einer von denen in der ersten Reihe sitzt? Inhaltlich immer volle Schärfe. Persönlich aber hab ich das
nicht nötig.
++++++++++++++++++++++++
Glaubst du an eine Veränderbarkeit der Zustände?
__BARWASSER Über sehr lange Zeiträume: ja. Aber ich
glaube zum Beispiel, dass der Klimawandel enorme
geo­politische Konsequenzen haben wird. Die Militärs
bereiten sich darauf vor, die planen ganz anders, die
durchschauen das realistisch: Die Klimakriege des 21.
Jahrhunderts, die Absenkung von Standards, von sozialen, von humanitären. Wenn es um das blanke Überleben, von Staaten geht, wird sich keiner mehr an Regeln
halten. Und das ist jetzt nicht so, dass Apokalyptiker das
schreiben, sondern Militärs, die verschiedene Szenarien
entwickelt haben, wie es sich auswirken könnte. Der
Klimawandel kommt, die Konsequenzen kommen, da
bin ich mir ganz sicher, das ist voll im Gange. Dass dann
danach etwas veränderbar ist, das halte ich schon für
möglich.
++++++++++++++++++++++++
Was heißt denn realistisch? Doch nichts anderes,
als dass man in seinem perspektivischen Denken
vom Jetztzustand ausgeht. Es bedeutet, dass man
nicht den Mut, oder die Fantasie hat, sich vorzustellen, dass der Status Quo sich verändern wird. Denn
alle diese Analysen gehen natürlich davon aus,
dass die Machtverhältnisse so bleiben, wie sie heute sind. Sie erlauben ja gar nicht, die Machtverhältnisse radikal in Frage zu stellen. Insofern ist realis-
tisch für mich eher ein Synonym für fantasielos und
affirmativ. __BARWASSER Weil ich hinnehme, akzeptiere, dass es so ist.
++++++++++++++++++++++++
Genau. Und dann denke ich mir, kann es ja immer
nur schlechter werden. __BARWASSER Der amerikanische Finanzkonzern Blackrock verwaltet ein Kapital
von 4.700 Milliarden Dollar. Das ist über das zehnfache
des deutschen Bundeshaushalts. Das heißt, da hat ein
einfacher Investmentkonzern die zehnfache Kapitalmacht einer der größten Volkswirtschaften der Welt. Da
hat sich in der Machtverteilung etwas verschoben.
Gleichzeitig findet die Diskreditierung des Öffentlichen,
des Staatlichen statt. »Der Staat ist unfähig, der Staat ist
schlecht, privat geht vor Staat«. Ich weiß nicht, wie wir
diese Entwicklung zurückdrängen können. Bewusstseinsbildung.
++++++++++++++++++++++++
Jedes Mal, wenn man eine Konzentration von Macht
analysiert, ist die entgegengesetzte Frage: Was ist
Entmachtung und wie könnte sie aussehen? Das ist
der Beginn eines Optimismus. Ich habe ein tolles
Plakat in England gesehen, auf einem dieser roten
Doppeldeckerbusse, in welchem 81 Leute Platz haben und darunter stand: »81 Leuten gehört die Hälfte der Welt« Und meine optimistische Vision war:
Naja, das ist ganz einfach! Wir müssen nur diese 81
irgendwie gleich arretieren. Woran ich am meisten
leide ist, dass es zu viel Realismus gibt. Dass mir
ständig alle erzählen: Das geht nicht. Und wir begnügen uns. __BARWASSER Du setzt also Realismus
mit Resignation gleich?
++++++++++++++++++++++++
Wenn man einen Vorschlag zur humanen Lösung
eines Problems macht, einen Vorschlag zur Basisdemokratie oder sozialen Gerechtigkeit, dann hört
man als erstes: Das ist unrealistisch. Eigentlich ist
der Realismus nichts anderes als die Machtsprache
und ein Propagandamittel. Das sollten wir angreifen. Gerade, wenn wir bemüht sind, eine andere
Sprache zu etablieren. __BARWASSER Was ich auf
der Bühne mache, ist ja quasi das Infragestellen dessen,
was wir immer als gegeben annehmen. Insofern arbeite
ich nicht nur resignativ und beklagend. Aber es gibt mir
zu denken, was du da sagst. Dass man den Realismus
einfach übernimmt, ihn begrüßt. Davor muss man sich
wahrscheinlich hüten. Nur die Unzufriedenheit – als
kleinsten gemeinsamen Nenner – mit dem Publikum zu
teilen ist mir aber sowieso zu unheimlich. Zumal man
sich in der Ablehnung dessen, was besteht, einig ist,
aber keinesfalls in dem, was man dann möchte. Ich
habe mal etwas über »Goldman Sachs« gemacht. Das
war ein großer Erfolg, auch im Internet und dann kriegst
du aber plötzlich mit, welche Gemeinde sich da um diese Nummer versammelt. Das geht dann von ganz links
bis ganz rechts, auch die schlimmsten Verschwörungstheoretiker. Die einen greifen mich an, weil ich nicht
gesagt hab, dass die Banker alle Juden sind und die
anderen wegen einem anderen Punkt. Die Unzufriedenheit als kleinster gemeinsamer Nenner ist zu wenig. Das
Drängende ist, was wir danach wollen. Und da wollen
bestimmte Kreise etwas völlig anderes.
++++++++++++++++++++++++
In letzter Zeit führen wir ja auch wieder eine Diskussion über Grenzen des Humors. Wir hatten die
Sache mit den Mohammed-Karikaturen, Charlie
Hebdo und so weiter. In Bayern zum Beispiel gab es
ja auch immer wieder Humorverbote. __BARWASSER
Für Kabarettisten ist ein solches Verbot wie ein Bundesverdienstkreuz.
++++++++++++++++++++++++
Wir kennen das also durchaus auch bei uns. Es gab
vor ein paar Jahren auch ein Titanic-Cover, wogegen die katholische Kirche stark protestiert hat. Interessant an der Diskussion finde ich, dass wir auf
einmal so tun, als wäre bei uns grenzenloser Humor
erlaubt und nur die fanatischen Anderen kapieren
das nicht. Gibt es in deiner Branche überhaupt das
Nachdenken darüber, was die Grenzen des Erlaubten sind? __BARWASSER Jeder denkt für sich drüber nach. Es gab jetzt keinen Kongress der deutschen
Kabarettisten unter dem Motto: »Ist unsere Freiheit bedroht?«. Nach Charlie Hebdo habe ich mir auch Passagen aus meinem Programm nochmal angeschaut und
überlegt: Könnte das etwas auslösen? Allein, dass man
darüber nachdenkt, ist aber schon der Wahnsinn. Dann
wurde mir auch bewusst, wie wenig Mut unser einer
bislang brauchte, um auf die Bühne zu gehen. Jetzt aber
sagst du etwas zum Islam, hast eine Pointe, die missfällt
irgendwem und schon hast du ein Riesenproblem. Bei
Dieter Nuhr war es allerdings etwas anderes. Da fühlte
sich ein muslimischer Fitnesstrainer beleidigt und hat
Nuhr angezeigt. Das find ich in Ordnung, soll er eine
Anzeige machen, und dann gibt es ein Gericht, das sagt:
Kunstfreiheit, Satirefreiheit.
