C 7.1 Kunsttraktate – Teil 1 (Angela Dreßen) Die literarische Gattung der Kunsttraktate der Renaissance beruht auf einem Wiedererwachen verschiedener antiker Literaturformen, auf welche die Künstler auf unterschiedliche Art und Weise anspielten: sei es durch den Aufbau des Traktates mit der Einteilung in einzelne Bücher, oder der bewussten Absetzung von der Traktatform durch die Bevorzugung des platonischen Dialogs, aber auch durch die Vermittlung antiken Wissens durch die Kenntnis antiker Kunst- und Bauwerke, der Kenntnis von spezifischem Vokabular und Bauformen, oder auch der Propagierung eines antiken umfassenden Bildungsideals. Es gab viele Möglichkeiten, sich kenntnisreich neben die Antike zu stellen sowie sich zugleich bewusst von ihr abzusetzen und neue Wege einzuschlagen. Aus dem Mittelalter kennen wir nur sehr wenige Kunsttraktate. Obschon von allgemeiner Künstlerbildung hier kaum die Rede ist, sind diese Traktate doch als Lehrwerke zu verstehen, die Lehrlinge mit Detailkenntnissen der Praxis versehen sollten. Es handelt sich hierbei regelrecht um Handbücher zur praktischen Anleitung einer spezifischen künstlerischen Disziplin, die meist fast gänzlich ohne theoretisches Beiwerk oder Reflektionen auskommen. Die Re-Evaluierung der Technik im fortgeschrittenen Mittelalter lief parallel zur Neubewertung der artes mechanichae und deren Vermittlung. Auch die artes mechanichae hatten in den antiken Traktaten durchaus eine Rolle gespielt. Bis ins hohe Mittelalter fand die Künstlerlehre fast ausschließlich in Klöstern statt – wie auch die intellektuelle Ausbildung.1 So ist es kaum verwunderlich das eines der wichtigsten mittelalterlichen Traktate zu künstlerischen Techniken von einem Benediktinermönch geschrieben wurde. Theopilus Presbyter unternahm im 12. Jahrhundert eine detaillierte Darstellung der handwerklichen Fertigung von Malerei, Glasarbeiten und Goldschmiedekunst, mit einer detaillierten Erläuterung zur Vorbereitung der Arbeiten und zur Ausführung des Werkes.2 Doch ganz dem mittelalterlich-christlichen Charakter eines schriftlichen Dokuments verpflichtet, beginnt Theophilus mit der Schöpfung der Welt, um jedoch darauf über die Schöpfung des Menschen zu sprechen, welcher mit Verstand und Lernfähigkeit versehen, durch Studium und Hingabe die Künste erlernen könnte, mit eingeschlossen die praktischen Künste. Gemäß dem Standard der Zeit, war das Werk in Latein geschrieben, ein Umstand, mit dem die meisten Malerlehrlinge ihre Probleme gehabt haben dürften. (-oder aber die Künstlerlehre in den Klostermauern schloss zumindest ein elementares Studium mit ein.) Zwei Jahrhunderte später stehen wir an der Schwelle zum Humanismus. Cennino Cennini (c. 1370 – c. 1440), aufgewachsen im toskanischen Colle Val d’Elsa, erlebte in Padua in den Jahren um 1400 eine äußerst stimulierende, intellektuelle Atmosphäre, die durch eine der führenden italienischen Universitäten geprägt war. Längst gab es einen generellen dualen höheren Ausbildungsweg, der die monastische Lehre durch die universitäre Lehre ergänzte, an der sich der Fächerkanon etabliert 1 On the medieval apprenticeship of artists see also Erhard Brepohl, Theophilus Presbyter und das mittelalterliche Kunsthandwerk. Gesamtausgabe der Schrift De diversis artibus in zwei Bänden, Köln 1999, vol. 1, p. 32. (LIT !!!!) ……………………… 2 Erhard Brepohl, Theophilus Presbyter und das mittelalterliche Kunsthandwerk. Gesamtausgabe der Schrift De diversis artibus in zwei Bänden, Köln 1999, 2 vol. hatte. Die praktischen Künste spielten dort jedoch noch lange keine Rolle. Cenninis Traktat 3 ist jedoch ein ausgezeichnetes Beispiel für den Zwiespalt, in dem Künstler mit Reputation sich nun befanden. Handwerkliche Kunst wird zu einer intellektuellen Kunst erhoben, die das manuelle genauso wie den