Pressemappe Freie Sicht

Wenn Eltern fantasieren
Das Theater Marabu spielt in der Brotfabrik Marius von Mayenburgs
verstörendes Jugend-Drama "Freie Sicht"
Mit selbstgebastelten Brandbomben gingen die Heranwachsenden zu Werke in der
1998 uraufgeführten bösen Familiengroteske "Feuergesicht", mit der Marius von
Mayenburg (1972) sich als Theaterautor etablierte. 2002 gastierte "Feuergesicht"
beim NRW- Kinder- und Jugendtheatertreffen in der mehrfach ausgezeichneten
Oberhausener Inszenierung von Kay Voges bei den Marabus in der Beuler
Brotfabrik, also genau dort, wo jetzt "Freie Sicht" zu erleben ist.
In seiner 2008 im australischen Adelaide erarbeiteten Drama (deutschsprachige
Erstaufführung 2009 in Mannheim) dreht von Mayenburg die Blickrichtung um. Die
braven Eltern vermuten in ihren Sprösslingen lauter kleine Bombenleger, denen nur
noch mit fremder Hilfe beizukommen ist. Dabei haben sie doch alles richtig gemacht,
ihre Kinder einwandfrei aufgezogen und alle Ratschläge diverser pädagogischer
Medien tapfer befolgt. Aber irgendwas scheint nicht zu stimmen mit den
Jugendlichen. Wie etwa mit dem Mädchen, das auf dem Parkplatz neben dem
Einkaufszentrum ein grünes Paket in den Abfalleimer geworfen hat. Zumal im
Supermarkt ein ähnliches Paket herrenlos aufgetaucht ist. Ratlos suchen die
Erwachsenen nach Auswegen aus der Gefahr.
Ein Sprengkommando und Scharfschützen müssen her, um die Gesellschaft vor den
Terrorkids zu bewahren. Als "Schwarm" bezeichnet von Mayenburg die nervös
flatternde Elterngruppe.
Die elf Spieler des Jungen Ensembles Marabu unter der künstlerischen Leitung von
Tina Jücker und Claus Overkamp entwickeln aus der Chorsituation beeindruckend
individuelle Figuren. Die kühle Analytikerin wittert kriminelle Machenschaften,
während die Paare auf dem Sofa die schwarze Hauskatze streicheln. Man betrachtet
die unscharfen Videos vom Schauplatz des potentiellen Brandanschlags. Einer
begeistert sich für Jagd-Picknicks im Grünen. Als noch keiner befürchten musste,
hinterrücks erschossen zu werden von den unberechenbaren Blagen. Schön wäre
das blutige Waidwerk mit Apfelbaum-Idylle (witzig illustriert mit live gemalten
Projektionen) , wenn nicht überall Zerstörung lauerte. Es sind die Gewaltfantasien
der besorgten Eltern, die die Kinder als kleine Monster erscheinen lassen. Der
absurde Gespensterreigen zwischen eventuell vergiftetem Dosenobst und
Feueralarm erreicht seinen spielerischen Höhepunkt, wenn das Ensemble vierarmig
agiert und die Hände der Hintergrundspieler den Vordergrund Lügen strafen.
Das ist fabelhaft genau choreografiert und so grotesk komisch wie der ganze Krimi
aus der Sicht verunsicherter Perfektions-Eltern, die ihren Nachwuchs vor lauter
Fürsorge umbringen.
Die junge Truppe (Zwischen 17 und 25 Jahre) macht daraus in einer guten Stunde
nicht nur ein virtuoses Stimmkonzert und ein Bühnen-Ereignis mit einfallsreich
verwendeten Theatermitteln. Sie beleuchtet unverschämt genau den
gesellschaftlichen Sprengstoff, der gerade nicht in verborgenen Winkeln
zusammengebraut wird, sondern gut sichtbar an der Oberfläche.
Überzeugter, langer Beifall bei der restlos ausverkauften Premiere.
Bonner Generalanzeiger vom 17.08.2015
Menschen, die im Abseits stehen
Beeindruckende Premiere von „Freie Sicht“ in der Brotfabrik
Die Erziehungsberechtigten sind einer Meinung. Irgendetwas stimmt nicht mit dem
Kind. Still ist die Heranwachsende in den vergangenen Wochen geworden und
verhält sich mehr als merkwürdig. Fest drückt der Teenager seine Puppe mit dem
herausgestochenen Auge an seine Brust, will nichts, sagt nichts und verschwindet
hinter einer unüberwindbaren Schattenwand. Stimmen hallen durch den Raum,
anonyme Statements werden abgegeben, Gerüchte in Umlauf gesetzt. Die
Verdachtsmomente verdichten sich, und eine Spirale aus Angst, Verdächtigungen
und Zweifel setzt sich in Gang.
Was am Ende von dieser stehen kann, das macht das „Junge Ensemble Marabu“ bei
der Premiere ihres neuen Stückes „Freie Sicht“ auf beeindruckende Art und Weise
erlebbar. Wie wenig es nur braucht, um einen Menschen ins Abseits zu drängen,
verdeutlicht Marius von Mayenburg in seinem 2008 geschriebenen Oeuvre mit einer
nachhaltigen Wirkung. Sparsam setzen die beiden Regisseure Tina Jücker und
Claus Overkamp in der Theaterwerkstatt der Brotfabrik dramaturgische Mittel ein,
ihre Effekte verfehlen sie jedoch nicht.
Kaum einer kann sich der bedrohlichen Atmosphäre entziehen, und die elf
Protagonisten verkörpern den „Schwarm“ mit schmerzlich überzeugender Kraft.
Schließlich siegt das Kollektiv über den Einzelnen, triumphiert die Macht der Masse
über das Recht des Individuums. Zum Schluss will es – wie so oft – keiner gewesen
sein. Vehement weisen die Biedermänner jegliche Schuld und Verantwortung von
sich, verschwinden die Ankläger von damals in einer gesichtslosen Masse und
rechtfertigen ihr Verhalten mit der Absicht, Schlimmeres von der Gesellschaft
abwenden zu wollen. „Wir haben es doch nur gut gemeint!“, lautet die Parole, und die
Weste wird schneller weiß, als das Publikum gucken kann.
60 Minuten lang zieht das Ensemble die Zuschauer in seinen Bann, gelingt es den
jugendlichen Darstellern meisterhaft, in die verschiedenen Rollen zu schlüpfen, mal
Richter, Verteidiger oder Opfer zu sein. Ein geradezu hypnotischer Zustand entsteht,
wenn die Ensemblemitglieder ihre Anschuldigungen in die Videokamera hinein
schreien. Hetze betreiben und Zwietracht säen.
„Freie Sicht“: ein aufrüttelndes mahnendes Stück, überzeugend in Szene gesetzt.
Bonner Rundschau vom 19.08.2015