++++++++++++++++++++++++
Und wie findest du die Aussage von Nuhr, dass wir
alle Duckmäuser vor dem Islam sind, und dass die
Satire- und Redefreiheit gerade durch zu viel Toleranz abgeschwächt wird? __BARWASSER Der hat vor
allem Kollegen angegriffen. Aber von denen hat keiner
das Thema ausgespart. Deswegen haben sich auch
nicht so viele solidarisiert in der Situation.
++++++++++++++++++++++++
Aber würde das was bringen wenn wir alle sagen
würden: Jetzt beleidigen wir den Propheten, um zu
Foto: Katrin Ribbe
Foto: Thorsten Wulff
36.37
Ilija Trojanow, Frank-Markus Barwasser
zeigen, dass bei uns das Säkulare über dem Religiösen steht? __BARWASSER Ich fand es zum Beispiel
richtig, dass viele Tageszeitungen das Titelbild der entsprechenden Hebdo-Ausgabe gezeigt haben. Damit
man sehen konnte, worum es geht. Da finde ich Rücksichtnahme falsch. Ich finde es aber auch falsch, wenn
wir in einen Wettbewerb treten: Wer beleidigt den Propheten am Vortrefflichsten? Was das Kabarett angeht,
werde ich mich weiterhin äußern, fühle mich aber auch
nicht verpflichtet, mir etwas aufzwingen zu lassen. Ich
äußere mich inhaltlich dazu und auch sehr kritisch,
mach mich auch lustig über Islamisten und ihre Vorstellungen. Aber tatsächlich fühlen alle, dass sie konkret
bedroht sind.
++++++++++++++++++++++++
Trotzdem sagt die Tatsache, dass man bedroht
wird, wenig darüber aus, wo man die Grenzen des
Humors setzt. Kabarett sollte ja immer Opposition
sein. Nun sind die Moslems in diesem Land ein­
deutig nicht an der Macht, sondern im Gegenteil,
sie sind eine überwiegend machtlose Minderheit.
Wenn Nuhr Kabarett gegen den Islam in Saudi-Arabien machen würde: höchste Hochachtung. Aber in
Ländern wie Frankreich und Deutschland sind die
Moslems ja eher die Unterprivilegierten. Insofern
scheint es mir ein bisschen zu billig zu sein, sich
über sie lustig zu machen, ohne die sozialen und
politischen Zusammenhänge als Echoraum zu benutzen. Unabhängig davon, ob es die Bedrohung
durch Terror gibt, oder nicht. __BARWASSER Ich hab
vor einem Jahr versucht, mich intensiv mit dem Islam zu
beschäftigen. Und je mehr ich mich damit beschäftige,
desto unklarer wird es mir, was ich denken soll. Da ist
vieles interpretationsfähig. Insofern neige ich nicht
dazu, mich über die Religion an sich lustig zu machen,
eher vielleicht über Religionen generell.
------------------------------------------------------Redaktion: Hartmut El Kurdi--------------------------Transkription: Sarah Lorenz--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Mit freundlicher Unterstützung
DIARIO DE A BORDO DEL PRIMER VIAJE DE
ÄKSCHN GMBH AUS DEM SCHIFFSTAGEBUCH DER ÄKSCHN GMBH
38.39
AUSZUG AUS DER III. FRANKFURTER POETIKVORLESUNG
VON CLEMENS MEYER
Foto: Gaby Gerster
Der Schriftsteller Clemens Meyer war im Sommersemester 2015 gebeten, die
renommierten Frankfurter Poetikvorlesungen zu halten. Unter dem Titel Der Untergang der Äkschn GmbH hielt er fünf Vorlesungen über sein Selbstverständnis
als Autor, über die Bücher seiner Kindheit, amerikanische Filme und das Leben,
über Anarchie und Leidenschaft und über das Theater, dem er die dritte Vorlesung widmete. Ausgangspunkt ist eine Gesprächsreihe, die unter dem Titel Stallgespräche 2012 in Leipzig entstanden war und seitdem durch die Theaterrepublik marodiert. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Anfang 2012, Centraltheater Leipzig, DIE SENDUNG MIT DER MAUS oder IN THE HEART
OF DARKNESS heißt unser erstes Projekt. Johannes Kirsten, Dramaturg am legendären, aber untergangenen Centraltheater Leipzig (Centraltheater Leipzig 2008 bis
2013, ewiges Centraltheater) und Mitglied der ÄKSCHN GMBH und der GLORREICHEN
SIEBEN, die ebenfalls Mitglied der ÄKSCHN GMBH sind, Johannes Kirsten und ich
hatten eine Idee: eine Mischung aus TALK und THEATER schwebte uns vor, abseitige
Themen, aber LEIDENSCHAFTEN, absurder Talk, aber mit allem nötigen ERNST, mit
einem Hirnforscher und einem Pornodarsteller über die LIEBE reden, oder mit einem
Philatelisten stundenlang die LEIDENSCHAFT BRIEFMARKE ausloten, während ein
Männerchor singt ... aber wie beginnen? WAS KÖNNTE DER ANFANG SEIN? ---------Ich kam im Dezember 2011 aus Amerika zurück, wo ich 3 Monate in York in einem
Appartment saß und mit Hilfe eines Stipendiums größere Teile von »Im Stein« schrieb.
Eine dunkle Stadt im Herbst 2011, in der ich Uwe Johnson, den stillen Käpt’n der
ÄKSCHN GMBH in seinem Haus am Riverside Park besuchte, ihn um Beistand anflehte.
Ich bin seitdem nicht mehr bei ihm gewesen, ich fliege nicht gern, und die ÄKSCHN
GMBH lacht mich deswegen aus.-----------------------------------------------------
Clemens Meyer
Nach einer Weile bemerkte ich, Dezember Zwo-Elf, Januar Zwo-Zwölf, dass ich nicht
allein war in meiner Wohnung. Zuerst sah ich die Maus im Bad. Worauf ich ZUR FREUDE DER ÄKSCHN GMBH schreiend wie ein Weib auf die Kloschüssel sprang, die Maus
verschwand im Flur. Das nächste Mal war sie in meinem Bett. Ich hatte sie einige
Wochen nicht gesehen, hatte nur ihre KÖTTEL gefunden. SIE HATTE SICH IN MEINER
MATRATZE EINGENISTET. Erst dachte ich, SELTSAMER FALTENWURF MEINER HOSE, da
war sie schon in meinem Hosenbein, kreischend schlug ich um mich und sie entwich.
Ich begann Fallen aufzustellen, zuerst Lebendfallen, denn ich WOLLTE IHREN TOD
NICHT. Ich machte mich kundig. Bestückte mit Nutella und Erdnussbutter und geräuchertem Speck. Aber sie ging nicht in die FALLEN. Manchmal fraß sie den Speck raus.