Geist und die Phantasie voraussetzt. Seine Forderung ist, die praktische Kunst gleich nach den Wissenschaften anzusiedeln. Der Künstler gebrauche schließlich seinen Verstand, um sein Werk zu komponieren, welches schließlich durch den Einfluss der Poesie gekrönt würde.4 Abgesehen von der Wertung und Einordnung der praktischen Künste, in diesem Fall der Malerei, entspricht Cenninis Traktat dem mittelalterlichen Aufbau. Der Text beginnt mit einer Widmung an irdische und himmlische Autoritäten: Gott und Maria mit einer Reihe Heiliger als himmlische Instanzen, und die wichtigsten zeitgenössischen Vertreter der Malereizunft für die irdische Approbation: Giotto, Taddeo und Agnolo Gaddi.5 Dann beginnt der Traktat vergleichbar mit dem des Theophilus mit der Erschaffung der Welt um von dort zu den Schöpfungen des Menschen zu kommen, sprich den handwerklichen, deren detaillierte Beschreibung der malerischen Techniken nun in unzähligen Kapiteln anschließt, der Präparation des Werkzeuges, des Untergrundes, der Farben und schließlich des Malens selber. Nach einem Hinweis auf schöpferische Invention umfasst der Traktat alles was ein Werkstattjunge um 1400 lernen musste. Die Tatsache, dass der Malerlehrling zusätzlich zur praktischen Ausbildung auf ein vulgärsprachliches, und damit allgemein verständliches Handbuch zurückgreifen könnte, war keineswegs selbstverständlich, sondern sicherlich dem langsam wachsenden Einfluss der sich volkssprachlich etablierten Literatur verschuldet. Cenninis Malereitraktat wurde erst 1437 endgültig vollendet, wie im Explizit des Textes zu lesen ist. Zu diesem Zeitpunkt war gerade der Malereitraktat vollendet, der im 15. Jahrhundert und bis in unsere Zeit weiteste Verbreitung erfahren sollte, Leon Battista Albertis (Genua, 1404-1472) De Pictura, zunächst 1435 auf Latein geschrieben, dann im Jahr darauf ins vulgärsprachliche übersetzt. Alberti wollte den Text auch seinen Berufskollegen zugänglich machen, die über einen geringeren Bildungsstand verfügten und des Lateins nicht mächtig waren, wie beispielsweise dem Architekten Brunelleschi, dem die italienische Fassung gewidmet ist. Alberti war der gebildetste Künstler des 15. Jahrhundert, wohl der einzige, der eine volle universitäre Laufbahn durchschritten hatte. In Padua und Bologna hatte er die artes liberales studiert und schließlich auch in den beiden Rechten abgeschlossen (Kirchenrecht und Zivilrecht). 6 Alberti war gleichermaßen Humanist wie Künstler und vor diesem Hintergrund ist klar, warum Alberti der Verfasser der meisten Kunsttraktate sein konnte (abgesehen von zahlreichen weiteren zu gesellschaftlichen, ökonomischen und philosophischen Themen), warum er dort die Künstlerbildung propagiert, 7 und warum seine Traktate nun einen wissenschaftlichen Anspruch haben, in hohem Maß von Kenntnis der antiken Traktate und antiker Poesie zeugen. Die Auseinandersetzung mit den universitären Disziplinen wird gleich im Vorwort ersichtlich. Der in drei Bücher gegliederte Malereitraktat widmet sich im ersten Teil mit den mathematischen Grundlagen der Malerei, die die Kenntnis des Euklids verrät und somit auch die Geometrie und die 3 Cennino Cennini, Il libro dell’arte, ed. by Fabio Frezzato, Vincenza 2003. Siehe dazu B. Roeck, 2013, pp. 60-63. 5 Cennino Cennini, Il libro dell’arte, ed. by Fabio Frezzato, Vincenza 2003, pp. 61-63. 6 L. Olschki, Die Literatur der Technik und der angewandten Wissenschaften, vol. 1, Vaduz 1965, pp. 46-49. Joseph Rykwert, Theory as rhetoric: Leon Battista Alberti in theory and in practice, in: Paper Palaces. The Rise of the Renaissance Architectural Treatise, ed. by Vaughan Hart with Peter Hicks, New Haven 1998, pp. 33-50, see p. 34. 7 With the exception of De statua (1434-1435). Datation in: O. Bätschmann, Leon Battista Alberti- Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei, Darmstadt 2000, p. 183. 4 Optik mit einschließt. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern beginnt er nicht mit den Voraussetzungen der technischen Ausführung (hierzu diente sein ebenfalls italienisch verfasstes Handbuch Elementae Picturae von 1435-14368 für den weniger gebildeten Künstler), sondern er erwartet vom Künstler eine präzise Komposition, die das Dargestellte in das richtige Verhältnis setzt. Dieses sind Errungenschaften der kürzlich entwickelten Perspektivmalerei durch Masaccio und andere, was nun dank Albertis mathematischer Ausführungen perfektioniert werden konnte. Um den Künstler nun zu stimulieren berichtet Albert im zweiten Buch über die größten Kunstwerke der Antike, ihre Geschichte und ihre Bedeutung. Dann kommt er nochmals auf die Komposition, die Linie und den Lichteinfall zu sprechen. Im dritten Buch empfiehlt er dem Künstler nochmals die Bildung, speziell Geometrie für die technische Grundlage, sowie vor allem die Poesie, mit der die Malerei vieles gemeinsam habe. 9 Gleichzeitig zum Malereitraktat schrieb Alberti auch eine weitere kurze Abhandlung zur Skulptur (De statua, ca. 1435). Dieser in Latein verfasste Traktat war durch die Sprachwahl und Eloquenz seiner Auslegung weniger als Werkstattbuch gedacht, vielmehr macht Alberti sich grundsätzliche Gedanken zu den verschiedenen Techniken der Bildhauerei und zur Vermessung. Auch hier unternimmt er zahlreiche Vergleiche zu antiken Beispielen, die als ideale Vergleichsgröße gelten. (Vermutlich war dieser Traktat die erste Abhandlung, die sich ausschließlich der Skulptur widmet.) Albertis dritter großer Kunsttraktat De re aedificatoria (1451-1453)10, ebenfalls auf Latein verfasst, lehnte sich stark an sein Vorbild Vitruv an. Alberti warb für die soziale Stellung des Architekten, sein Beitrag für das Gemeinwohl und nahm gleichermaßen wie in den anderen Traktaten die Gebäude der Antike als sein Vorbild. Die zehn Bücher handeln dann von dem Entwurf und der Umsetzung, dem Baumaterial und dem Bauschmuck und Gliederungen, die er der Antike entlehnt. 11 In allen seinen Traktaten zitiert Alberti antike Literatur weithin, allen voran Vitruv und Plinius, sowie Cicero und Quintillian, die außer für wichtige Kunstbeispiele auch ein Vorbild für rhetorische Darstellung waren. 12 Sein Architekturtraktat war der einzige, der im 15. Jahrhundert nicht nur in der Manuskriptversion kursierte. Nach Albertis Tod nahm sich der Florentiner Humanist Angelo Poliziano der ersten Drucklegung an, die in Florenz 1485 erschien und sehr bald weithin bekannt wurde. 13 8 Alberti then provided a Latin translation around 1450-1455 for Theodorus Gaza, a Greek professor, who taught the Greek language and Greek philosophy in Ferrara, Mantua and other places. O. Bätschmann, Leon Battista Alberti- Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei, Darmstadt 2000, p. 356-357. 9 On “Della pittura” see for example: B. Roeck, 2013, pp. 69-78. 10 For the dating see for example: C. Grayson, The Composition of L. B. Alberti’s Decem libri de re aedificatoria, Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, XI, 1960, pp. 152-161 (1452). …………… 11 Die wenigen antiken Bauwerke, die Alberti tatsächlich aus dem Augenschein kannte, waren das römische Pantheon und das Grab des Theoderichs in Ravenna. (Joseph Rykwert, Theory as rhetoric: Leon Battista Alberti in theory and in practice, in: Paper Palaces. The Rise of the Renaissance Architectural Treatise, ed. by Vaughan Hart with Peter Hicks, New Haven 1998, pp. 33-50, p. 37-38). 