Ich begann RATTENFALLEN AUFZUSTELLEN, die sie halbiert hätten, ich erkannte, dass
manche Fallen überhaupt nicht funktionieren konnten, dass die Mechanismen dafür
sorgten, dass die Maus gar nicht reinkommen konnte, dass die BAUMEISTER DER
FALLEN INNEN UND AUSSEN vertauscht hatten, ich begann, selbst FALLEN zu bauen,
die aber noch nutzloser waren, und hörte die MAUS nachts unter meinen Bücherregalen und Schränken nagen. Fand ihre Köttel und fand sie nie.------------------------AUF DIE BÜHNE MIT DER KREATUR!!! Nachstellen all meine Mühen!!! Überhöhen meinen Kampf mit der Finsternis!!! DIE SENDUNG MIT DER MAUS oder IN THE HEART OF
DARKNESS. -------------------------------------------------------------------------Ich schrieb ein Intro, das ein Schauspieler zu Beginn ins Publikum donnerte:--------------------------------------------------------------------------------------------»Maus, die Maus. Ein Nagetier aus der Überfamilie der Mäuseartigen, meistens aus der
Familie der Langschwanzmäuse (Muridae), speziell die Hausmaus aus der Gattung der
Mäuse (Mus)
– Kurzform für die Die Sendung mit der Maus, eine Kindersendung der ARD
– Maus (Computer), Eingabegerät für Computer
– Die Maus: Gesellschaft für Familienforschung e. V.
– Maus, ein Kartenspiel, siehe Mauscheln
–G
PS-Maus, Empfangsgerät für Positionsdaten des Global Positioning System (GPS)
– MausNet, ein deutsches Mailboxnetz, beruhend auf dem MAUS-Mailprogramm
– Maus: Die Geschichte eines Überlebenden, Comic von Art Spiegelman
– Maus oder Lademaus, Bezeichnung für einen Rübenreinigungslader
– Burg Maus, eine Burg am Mittelrhein
– Panzerkampfwagen VIII Maus, ein Kampfpanzer-Prototyp der deutschen Wehrmacht.«
------------------------------------------------------------------------------------KURZE UNTERBRECHUNG DURCH MUSIK UND NEBEL, der Johann-Strauß-Chor sang in
seinen historischen Kostümen. Dann weiter mit meinem Text.-----------------------»Ich war Dangermouse. Ich stand an der Schwelle meines Loches und redete mit der
Welt. Fiepen: Angst, Schmerzlaut oder Ärger. Vor mir die Ruinen von Europa. Das
Rattern der Mausmaschine, die gefährlichste Maus zwischen den Zeiten und Ruinen,
Europa und das, was sie Welt nannten. DAS Knallen der Fallen, Eis zwischen den
Steinen, Rost, kein Speck mehr im Schnee, gefrorenes Blut zwischen den kleinen
Krallen, Todeskampf der Rassen, Farbmaus, Mittagsmaus, Rennmaus, Hausmaus,
Graumaus, Grabmaus, das Nachtlied, das Grablied, das Tanzlied, glasklar und rein wie
eine Klippe aus Kristall, Fiepen, Trommeln, die Pfötchen in der Luft, wenn die Fänger
ausschwärmen, das Geheimnis der Herkunft, das Geheimnis des Fortbestands, wir
gehen, wohin wir gehen, kopflose Kadaver, Würmer-fressendes Kriechen durchs Labyrinth, von Würmern gefressenes Kriechen durchs Labyrinth, eine Maus geht um in
Europa, Madenfleisch fressen, in den Ruinen, Vivisektionen, offene Gehirne, Fell aus
Asbest, das Grauen, das Grauen!, Lübke, Schnauze!, in the Heart of Darkness.-------Ich schrieb, weiterhin geplagt von meiner MITBEWOHNERIN kurze Clips, in denen die
drei MEMBERS of the NSU als Mäuse auftraten, also nicht persönlich NATURALMENTE,
drei Schauspielstudenten mit Mäuseohren spielten sie. Ich war damit wesentlich
schneller als Elfriede Jelinek. Allerdings verrät mir mein Blick in die Texte, dass es
schon ganz gut war, dass es von keinem weiter wahrgenommen wurde, was ich da
zusammenschrieb:------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Beate: Klar doch, klar doch, klar doch. Klar. Ich sehe. Wir greifen doch danach. Wir
sind die Prediger des Todes. Aber ich träume. Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch. Die Maus ist ein Seil, über einem Abgrund. Und immer
diese hohe Stimme: Was ist dir?----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Ich glaube, mich zu erinnern, denn es gibt keine Aufzeichnungen unseres ersten
Abends, dass Johannes Kirsten meinen Mauswahn gnadenlos entschlackte.---------------------------------------------------------------------------------------------Aber dieses war drin im Stück DIE SENDUNG MIT DER MAUS:------------------------------------------------------------------------------------------------------------»Das ist der Uwe. Der Uwe ist Nazi und wohnt in Deutschland. Klingt komisch, ist aber
so.----------------------------------------------------------------------------------Und weil der Uwe, als er noch ganz klein war, sich oft ganz doll einsam gefühlt hat
und in der DDR gelebt hat, wo es nicht schön war, hat er jetzt einen richtig guten
Freund. Der heißt auch Uwe und ist auch Nazi und kommt auch aus der DDR, und
zusammen wohnen sie in einer Wohngemeinschaft in einem schönen alten Haus, das
ist in Zwickau, das ist eine ganz ganz kleine Stadt weit im Osten, und dort treffen sich
die Leute am liebsten auf dem Bahnhof oder vor dem Bahnhof und trinken zusammen
Bier. Überall im Osten, nicht nur in Zwickau. Klingt komisch, ist aber so.------------Und weil der Uwe und der Uwe sich ganz doll lieb haben, und damit das nicht so
auffällt, und weil zum ganz ganz doll lieb haben auch immer eine Frau gehört, haben
sie noch eine ganz ganz gute Freundin, nämlich die Beate. Da ham wir also den Uwe,
und den Uwe, und die Beate.-------------------------------------------------------Die Beate ist nicht arbeitslos, wie die ganzen anderen Leute in Zwickau und im Osten,
denn die Beate arbeitet jetzt beim BND, nur halbtags, aber immer viel zu tun. Klingt
komisch, ist aber so.----------------------------------------------------------------Und wenn der Uwe und der Uwe und die Beate sich nicht gerade ganz ganz dolle lieb
haben, spielen sie Progromoly, haben sie sich selbst ausgedacht, ist aber so ähnlich
wie Monopoly, das kennt ihr bestimmt, oder sie machen ihre Wohnung schön gemütlich, oder sie hören Störkraft, das ist eine Pop Band, die machen deutsche Volkslieder,
und das sind Lieder, die für das Volk sind, ganz so ähnlich wie unseres von der Maus
(…) oder sie gucken Cindy aus Marzahn, von der ham sie sogar eine Autogrammkarte,
die kommt nämlich auch aus der DDR, ist aber kein Nazi. Klingt komisch, ist aber so.