12 13 B. Roeck, 2013, pp. 70, 72. De re aedificatoria had more immediate reaction than the treatise on painting, which had difficulties. From de re aredificatoria existed two splendid manuscript copies richly decorated for Federico da Montefeltro and Matteo Corvino (Joseph Rykwert, Theory as rhetoric: Leon Battista Alberti in theory and in practice, in: Paper Palaces. The Rise of the Renaissance Architectural Treatise, ed. by Vaughan Hart with Peter Hicks, New Haven 1998, pp. 33-50, p. 46-50). Es scheint als habe Alberti bewusst zwischen verschiedenen Künstlerniveaus unterschieden, vor allem zwischen Künstlern und Handwerkern. Sein vernakularer elementarer Text war an alle Maler gerichtet, der Malereitraktat sollte dann auch zur Künstlerbildung beitragen. Gehobene Geometrie, Technik und Antikenkenntnisse waren jedoch dem gebildeten Künstlerexperten vorbehalten. Obschon Lorenzo Ghiberti (Florenz, 1378-1455) nicht über eine ebenso umfangreiche universitäre Ausbildung verfügte wie Alberti (tatsächlich gibt es hierzu wenig Gewissheit), zeugen seine Kommentare (Commentarii, 1452-55) nicht nur von großer Bildung, sondern fordern diese mehr noch als Alberti vehement vom Künstler ein. Er emphielt eine Liste mit zehn Fächern, abgesehen von den kompletten artes liberales sollte der Künstler auch in Philosophie und Medizin bewandert sein! (Commentarii 1.1, p. 2) Das Bildungsideal, das er anstrebte, war sicher von Vitruv inspiriert. 14 15 16 Ghiberti, der sich an seinem Lebensende an einen Traktat zur Skulptur und Malerei setzt, kann nun schon auf die ersten neuen Traktate in einem „klassizierenden“ Gewand zurückblicken, von denen er sich aber absetzen will. So beginnt er seine Ausführungen auch mit deutlichen Hinweisen auf die antiken griechischen Philosophen, deren Weisheitsmaxime zu berücksichtigen probat wäre, anstatt sich in zu vielen Worten zu verlieren. Er wartet dann in seinem ersten der drei Kapitel mit einer kompetitiven Liste an berühmten antiken (griechischen, lateinischen und ägyptischen) Kunstwerken auf, die Albertis Ausführungen sicher noch übertreffen. Die Wiederentdeckung der Antike geht für Ghiberti Hand in Hand mit antiquarischen Interessen und der Vermittlung des antiken Bildungsideals. ((Ghiberti jedoch verfasst seine Erläuterungen in der Vulgärsprache, um sicher zu sein, dass seine Kollegen ihn auch verstehen.)) Das zweite Buch beginnt mit Cimabue und Giotto und seiner Schule und stellt einen Abriss der Malerei bis zu Ghiberti dar, während er im dritten anhand östlicher Autoren wie Avicenna, Alhazen, Averroes, aber auch Tolomeus über Lichttheorie und den Blick schreibt. Würde man Ghibertis Traktat als Konkurrenzprodukt zu Albertis ansehen, dann geht die schriftlich dokumentierte Kenntnis der Philosophen des vorderen Orients und Griechenlands über die des Vorgängers hinaus, sowie auch die Propagierung eines gewünschten Bildungsstandards.17 Mit 14 See also Bergdolt 1988, p. xxxi; Francis Ames-Lewis, The intellectual life of the Early Renaissance artist, New Haven, 2000, p. 30. B. Roeck, 2013, pp. 66-67. 15 Commentarii 2.18, p. 41. Following Olschki, Ghiberti himself did not benefit from a proper education, but followed the advice and expertise of a humanist, who must have lead him to the literary sources, and worked as his translator (L. Olschki, Die Literatur der Technik und der angewandten Wissenschaften, vol. 1, Vaduz 1965, pp. 90-91). Bergdolt supposes that Ghiberti (and Masaccio and Donatello) had visited an abacus school and then got training in natural sciences through the mathematician and geographer Paolo dal Pozzo Toscanelli (1397-1482) in Padua. Klaus Bergdolt, Der dritte Kommentar Lorenzo Ghibertis. Naturwissenschaften und Medizin in der Kunsttheorie der Frührenaissance, Weinheim 1988, pp. XVI- xxxi. See also K. Bergdolt, Der Künstler als Literat – Das Beispiel Ghiberti, in: Künstler und Literat. Schrift- und Buchkultur in der europäischen Renaissance, ed. by Bodo Guthmüller, Berndt Hamm and Andreas Tönnesmann, Wiesbaden 2006, pp. 31-46, see p. 20) See also Argante Ciocci, Luca Pacioli tra Piero della Francesca e Leonardo, 2009, p. 14-15. Bergdolt supposes that Ghiberti’s inclination towards natural sciences was due to the influence of Toscanelli. As this might be probably true, one nevertheless needs to consider that these were the most common university topics. On artist’s learning see also Olschki, Die Literatur der Technik und der angewandten Wissenschaften, I. Heidelberg 1919, p. 33. See also Argante Ciocci, Luca Pacioli tra Piero della Francesca e Leonardo, 2009, p. 1415. On Brunelleschi’s friendship with Toscanelli, as reported by his biographer Manetti, see Margaret Daly Davis, Piero della Francesca’s Mathematical Treatises. The “Trattato d’abaco” and “Libellus de quinque corporibus regularibus”, Ravenna ????, p. 4. 16 On Ghiberti’s learning requirements see for example: Peter Burke, 1986, p. 58; 17 Zu Ghibertis Kenntnis östlicher Autoren siehe beispielsweise: L. Olschki, Die Literatur der Technik und der angewandten Wissenschaften, vol. 1, Vaduz 1965, pp. 100-102; G. Federici Vescovini, Contributo per la storia di Alhazen in Italia: il volgarizzamento del Ms Vat.Lat. 4595 e il “Commentario terzo” del Ghiberti”, in: Rinascimento, ser. 2, V, 1965, pp. 17-49; Argante Ciocci, Luca Pacioli tra Piero della Francesca e Leonardo, 2009, Sicherheit konnte Ghiberti selbst die lateinischen Quellen lesen, denn diese Texte waren derzeit nicht anders zugänglich. (es sei denn, sein begabtester Schüler, Filarete, hätte ihm eine Unzahl von Quellen besorgt und übersetzt) Ghibertis wahrscheinlich talentiertester Schüler war Filarete (Florenz, ca. 1400-1469), der seinerseits als Architekt und Bildhauer tätig war. Mehr noch als bei Ghiberti sollte man bei Filarete zumindest ein Studium des Trivium voraussetzen und er konnte Platon und Vitruv sicher in der Originalsprache lesen, beherrschte also Griechisch und Latein. Sein Architekturtraktat (Trattato di Architettura, 14601464, zunächst Francesco Sforza in Mailand gewidmet, dann auch Piero de’ Medici in Florenz) 18 19, lässt aber auch auf die Kenntnis von Plinius, Cicero, Plautus, Ovid, Statius, Vergil und Seneca schließen, die er oft zitiert. Trotz seiner großen Gelehrsamkeit hat Filarete seinen Traktat in der Umgangssprache verfasst und seinen beiden großen Auftraggebern Francesco Sforza und Piero de‘ Medici gewidmet (die ebenso des Lateins mächtig gewesen wären). Sein Traktat ist wahrscheinlich von Platons Büchern zum Sozial- und Städtewesen, vom Timaeus, der Critias, und den Gesetzten beeinflusst, Texte, die möglicherweise durch Filelfo vermittelt wurden. 20 21 Filarete stammte aus Florenz und arbeitete in Rom, Venedig und in Mailand für die Sforza, für die er in seinem Architekturtraktat die Idealstadt Sforzinda entwarf. Tatsächlich handelt es sich hier nicht um einen Traktat im klassischen Sinne, wie beispielsweise Alberti und Ghiberti sie geschrieben hatten. Obschon er in den ersten drei Büchern einen kurzen Abriss der Geschichte der Bauformen gibt, speziell der griechischen, danach auf das Baumaterial eingeht, wechselt er ab dem vierten Buch zu einer fiktiven Architekturbegehung zusammen mit seinem „Auftraggeber“, und somit zur Dialogform (mit den Charakteren Francesco Sforza, seiner Frau Bianca Maria Visconti und dem Sohn Galeazzo Maria Sforza). Die letzten drei Bücher behandeln die Technik der Zeichnung und basieren im Wesentlichen auf Albertis beiden Malereitrakten. Filaretes inhaltliche Referenzen sind Vitruv, Plinius und Alberti, doch die Form des an Platon orientierten Dialogs, welche fiktive Gespräche wiedergeben, war in der Gattung der Kunstliteratur eine Neuheit. Ebenso war auch der narrative Charakter keineswegs für Zwecke der Ausbildung und Belehrung gedacht, wie alle voran gegangenen Werke. Filarete schrieb ein Werk für den interessierten realen und potentiellen Auftraggeber und auch für diesen mag die Wahl der Umgangssprache komfortabler gewesen sein. p. 14; B. Roeck, 2013, pp. 63-67. K. Bergholt, Der Künstler als Literat – Das Beispiel Ghiberti, in: KÜnstler und Literat. Schrift- und Buchkultur in der europäischen Renaissance, ed. by Bodo Guthmüller, Berndt Hamm und Andreas Tönnesmann, Wiesbaden 2006, pp. 31-46, see p. 30. 