Am liebsten liest die Beate das Buch »Tausend – die besten Backrezepte«, und dann
backen und kochen sie gemeinsam ganze Nächte durch. Da wird der Teig geknetet
und der Ofen angeheizt. Der Uwe, der Uwe, und die Beate. Und dann stellen sie sich
im Kreis auf, und dann pressen sich die drei Nazis ganz dolle aneinander, hier und
hier und hier auch, und da muss auch noch das kleine tschechische Dings mit dem
Schalldämpfer dran, damit das alles richtig funktioniert. Ist komisch, klingt aber so.«
------------------------------------------------------------------------------------Bei der zweiten Ausgabe der Stallgespräche, denn so hieß unser Format, brieten wir
Pferdewürste auf der Bühne, ALLES GLÜCK DER ERDE LIEGT IM FLEISCH DER PFERDE
wetteten LEIF im Internet auf amerikanische und englische Rennen, die quasi rundum die Uhr stattfinden, DIE ÄKSCHN GMBH HASST DAS WORT QUASI, LIEBT ABER QUASIMODO, hatten einen Trainer von Galoppern zu Gast, einen Rennkommentator,
hörten Countrysongs der Musiklegende »Mary aus Borna« ... ab der dritten Ausgabe
der Stallgespräche war auch DJ Enrico Meyer ON BOARD, LIAM SCULLY gestaltete
erstmals ein Bühnenbild 4 mal 3 Meter ... aber wir wollten weiter immer weiter,
längst schon hatte ich die VISION von Büchners Danton als TALKSHOW als STALLGESPRÄCHE extra-large, BÜCHNER als CUT-UP VERSION, BÜCHNER VS BURROUGHS,
Büchner und Burroughs, WO IST DIE REVOLUTION? Und warum wandern uns die Zuschauer ab? OBWOHL DAS NATÜRLICH NICHT AN unserer QUALITÄT liegt, und sie auch
nicht wirklich abwanderten, die FÄNS, wenn auch überschaubar, WAREN und SIND
eine MACHT!!!----------------------------------------------------------------------Unser ZIEL war manchmal, WEITER IMMER WEITER bis die Bude leer ist, aber ...
WENNS ALLES SO EINFACH WÄRE ... DIE ÄKSCHN GMBH ist durchaus EITEL und stellt
Spiegel auf im SAAL und entwirft gewaltige SPIEGELSYSTEME im SAAL, um sich
selbst zu verlieren im UNGEHEUREN RAUM (e.e.cummings), um sich selbst zu blenden,
QUOTEN interessierten uns nicht wirklich ... WENNS DENN ALLES SO EINFACH WÄRE.
Wir hatten einen PROFISPIELER zu Gast, einen sogenannten KESSELGUCKER, eine
weltweite Legende, der einst in der Stadt L. beim illegalen Hinterzimmer-Roulette
begann und in den Westen ging, um dort REICH zu werden, der mehr als ein Jahr in
einem Casino bei Hamburg verbrachte, nur als BEOBACHTER, die physischen Vorgänge im Roulettekessel beobachtete, bis er Gesetzmäßigkeiten erkannte, »Der Mensch
ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«, womit wir wieder bei SCHILLER wären ... DER
KESSELGUCKER besaß eine Art autistische Gabe, die ihn kurz vor dem großen »Rien
ne va plus – nichts geht mehr« des Croupiers in den wenigen Sekunden, in denen die
Kugel rotierte, erkennen ließ, in welchen Sektor des Kessels diese landen würde, nur
ca. zehn Menschen weltweit besaßen diese Gabe. Erklärte er uns. Wir hatten einen
Bestatter zu Gast, der uns in BEST OF STERBEN die Mechanismen und Prozeduren
nach dem Tode erklärte. Ich selbst kleidete mich als Pfarrer, denn ich verteidigte die
Transzendenz und den Glauben an IRGENDETWAS in den Weiten des Alls ...--------»Die Leute, die dem Theater seinen Schweißgeruch nehmen wollen und es mit Lachpulver parfümieren, um es spaßig und konsumierbar zu machen, werden immer
mehr ... Aber ohne die Fähigkeit, der Gesellschaft immer wieder Wut- oder Schmerzensschreie zu entlocken, kann Theater ... einpacken. ... Ziel von Theaterarbeit kann
es nur sein, der Mühseligkeit des Denkens Attraktivität zu erspielen. Dafür muss Theater unterhaltsam sein. Dafür sind manchmal auch große Gefühle nötig, genauso wie
scheinbar kleinkarierter, aber aushöhlender Witz. Und dafür muss manchmal auch
der vorgegebene Rahmen durchbrochen werden. (...) Und mit Skandal meine ich
nicht irgendeine vordergründige Provokation, mit der nur mediales Aufsehen erregt
werden will. Ich meine die Unruhe, die von einem geschärften Gedanken ausgelöst
werden kann, wenn er eindringt in einen gefälschten gesellschaftlichen Konsens, um
diesen zu entlarven.« ---------------------------------------------------------------Das sind Bruchstücke einer Rede Josef Bierbichlers von 1997, als er den größten Teil
einer Preissumme, nämlich der des Gertrud-Eysoldt-Ringes, den er zugesprochen bekam, an Christoph Schlingensief übergab.
++++++++++++++++++++++++++++++++++++
CLEMENS MEYER WURDE 1977 IN HALLE (SAALE) GEBOREN UND WUCHS IN LEIPZIG
AUF, WO ER HEUTE LEBT. SEIN DEBÜTROMAN ALS WIR TRÄUMTEN (2015 VERFILMT
VON ANDREAS DRESEN) SCHLUG 2006 WIE EINE BOMBE EIN. ES FOLGTEN DER STORYBAND DIE NACHT, DIE LICHTER, DAS TAGEBUCH GEWALTEN SOWIE 2013 SEIN GROSSER
NACHTROMAN IM STEIN. JEDES SEINER BÜCHER WURDE AUCH FÜR DIE BÜHNE
ADAPTIERT. MEYER ARBEITET ALS BILDENDER KÜNSTLER, VERFASST DREHBÜCHER,
SCHREIBT FÜR DEN RUNDFUNK UND ZEITUNGEN. FÜR SEIN LITERARISCHES WERK
WURDE ER VIELFACH AUSGEZEICHNET, ZULETZT MIT DEM BREMER LITERATURPREIS
2014. DIE FRANKFURTER POETIKVORLESUNGEN »DER UNTERGANG DER ÄKSCHN
GMBH« ERSCHEINEN IM APRIL 2016 IM S. FISCHER VERLAG.
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MIR VORSTELLEN,
WIE ES WÄRE, AN IHRER STELLE ZU SEIN
40.41
EIN GESPRÄCH MIT DER AUTORIN UND REGISSEURIN ALEXANDRA BADEA ANLÄSSLICH EINER LESUNG IHRES TEXTES ZERSPLITTERT AUF
DEM STÜCKEMARKT DES THEATERTREFFENS 2015. IM FEBRUAR 2016 FEIERT ER AM SCHAUSPIEL HANNOVER SEINE DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG IN DER REGIE VON THOMAS DANNEMANN.