18 For the dating see for example J. R. Spencer, La Datazione del Trattato del Filarete desunto dal suo esame interior, Rivista d’Arte, XXX, 1956, pp. 93-103; P. Tigler, Die Architekturtheorie des Filarete, Berlin 1963, p. 7-8. Luisa Giordano, On Filarete’s Libro Architettonico, in: Paper Palaces. The rise of the Renaissance Architectural Treatise, ed. by Vaughan Hart with Peter Hicks, New Haven 1998, pp. 51-65. Maria Beltramini, Filarete in toga: la latinizzazione del Trattato d’Architettura, in: Arte Lombarda 2003, pp. 14-20, see p. 14 (1458-1465). 19 This book was written in the Vernacular, in order to make it accessible to both the patron and other fellow architects. But a Latin version existed as well produced by the humanist Antonio Bonfini for Mattia Corvino in Hungary. (Luisa Giordano, On Filarete’s Libro Architettonico, in: Paper Palaces. The rise of the Renaissance Architectural Treatise, ed. by Vaughan Hart with Peter Hicks, New Haven 1998, pp. 51-65, p.) 20 on this see for example Luisa Giordano, On Filarete’s Libro Architettonico, in: Paper Palaces. The rise of the Renaissance Architectural Treatise, ed. by Vaughan Hart with Peter Hicks, New Haven 1998, pp. 51-65, p. 54). Zu Filaretes Bildung und Bildungsansprüchen siehe auch: Piero Pierotti, Prima di Machiavelli. Filarete e Francesco di Giorgio consiglieri del principe, Ospedaletto 1995, p. 115, nr. 34; B. Roeck, 2013, pp. 79. 21 Luisa Giordano, On Filarete’s Libro Architettonico, in: Paper Palaces. The rise of the Renaissance Architectural Treatise, ed. by Vaughan Hart with Peter Hicks, New Haven 1998, pp. 51-65, p. 54; also Onians 1971, Lang 1972. Der toskanische Maler Piero della Francesca (ca. 1412-1492) war als Verfasser von Traktaten zur Algebra, Mathematik und Geometrie ein Sonderfall. Piero hat als Kind sicher selber eine AbakusSchule besucht, welche zur Standardausbildung von angehenden Kaufleuten gehörte, doch waren ein paar Rechenkenntnisse auch für Werkstätten angebracht. 22 23 Unklar ist, ob Piero selber als AbakusLehrer tätig war, doch haben seine Traktate durchaus Lehrbuchcharakter und wurden als solche auch eingesetzt. Tatsächlich gingen sie über die einfache Ausbildung sogar hinaus, weil sie eben auch Geometrie und Mathematik mit einschlossen.24 Pieros vulgärsprachlicher Trattato dell’Abaco (1460er-80er) galt mehr den Rechenkünsten, während sein Libellus de quinque corporibus relugaribus (1460er-1480er) zum Großteil auf Euclids Elementen basierten, dem Standardlehrbuch zur Geometrie aus der Antike. Die De prospectiva pingendi (bis 1482) 25 versuchte die malerische Perspektive zu perfektionieren, weil die Malerei für Piero zu allererst die Realität darstellen sollte.26 Er gibt hier zahlreiche geometrische und mathematische Beispiele mit an die Hand, als auch – hier lehnt er sich an seine Vorgänger an – ein paar antike Vorläufer wie Apelles und Zeuxis, die angeblich die Perspektive schon beherrscht hätten27. Alle Traktate Pieros waren in der Umgangssprache geschrieben und weithin bekannt. Der Trattato d’abaco kursierte weitflächig in Manuskriptform, während der Malereitraktat schon 1482 gedruckt wurde. 28 Es ist anzunehmen, dass Piero della Francesca lateinische Lesekenntnisse besaß, die es ihm ermöglichten, die in den Traktaten in genannten Quellen selbst zu lesen.29 22 On Piero’s education see J. Field, Piero della Francesca, 2004, p. 73-78. 23 On Piero’s Latin see Massimo Mussini, Luigi Grasselli, Piero della Francesca – Prospettiva pingendi, 2008, p. 193. 24 On this see also J. Field, Piero della Francesca, 2004, p. 266. On the relation between Piero’s two mathematical works, the Libellus and the Trattato and Pacioli’s adaptations see: Margaret Daly Davis, Piero della Francesca’s Mathematical Treatises. The “Trattato d’abaco” and “Libellus de quinque corporibus regularibus”, Ravenna ????. B. Roeck, 2013, pp. 84-87. 25 On this see also G. Nicco-Fasola, in: Piero, della Francesca, De prospectiva pingendi, edizione critica a cura di Giustina Nicco-Fasola ; con due note di Eugenio Battisti e Franco Ghione ; ed una bibliografia a cura di Eugenio Battisti e R. Pacciani, Firenze 2005. Full text editions: Piero, della Francesca, De prospectiva pingendi, edizione critica a cura di Giustina Nicco-Fasola ; con due note di Eugenio Battisti e Franco Ghione ; ed una bibliografia a cura di Eugenio Battisti e R. Pacciani, Firenze 2005. Piero, della Francesca, De prospectiva pingendi, Sansepolcro (AR) 2008. Critical study by J. Field, Piero della Francesca, 2004; Massimo Mussini, Luigi Grasselli, Piero della Francesca – Prospettiva pingendi, 2008, pp. 169-197. Piero della Francesca, Trattato d’abaco, ed. by Gino Arrighi, Pisa 1970. 26 Piero, della Francesca, De prospectiva pingendi, edizione critica a cura di Giustina Nicco-Fasola ; con due note di Eugenio Battisti e Franco Ghione ; ed una bibliografia a cura di Eugenio Battisti e R. Pacciani, Firenze 2005, pp. 128-129. 27 Piero, della Francesca, De prospectiva pingendi, edizione critica a cura di Giustina Nicco-Fasola ; con due note di Eugenio Battisti e Franco Ghione ; ed una bibliografia a cura di Eugenio Battisti e R. Pacciani, Firenze 2005, p. 128-129. 28 Massimo Mussini, Luigi Grasselli, Piero della Francesca – Prospettiva pingendi, 2008, pp. 169, 185. Piero, della Francesca, De prospectiva pingendi, edizione critica a cura di Giustina Nicco-Fasola ; con due note di Eugenio Battisti e Franco Ghione ; ed una bibliografia a cura di Eugenio Battisti e R. Pacciani, Firenze 2005, p. 216; B. Roeck, 2005, p. 153f.; B. Roeck, 2013, p. 87. There was an interest to read Euclid’s text in the original, and some parts of Euclid were available in the vernacular by 1485 (Argante Ciocci, Luca Pacioli e la matematica del sapere nel Rinascimento, Bari 2003, p. 245-246). On Euclid’s and Fibonacci’s influences on Piero see Margaret Daly Davis, Piero della Francesca’s Mathematical Treatises. The “Trattato d’abaco” and “Libellus de quinque corporibus regularibus”, Ravenna ????, p. 23-41. 29 Auch in seiner Malerei griff er dann auf weniger geläufige Bildmotive zurück, deren Quellen vielen anderen Künstlern verschlossen waren. Dazu gehört beispielsweise sein Freskenzyklus zur Kreuzlegende in Arezzo, Francesco di Giorgio Martini (1439-1501) aus Siena war wie die meisten seiner vorangehenden Traktate schreibenden Künstlerkollegen humanistisch ausgebildet. Er arbeitete als Architekt, Ingenieur, Maler und Bildhauer. Sein wichtigstes literarisches Werk ist der aus zwei Teilen bestehende vernakulare Architekturtraktat. Der erste Teil Trattati di architettura ingegneria e arte militare wurde um 1482 am Hof von Urbino für Federico da Montefeltro verfasst (1481-1484, bekannte Manuskriptversionen sind: Kodex Torinese Saluzziano 148, Kodex Laurenziano Ashburnham 361).30 Nur wenig später revidierte er die erste Version und verfasste den Traktat Architettura civile e militare (1486-1492, Kodex Senese S.IV.4, Kodex Magliabechiano II.I.141). Die zweite Version zeigte, wie immediat die Auswirkungen des Buchdrucks waren, denn diese Version war nun durch die soeben im Druck erschienen Werke Vitruvs und Albertis beeinflusst. Doch auch die zeitgenössischen Tendenzen unter Bramante und Leonardo in Mailand machten sich bemerkbar. 