Du berichtest in deinem Stück auch über moderne
chinesische Arbeitssklaven, die für den europäischen Markt unter furchtbaren Bedingungen elektronische Geräte produzieren. Das heißt, wir sehen
das Drama, das hinter den Geräten liegt. Wie hast
du dich dem Thema der modernen Arbeitswelt genähert? __BADEA Ich habe dieses Stück als »Artist in
Residence« geschrieben, in Saint-Priest, einem sehr
speziellen Ort, stark gekennzeichnet von den Einflüssen
der 40er Jahre. Heute ist er eine typische Schlafstadt,
von der aus die Arbeiter zu ihrer Arbeit aufbrechen. In
den 50er Jahren entstanden in der Gegend viele Fabriken. Viele Gastarbeiter, Migranten aus dem Maghreb
sind dorthin gezogen. Die Stadt diente wirklich nur
dazu, die Arbeiter unterzubringen, nicht einmal ein
Stadtzentrum im eigentlichen Sinne gibt es dort. Ich bin
ein Jahr dort geblieben, um mir alles anzuschauen und
die Lebensart der Leute zu studieren, die Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen. Ich wollte wissen,
wie sich all das auf die Menschen auswirkt. Ich war
zum Beispiel in der Renault-Fabrik. Während einer Führung erklärte mir ein Arbeiter, dass heute an einem Motor acht Leute arbeiten, die sich nicht kennen, sich nie
zuvor gesehen haben, weil sie aus acht verschiedenen
Ländern stammen. Er erzählte, früher sei es so gewesen, dass der gesamte Motor von seinem ersten bis zu
seinem letzten Bestandteil in der Fabrik in Saint-Priest
entstanden ist. Das hat mich ganz stark berührt, mich
aufgewühlt.
Auch mit einem Betriebsarzt habe ich gesprochen, auch
er beschrieb, dass sich seine Arbeit stark verändert
habe. Es ginge heute nicht mehr darum, irgendwelche
Verletzungen schnell zu verbinden und zu heilen. Er
habe bei den Leuten, die zu ihm kommen, eher psychologische Unterstützungsarbeit zu leisten. Das Psychologische ist das größte Problem für die Arbeiter, so wie
man das auch in Zersplittert sieht. Dass die Leute so
stark entfremdet sind, von dem, was sie herstellen und
sich damit nicht mehr identifizieren können - das ist es,
was für sie zu großen psychischen Schwierigkeiten
führt.
++++++++++++++++++++++++
Wie können wir als europäische Autoren uns in die
Gefühlslage und die Gedankenwelten von chinesischen Arbeitssklaven hineindenken, so wie du in
deinem Theaterstück? Und wie spielt man das? __
BADEA Ich habe mir beispielsweise einen Film angesehen, den kann man im Internet herunterladen: »China
Blues«. Darin werden Arbeiterinnen portraitiert. Ihr Lebensweg wird verfolgt, wie sie aus ihren Dörfern aufbrechen, in diese Fabriken kommen, arbeiten, wie sie
dort Schlafsäle beziehen und so weiter. Das hat mich
stark beeindruckt. Ich hörte mir die Augenzeugenbe-
© L'Arche Editeur
INTERVIEW: FALK RICHTER
Alexandra Badea
richte an, darin war so viel positive Energie zu spüren,
etwas Poetisches zu entdecken. Keine der Frauen war
erbost über das, was man ihnen antat. Im Gegenteil.
Und zu dem zweiten Teil der Frage, wie europäische
Schauspieler das darstellen: Ich bin folgendermaßen
vorgegangen: Ich habe die Vorgänge aus einer Zuschauerposition beschrieben und deshalb habe ich bei
der Umsetzung in das Stück die zweite Person gewählt.
Ich sage also immer: »Du.« »Du betrittst die Halle, – du
machst dies, du machst das …«. Wie jemand, der etwas
dokumentiert, was hinter einer mich von den Personen
abgrenzenden Scheibe stattfindet und dann genau beschreibt, was er sieht. Das war meine Herangehensweise. Mir von dort aus vorzustellen, wie es wäre, an ihrer
Stelle zu sein.
++++++++++++++++++++++++
Also entsteht erst im Kopf des Zuschauers das Leben, das du beschreibst. Und die Schauspieler sind
zum einen Textperformer, aber sie könnten natürlich auch den Zuschauer direkt ansprechen. Die
Schauspieler könnten das Gefühl haben mit den
Texten zu verschmelzen, nicht unbedingt mit der
Figur, aber mit dem, was gesprochen und geschildert wird. Du bist selbst Regisseurin, hattest du
beim Schreiben eine Vorstellung davon, wie sich
das Ganze visualisieren lässt? __BADEA Also, wenn
ich schreibe, konzentriere ich mich wirklich aufs Schreiben, in dem Moment bin ich nicht die Regisseurin.
++++++++++++++++++++++++
Du schreibst viel über unsere westliche Welt, über
die Arbeitsbedingungen und die Beziehungen, die
wir hier pflegen. Dabei geht es dir immer wieder
um die Angst vor dem Schweigen, ein existenzielles
Unbehagen. Und um die Freiheit, die ein jeder
sucht. Mich interessiert, was Stille und Schweigen
für dich sind. Warum halten Menschen das Schweigen nicht aus? __BADEA Wenn geschwiegen wird und
Stille herrscht, kommt immer die ganze Angst hervor.
Man spricht dann, um alles zu verdecken, um all die
Momente, in denen man falsche Entscheidungen getroffen hat, zu vergessen. Um sie zu überspielen. Ich
stelle mir auch immer wieder die Frage, wie wir unser
Leben bestehen, angesichts des Alltags, der uns umgibt. Wie können wir diese Gewalt, die uns täglich begegnet, ertragen und trotzdem weiterleben? Eine wirkliche Antwort auf diese Frage, habe ich natürlich nicht.
++++++++++++++++++++++++
Du hast dich irgendwann entschieden, nicht in deiner Muttersprache zu schreiben. Was ist Französisch für dich und warum schreibst du nicht auf Rumänisch, deiner Muttersprache? __BADEA Für mich
ist die französische Sprache die Sprache der Freiheit.
Das ist zufällig so gekommen: Es ist eine Sprache, die
ich beherrsche und die sich mir darbietet, um mich darin frei auszudrücken. Was die rumänische Sprache angeht, so habe ich leider ein schmerzhaftes Verhältnis zu
ihr. Ich war zehn Jahre alt, als dieses System, das ich als
so bedrohlich empfand, zusammenbrach. Die rumänische Sprache gehörte zu diesem System; es ist die
Sprache, die ich gehört habe, als ich zur Schule gegangen bin, die Sprache jener Zeit, in der es diese Diktatur
gab und man nicht die Freiheit hatte, zu sagen, was
man denkt. Es gab gewisse Pflichten, etwas nicht zu
sagen, die mussten befolgt werden. Man musste wiederkäuen, was die anderen einem vorkauten, was der
Lehrer vorgab – all das, was man zu sagen und zu denken hatte. Als ich nach Frankreich kam, war ich 23 und
habe diese andere Sprache kennengelernt. Sie war
eine Möglichkeit, mich, sich von diesen ganzen Ängsten, die mich einengten, zu befreien und mich dafür in
einer anderen Sprache frei zu artikulieren. Ich fühle
mich nicht beurteilt oder bewertet. Darum kann ich alles so frei gestalten.