31 Francesco di Giorgio galt als gebildeter und belesener Architekt und so zitiert er in seinem Werk unter anderem aus Vegetius, Frontius, Socrates, Aristotle, Thomas Aquinas, Marco Greco und Ptolemäus, Autoren, die alle nur in Latein zugänglich waren.32 Der erste Band beschreibt Bautypen und Konstruktionen aus der Antike und der zeitgenössischen Architektur, wozu beispielsweise Burgen, Städte, Theater, Tempel und Klöster gehören. Er widmet sich aber auch als erster eingehend hydraulischen Anlagen. Der zweite Band listet nochmal Grundriss und Bauformen von Häusern, Palästen, Schlössern, widmet sich aber nochmals den Wasseranlagen und Maschinen zum Gewichte heben. Diese technische Seite sowie die Fokalisierung auf Festungs- und Militärbauten sind eine entscheidende Neuerung mit Francesco di Giorgios Schrifttum. Es ist sicher kein Zufall, dass alle schriftstellerisch tätigen Künstler aus der Toskana stammen, oder zumindest lange dort tätig waren. Nur wenige dieser benannten Traktate haben bald zur Druckform gefunden. Viele wurden erst im 16. Jahrhundert gedruckt. Doch zu den Inkunabeln zählen Albertis De architectura von 1485 und Piero della Francescas De prospettiva pingendi von 1482. deren Erzählung er aus der Legenda aurea kannte (zu Pieros Kreuzlegende siehe: ………. ; Margarete Schmidt, Warum ein Apfel, Eva? Regensburg 2000, pp. 25-26). 30 See Renato de Fusco, Il codice dell’architettura. Antologia di trattatisti, Napoli 1968, p. 269 (See also Fusco for preparatory versions of the treatise since 1456. Fusco’s edition contains a partial transcription of the last verion). Trattato di architettura di Francesco di Giorgio Martini, ed. by Luigi Firpo and Pietro C. Mariani, 1979 (contains a complete transcription of Codex Ashburnham 361, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florence). Other editions are …………….. On the two versions of Francesco’s treatise see Massimo Mussini, Il trattato di Francesco di Giorgio Martini e Leonardo: il Codice Estense restituito, Parma 1991, pp. 57-136; Francesco Paolo Fiore, The Trattati on architecture by Francesco di Giorgio, in: Paper Palaces. The rise of the Renaissance Architectural Treatise, ed. by Vaughan Hart with Peter Hicks, New Haven 1998, pp. 66-85. …… Francesco di Giorgio also wrote, among other works, a book entitled Praticha di Gieometria (Cod. Ashburnham 361, Biblioteca Laurenziana), which is a manual on geometry and its calculation and contains no further thoughts on educational principles. 31 Trattato di architettura di Francesco di Giorgio Martini, ed. by Luigi Firpo and Pietro C. Mariani, 1979, p. XV, XXIII-XXIV. On Francesco’s encounter with Leonardo in Milan from 1490 onwards see for example: Massimo Mussini, Il trattato di Francesco di Giorgio Martini e Leonardo: il Codice Estense restituito, Parma 1991, pp. 163-217. Francesco Paolo Fiore, The Trattati on architecture by Francesco di Giorgio, in: Paper Palaces. The rise of the Renaissance Architectural Treatise, ed. by Vaughan Hart with Peter Hicks, New Haven 1998, pp. 66-85, see p. 81. 32 See for example: Trattato di architettura di Francesco di Giorgio Martini, ed. by Luigi Firpo and Pietro C. Mariani, 1979, p. 3 (chapter 1), p. 4 (chapter 6), p. 33 (chapter 57), p. 78 (chapter 198). See also Francesco Paolo Fiore, The Trattati on architecture by Francesco di Giorgio, in: Paper Palaces. The rise of the Renaissance Architectural Treatise, ed. by Vaughan Hart with Peter Hicks, New Haven 1998, pp. 66-85, see p. 67. Trattato di architettura di Francesco di Giorgio Martini, ed. by Luigi Firpo and Pietro C. Mariani, 1979, p. 3 (chapter 2).
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