++++++++++++++++++++++++
Wie lebst du? Würdest du sagen, dass Frankreich
deine Heimat ist? Dein Stück spielt überall auf der
Welt und erzählt von sehr »globalisiert« lebenden
Menschen. Lebst du auch so? Oder hast du so einen
»sense of belonging« irgendwo auf dieser Welt? __
BADEA Für mich ist die die Welt die Heimat. Gut, ich
lebe in Frankreich, in Paris, aber ich könnte auch alle
zwei Monate woanders leben, davon habe ich zumindest immer geträumt. Ich habe ja auch zwei Pässe. Als
ich in Frankreich eingebürgert worden bin und meinen
zweiten Pass erhalten habe, sagte man mir, dass ich ab
jetzt auch die ganzen Schattenseiten von Frankreich mit
vertreten und dafür gerade stehen müsse. Und ich
denke, letztlich, mit dem, was ich hier mit meinen Theaterstücken tue, gehe ich dieser Pflicht nach. Und ich
stehe gern in meiner Pflicht.
++++++++++++++++++++++++
Deutschland wird ab und zu als das China von Eu­
ropa bezeichnet, weil man hier nur so geringe Löhne zahlen muss. Es gibt in Berlin viele französische
Firmen, die zum Beispiel Call Center aufgebaut haben. Junge Franzosen kommen nach Berlin, weil
man hier toll leben kann und es wahnsinnig hip ist.
Die kommen eigentlich hierher, um Kunstaktionen
oder Theater zu machen und landen dann irgendwie bei eDarling im Call Center und arbeiten dort
für vier Euro die Stunde. In Frankreich müsste man
für diese Arbeit 9,50 Euro zahlen. China ist nicht
nur ein Staat, oder eine Nation, sondern ein System,
mitten in Europa und auf der Welt. Das zeigt dein
Stück sehr stark. Wir erfahren von einer Angestelltenklasse, die überhaupt keinen Widerstand leistet,
sondern bloß mitzukommen versucht und sich dabei selbst optimiert. Lächeln und nicht den Arbeitsablauf stören! Du beschreibst, dass dabei sehr viel
Hass entsteht und ich finde, das ist etwas, was wir
gerade auch in Europa spüren, sowohl in Frankreich wie auch in Deutschland. Es gibt immer mehr
politische Parteien und Organisationen, die sich
sehr rassistisch formieren. Gleichzeitig gibt es einen großen, wachsenden Fundamentalismus. Sind
das Themen, die dich als Autorin interessieren? __
BADEA Ich suche nach einem Weg, wie man auf diese
Entwicklungen reagieren kann. Vor allem nach den Ereignissen, die es im Januar in Frankreich gegeben hat.
Ich habe überlegt, was ich machen kann und bin darauf
gekommen, Schreibateliers in den Gefängnissen anzubieten und das tue ich jetzt auch. In den Gesprächen
und Schreibwerkstätten mit den Gefängnisinsassen
versuche ich ihre Botschaft einzufangen, was sie sagen
zu erhalten und gegebenenfalls weiterzutragen. Wie
genau ich das machen kann, wird sich noch zeigen. Jedenfalls sind eben dort Botschaften des Hasses zu vernehmen. Wir Künstler können nicht einfach weiterhin
in unserem Elfenbeinturm sitzen bleiben. Wir müssen
runtergehen auf die Straßen und uns den Problemen
direkt stellen. Gucken, wo wir ansetzen könnten. Wir
wissen ja, dass wir mit unseren Theaterstücken nicht
unbedingt alle ansprechen, die wir erreichen wollen.
Es gibt nun einmal bestimmte Milieus, die im Theater
nicht vertreten sind. Da funktioniert das Theater eher
wie eine geschlossene Gesellschaft. Aber ich denke darüber nach, wie man das aufbrechen kann und die Leute erreicht, die man sonst im Theater nicht antrifft.
++++++++++++++++++++++++
ALEXANDRA BADEA, 1980 IN RUMÄNIEN GEBOREN,
STUDIERTE IN BUKAREST REGIE. SEIT 2003 LEBT SIE IN
PARIS UND ARBEITET ALS AUTORIN, REGISSEURIN UND
BÜHNENBILDNERIN. IHR STÜCK ZERSPLITTERT WURDE
2013 MIT DEM GRAND PRIX DE LITTÉRATURE DRAMATIQUE AUSGEZEICHNET, ALS HÖRSPIEL IN FRANK­REICH
UND DEUTSCHLAND GESENDET UND AM THÉÂTRE
NATIONAL DE STRASBOURG URAUFGEFÜHRT.
++++++++++++++++++++++++
Redaktion: Kerstin Behrens---------------------------Transkript: Hanna Yazdanfar--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
42.43
Foto: Katrin Ribbe
DER ERZÄHLER
LAUDATIO ANLÄSSLICH DES 60. BÜHNENJUBILÄUMS VON DIETER HUFSCHMIDT
Ich habe einmal – nicht nur einmal – vor anderen von
Dieter Hufschmidt als großartigem Erzähler geschwärmt.
Auch in seinem Beisein. Man hat mir zugetragen, er war
erstaunt, dass ich als Regisseur und Intendant ihn nicht
zuerst als Schauspieler ansprach. Und auch Sie, liebe
Gäste, werden vielleicht erstaunt sein, dass ich an dieser Stelle nicht in erster Linie von dem Spieler Dieter
Hufschmidt sprechen möchte, sondern von dem Erzähler Dieter Hufschmidt. Beides gehört zusammen. Natürlich. Und doch zielt meine Akzentverschiebung auf
etwas Auffälliges und längst nicht mehr Selbstverständliches: Dieter Hufschmidt ist ein Erzähler an jenem Ort,
an dem – wie Peter Bichsel behauptet – das Erzählen
eigentlich unmöglich ist: auf dem Theater. Denn was
dort gesagt wird, ist so gesagt und nicht anders. In einer Erzählung aber fügt der Autor sich selbst ein, indem
er die Dialoge mit dem »sagte sie«, »sagte er« relativiert.
Es ist jetzt nicht mehr die Figur selbst, die spricht, sondern der Autor erzählt davon, was sie gesprochen haben könnte. Und es gibt damit eine Instanz, die sich in
Beziehung setzt: zum Text, zur Zeit, zum Leser – oder im
Theater: zum Publikum; eine Instanz, die darum weiß,
dass sie es ist, die Zusammenhänge schafft und durch
die Kraft der Sprache, Wirklichkeit setzt. Eine Instanz,
die sich in eine Tradition stellt, sich die Tradition erarbeitet, lesend (in erster Linie) und die sich nicht zufrieden gibt mit dem undefinierten Gefühl von: was die
Eltern mir gebracht haben; eine Instanz mit Geschichtsbewusstsein, einem kritischen Geschichtsbewusstsein,
eine Instanz, die um die Versehrungen der Sprache
weiß und um ihre ungeheure Kraft, um nicht zu sagen:
Macht. Und eine Instanz, die genau das alles zum Klingen bringt, während sie spricht, die dem Rhythmus der
Sprache nachhört, ihrer verborgenen Musik – und dadurch auch intuitiv einem Zuhörer / Zuschauer zu vermitteln vermag, welche Schichten sich auf den jeweiligen Text gelegt haben. Um ihn aus diesen wieder
frisch herauszuschälen – ja ihn zuweilen auch zu retten
durch die Hinwendung, den Respekt, die Sorgfalt der
Auseinandersetzung, dem Verständnis, der Verantwortung Zeugenschaft abzulegen.------------------------------------------------------------------------------Erzählen ist erinnern. Oder besser: Erinnern heißt erzählen. Nicht alle Menschen unternehmen die Anstrengung, sich zu erinnern, viele verweigern sich geradezu.
Dieter Hufschmidt erinnert, er erinnert sich und erinnert
uns und meldet sich unmissverständlich zu Wort, wenn
es ihm geboten scheint, auf politische und soziale Missstände hinzuweisen. Wenn er sich hinstellt, oder sich
auch schützend vor einen stellt, um Anwürfe abzuwehren, dann hat das Gewicht. Das mag durchaus unterdessen mit seinem Lebensalter zu tun haben, das sonst
keinerlei Rolle spielt, so offen und neugierig, so zuge-
Foto: Katrin Ribbe
VON LARS-OLE WALBURG
Judith Gerstenberg, Dieter Hufschmidt
wandt und wach sind unsere Begegnungen hier im
Haus – hier spielt es eine Rolle. Die Erfahrung. Sie verankert die Meinung.----------------------------------Erfahrung ist an die einzelne Person gebunden, Erfahrung kann man nicht wiederholen, man kann sie nur
erzählen und dadurch andere teilhaben lassen, ihnen
die Hand reichen, locken mitzukommen in womöglich
unbekannte oder noch unverstandene Welten, Geist
und Herz zu öffnen. Alle deine Bühnenfiguren, lieber
Dieter, sind getränkt von deiner Erfahrung, Lebenserfahrung und Literaturerfahrung und ich möchte behaupten, dass sich bei Dieter Hufschmidt diese beiden
Erfahrungsräume nicht mehr auseinanderdividieren
lassen. Er ist ein leidenschaftlicher Leser und diese Leidenschaft kann er mittreißend vermitteln und ganze
Sprachlandschaften urbar machen.-------------------------------------------------------------------------Erzählen – ich deutete es vorhin schon an – verändert
die Wirklichkeit, aber auch möchte ich behaupten – die
Literatur. Den Texten widerfährt etwas, wenn Dieter
Hufschmidt sie hervorholt, sie verändern sich in und
durch seine Lektüre. Dieses Zwiegespräch mit der Literatur, diese unverhohlene, auch erotische Beziehung
zur Sprache zeichnet Dieters Umgang mit den Texten
aus. Dass er sich den Ort der Sprache, das Theater, zu
seinem Lebensmittelpunkt auserkoren hat, ist folgerichtig, denn es ist ein Schutzraum, in dem man seinem
eigenen Verstehen auf die Spur kommen kann. Dass er
uns an dieser Bewegung teilhaben lässt, erzählend, ist
ein großes Glück für uns. -----------------------------------------------------------------------------------Ich hätte Dieter Hufschmidt auch ansprechen können
als Liebender, denn er liebt die Literatur, als in der Literatur Beheimateter, als Leser. Ein Spieler, der etwas
vormacht, der sich verstellt, ist er nicht, zumindest habe
ich ihn so nie erlebt. Und das schätze ich ungemein.
Lieber Dieter, ich bin dir dankbar, dass du mir dein Leben erzählst, ob du es so explizit machst, wie in deiner
wirklich sehr berührenden biografischen Erinnerungsreise Mein Kopf ist ein zwitscherndes Vogelnest oder
Deinem Faust oder mich an deiner Lektüre und deinem
Verständnis von Welt teilhaben lässt wie in der MusilLesung. Du scheust keine Anstrengung und keine
Zeit … Du bist bestimmt der einzige Schauspieler in der
Theaterlandschaft, der sowohl Prousts Suche nach der
verlorenen Zeit als auch Robert Musils Mann ohne Eigenschaften nahezu vollständig vorgelesen haben
wird. Ersteres übrigens ein Buch, das sich dem erinnern
widmet, zweiteres der Versuch durch eine Erzählung
die in ihre Einzelteile zerfallene Wirklichkeit zu fassen.
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Shockheaded Peter, Hagen Oechel in der Junk-Opera von Julian Crouch und Phelim McDermott / The Tiger Lillies
DIE PROGRAMM-HÖHEPUNKTE
OKTOBER 2015 BIS JANUAR 2016
AB 10 / 15 CUMBERLANDSCHE GALERIE
10.10.15 CUMBERLANDSCHE GALERIE
TEILZEIT-FLANEURE
NEGER, JUDEN,
KOMMUNISTEN, HEXEN
Monatlich Satire, Pop, Polemik und
komische Literatur
AUFTAKT
Bühne frei für Autoren, die sich respektlos und komisch mit Politik, Alltags­
phänomenen oder (pop-)kulturellen Erscheinungen beschäftigen: zuspitzende
Ko­mik, satirische Polemik als Mittel der
Aufklärung, aber auch als Katalysator für
Diskussionen. Präsentiert wird die neue
Lese-Show von Hartmut El Kurdi, musikalisch begleitet von den Wohnraumhelden aus Hannover.
02.11.2015 Fritz Eckenga
07.12.2015 Jochen Malmsheimer
Mit freundlicher Unterstützung
VGH-Stiftung
Niedersächsische Lotto-Sport-Stiftung
31.10.15 SCHAUSPIELHAUS
Deutsche Balladen, vorgetragen von
Dieter Hufschmidt
Am Klavier: Markus Becker
Texte, die nicht beanspruchen Theater zu
sein, deren Zugehörigkeit zu dem Medium allerdings unbestreitbar ist, finden
selten ihren Weg auf die Bühne. Seit 40
Jahren setzt sich Dieter Hufschmidt dafür
ein, dass diese Werke trotzdem Gehör finden. In Neger, Juden, Kommunisten, Hexen widmet sich Hufschmidt deutschen
Balladen von Autoren wie Brecht, Fried,
Biermann und Kästner, darunter unbekannte Texte und unbequeme Themen.
13.11.15 BALLHOF ZWEI
16.10.15 BALLHOF EINS
30.10.15. CUMBERLANDSCHE GALERIE
DIE KÄNGURU-CHRONIKEN
RAINALD GREBE TRIFFT …
Ansichten eines anarchistischen
Beuteltieres
nach Marc-Uwe Kling
… Stephan Puile, Tonarchäologe
Rainald Grebe forscht nach, was es mit
unserer analog-digitalen Welt auf sich
hat. Nicht nur in den Produktionen Anadigiding I-III, die er für das Schauspiel
Hannover realisierte und noch realisieren wird, sondern auch in seiner Gesprächsreihe Rainald Grebe trifft…
Im Oktober befragt Grebe den Restaurator, Labor-Ingenieur und Tonarchäologen
Stephan Puile, dem Experten, wenn es
um alte Tonträger geht.
URAUFFÜHRUNG
In seiner autobiografischen KänguruTrilogie erzählt der Kleinkünstler MarcUwe Kling vom Zusammenleben mit
einem kommunistisch-anarchistischen
Beu­­
teltier, vor allem von dessen vorlauten Ansichten, die es nicht müde
wird, dem verdutzten Kleinkünstler mitzuteilen. Im Schauspiel Hannover wagt
das Bestseller-Känguru zum allerersten
Mal den Sprung auf die Theaterbühne
und stellt uns die Frage: In was für einer
Welt leben wir eigentlich?!
Mit freundlicher Unterstützung
ZAG Personal & Perspektiven
21.11.15 CUMBERLANDSCHE BÜHNE
22.11.15 SCHAUSPIELHAUS
SHOCKHEADED PETER
UND AUCH SO BITTERKALT
PERPLEX
DIE SCHNEEKÖNIGIN
Junk-Opera von Julian Crouch, Phelim
McDermott und The Tiger Lillies
von Lara Schützsack
von Marius von Mayenburg
PREMIERE
PREMIERE
PREMIERE
Lucinda ist ein Mädchen, so präsent,
dass sich die Leute auf der Straße nach
ihr umdrehen. So schön, dass sich unzählig viele Jungs vor Liebeskummer
nach ihr verzehren, und sie ist ausgesprochen willensstark. Als sie nicht mehr
isst, bieten die Eltern ihr ganzes Können
auf und suchen sich schließlich psychologische Hilfe. Doch ihre Bemühungen
laufen ins Leere. Lucinda flüchtet nach
Tenebrien, ein von ihr erdachtes Land für
alle, die nicht für diese Welt gemacht
sind.
Carolin und Philippe kommen aus dem
Urlaub zurück. Irgendetwas ist beunruhigend anders. Woher kommt die neue
Topfpflanze? Warum funktioniert das
Licht nicht mehr? Ist das überhaupt ihre
Wohnung? Anscheinend nicht, denn
das Paar, das während ihrer Abwesenheit nur die Blumen gießen sollte, setzt
die beiden kurzerhand vor die Tür. Von
Szene zu Szene gerät ihre bürgerliche
Welt mehr aus den Fugen. Ein fulminantes und sehr komisches Stück über
die Auflösung letzter sozialer Sicherheiten.
Familienstück von Jewgeni Schwarz
nach Motiven von Hans Christian
Andersen, ab 6
Wer kennt sie nicht? Die Geschichte vom
bösen Friederich, dem zündelnden Paulinchen, dem ungelehrigen Daumenlutscher oder Hans-guck-in-die-Luft. Das
1844 ver­fasste Bilderbuch Struwwel­
peter prägte die deutsche Kindheits- und
Kulturgeschichte wie kein zweites. 1998
bearbeiteten die britischen Theater­
macher Phelim McDermott und Julian
Crouch dieses legendäre Werk und entwickelten gemeinsam mit der Kultband
The Tiger Lillies eine furiose Junk-Opera
für Erwachsene.
MIT DIESEN STÜCK KOMMEN WIR AUCH AN
PREMIERE
In ihrem frostigen Palast hoch im Norden
hält die eisige Schneekönigin Kai gefangen. Ohne Erinnerung an das Leben mit
Gerda und seiner Großmutter fügt er Tag
für Tag Kristallpuzzle aneinander. Gerda
und die Großmutter aber haben ihn nicht
vergessen. Längst ist Gerda unterwegs,
um Kai zu finden und nach Hause zurückzubringen. Auf ihrem Weg muss sie
Gefahren und Abenteuer bestehen und
findet neue Freunde, mit deren Hilfe sie
der Schneekönigin mutig entgegentritt.
IHRE SCHULE
Mit freundlicher Unterstützung
Sparkasse Hannover
11.12.15 BALLHOF EINS
12.12.15 SCHAUSPIELHAUS
16.01.16 SCHAUSPIELHAUS
DIE PHYSIKER
MEIN KAMPF
WOLF UNTER WÖLFEN
von Friedrich Dürrenmatt
von George Tabori
von Hans Fallada
PREMIERE
PREMIERE
PREMIERE
Es könnte alles so schön sein im Sanatorium, wären da nicht die Insassen Möbius, Ernesti und Beutler, die ein großes
Geheimnis hüten: Sie sind gar nicht verrückt. Der Wissenschaftler Möbius hat
die bedrohliche Weltformel gefunden,
Ernesti und Beutler haben sich als verfeindete Geheimdienstagenten einweisen lassen, um seine Forschungsergebnisse für ihre Regierungen nutzbar zu
machen. Dürrenmatts Groteske ist vor
dem Hintergrund politischer Ressentiments aktueller denn je.
Der junge, untalentierte Zeichner Adolf
Hitler strandet 1910 in einem Wiener
Männerasyl. Er findet Trost beim Juden
Schlomo Herzl, der am Roman Mein
Kampf arbeitet und dessen Nächstenliebe unbeirrbar ist. Er beginnt, den gescheiterten Hitler wiederaufzurichten: Er
verpasst ihm ein neues Erscheinungsbild, mit gescheiteltem Haar und gestutztem Bart und entwirft einen Karriereplan
für ihn – mit fatalen Folgen für die Weltgeschichte. Eine Farce.
Berlin in den Zwanzigern. Wolfgang Pagel lebt mit seiner Freundin Petra von der
Hand in den Mund. Ausgerechnet vor
seiner Hochzeit verspielt Pagel all sein
Geld und Petra landet, der Prostitution
verdächtigt, im Gefängnis. Verzweifelt
und mittellos trifft er auf seinen ehemaligen Vorgesetzten, der ihn als Verwalter
auf seinem Gut einstellt. Doch hier sind
die Verhältnisse nicht besser. Pagel gerät
in den Mahlstrom familiärer und politscher Konflikte. Wie kann er sich in dieser wölfischen Zeit behaupten?
Karten (0511) 9999 1111 . www.schauspielhannover.de .
/schauspielhannover
IMPRESSUM Heft # 19 HERAUSGEBER Niedersächsische Staatstheater Hannover GmbH, Schauspiel Hannover, Spielzeit 2015 /1
6 INTENDANT Lars-Ole Walburg REDAKTION
Dramaturgie GESTALTUNG María José Aquilanti, Birgit Schmidt LAYOUT Philipp Baier, Madeleine Hasselmann, Minka Kudraß DRUCK Berlin Druck, Achim