Ich mache keine Designer-Vaginen

LEBEN
Südostschweiz | Mittwoch, 29. Juli 2015
«Den Männern ist
es ziemlich egal,
wie eine Vagina
aussieht.»
mit Colette Camenisch
sprach Andrea Hilber Thelen
J
etzt ist auch die letzte Tabuzone unters Messer gekommen: Die Schönheitschirurgie
befasst sich zunehmend mit
dem weiblichen Intimbereich.
Die Nachfrage ist da. Laut aktuellen
Zahlen lassen sich in der Schweiz und
in Deutschland jährlich über 10 000
Frauen ihre Genitalien operieren.
Colette C. Camenisch ist Fachärztin für
plastische, rekonstruktive und ästhetische Chirurgie im Zentrum für plastische Chirurgie in der Klinik Pyramide
am See in Zürich. Im Schnitt berät sie
wöchentlich zwei Frauen, die sich
einen Eingriff im Intimbereich überlegen. Tendenz steigend.
Wachstumsrate von rund 35 Prozent zeichnet sich ein Trend ab.
Ich würde es nicht als Trend bezeichnen. Aber endlich ist unsere Intimzone
ein Thema. Und neu ist, dass man darüber diskutieren darf. Sehr viele Frauen leiden schon lange. Es ist ein Bedürfnis da. Bis heute hatten Frauen gar
keine Anlaufstelle für Ihre Probleme
im Intimbereich.
Was hat Sie in Ihrer Praxis bis anhin am meisten irritiert?
Der Umstand, dass Frauen durchs Leben gehen und sogar Kinder gebären,
ohne ein einziges Mal ihre Vagina gesehen zu haben. Sie können sicher sein,
dass jeder Mann genau weiss wie lang
und wie breit sein Penis ist. Der Mann
hat einen ganz anderen Bezug zu seinem Penis, weil er ihn auch x mal pro
Tag in den Händen hat, was ja bei uns
nicht der Fall ist.
Frau Camenisch, Sie operieren den
Intimbereich der Frauen. Mit welchem Ziel? Sollen wir alle wieder
aussehen wie fünfjährige Mädchen?
COLETTE CAMENISCH: Der Intimbereich einer Frau wird nie so aussehen
können wie der eines Mädchens. Wenn
jemand die Vorstellung hat, dass man
irgendetwas spritzen, operieren oder
initiieren kann, um zum Schluss so
auszusehen wie ein fünfjähriges
Mädchen, dann bin ich nicht die richtige Chirurgin. So etwas ist nicht möglich. Es geht vielmehr darum, eine
Grössenordnung von einer normal
durchschnittlichen Frau zu finden und
nicht zu übertreiben.
Sind es die Männer, die uns diktieren, wie wir zwischen den Beinen
auszusehen haben?
Den Männern ist es ziemlich egal, wie
eine Vagina aussieht. Ich habe viele
Männer, die mit ihren Frauen in die
Sprechstunde kommen und sagen, ihnen spiele das überhaupt keine Rolle.
Und was gilt als normal?
Eine Norm existiert so nicht. Ich kann
kein Anatomiebuch aufklappen, um zu
sehen, was der Norm entspricht. Es
«Es gibt keine
ethischen und
medizinischen
Richtlinien über
das, was dem
Durchschnitt
entspricht.»
gibt auch keine ethischen und medizinischen Richtlinien über das, was dem
Durchschnitt entspricht. Es liegt alleine an mir und meiner Patientin, die
Ethik in diesem Bereich zu entwickeln.
Beim Begriff Intimchirurgie denken die meisten Menschen sofort:
Oh nein! Muss das jetzt auch noch
sein.
Ja das ist so. 50 Prozent der Leute sehen in der Intimchirurgie etwas Suspektes. Mit meiner Tätigkeit versuche
ich auf einer Schiene zu bleiben, die
immer noch Sinn macht. Ich operiere
ja keine Frauen, die nur wenig vergrösserte Schamlippen haben. Meine Patientinnen haben Schamlippen mit
einer durchschnittlichen Grösse von
sechs Zentimeter Länge und vier Zentimeter Breite. Das können massive
Vergrösserungen sein.
Welches sind die meistgewünschten Eingriffe?
Die Mehrheit der Operationen die ich
durchführe sind Schamlippen-Verkleinerungen, sogenannte SchamlippenReduktionen. Die äusseren Schamlippen werden mit zunehmendem Alter
immer kleiner, während die inneren
Schamlippen immer grösser werden.
Bei einem zweijährigen Mädchen sieht
man die äusseren Schamlippen aber
keine Inneren. Mit den Jahren wechselt das. Die äusseren Schamlippen
verringern sich und die inneren werden sichtbar. Zudem verenge oder
straffe ich Scheiden, die bei schweren
Geburten traumatisiert wurden.
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Die «Down-Under» Chirurgin: Colette Camenisch ist
erstaunt, dass es Frauen gibt, die noch nie ihre eigene
Andrea Hilber Thelen
Vagina gesehen haben.
«Ich mache keine
Designer-Vaginen»
Colette Camenisch verkleinert Schamlippen und verengt Scheiden.
Damit kämpft die Intimchirurgin für die Thematisierung der Vagina
und gegen viele Vorurteile.
Was sind das für Frauen, die sich
für sich einen Intimeingriff
wünschen?
Zu mir kommen Frauen mit einem
echten Problem. Die haben sich sechsmal überlegt, ob sie vorbei kommen
wollen. Oft kommen sie mit einem Artikel über mich in der Hand zu mir.
Einen Artikel, den sie schon vor drei
Jahren gelesen haben, aber so lange
brauchten, um den Schritt in meine
Praxis zu wagen.
Sie sprechen von ästhetischen und
rekonstruktiven Eingriffen im Intimbereich.
Der Übergang von einem ästhetischen
zu einem rekonstruktiven Eingriff ist
immer fliessend. Man kann sich fragen
ob bei einer Patientin, deren Schamlippen durch eine Zangengeburt zerstört
wurden, eine Operation ästhetischer
oder rekonstruktiver Natur ist. Für die
Frau ist es enorm unangenehm, wenn
die eine Schamlippe nach oben
geklappt ist und die andere nach
unten. Das stört eine Frau, weil es so
die Schamlippen einklemmt. So etwas
ist für mich nicht nur eine Frage der
Ästhetik. Oder die Patientin, die falsch
operiert wurde und deren Schamlippen, wie bei einem Kleeblatt viergeteilt
sind. Das sind Probleme, die hat man
bis heute einfach nicht thematisiert.
Das Gebiet der Intimchirurgie ist
noch relativ jung, doch mit einer
Die grosse Enthüllung
Die Zürcher Gynäkologin
Brida von Kastelberg
fragte einmal in einem Interview: «Würden Sie Ihre
Vagina im Fundbüro wiedererkennen?» Wie sieht
Frau da unten aus? Und
was ist überhaupt der
Durchschnitt. Anders wie
bei jungen Männern, zeigen
sich Freundinnen im Normalfall nie ihr intimstes
Körperteil um zu verglei-
chen. So kennen wir im
Höchstfall die intimen Bilder aus der Pornoindustrie,
die aber weit davon entfernt
sind, als Durchschnitt zu
gelten. Mit dem «Vagina
Project» werden Frauen
aufgerufen ihre Vagina zu
fotografieren und im Blog
zu posten. So wurden bis
heute weit über 1000
Fotos veröffentlicht, die zeigen, wie verschieden der In-
1000
Fotos
und unterdessen weit mehr,
haben Frauen aus der
ganzen Welt von ihrer
Vagina gemacht und im
Internet geposted.
timbereich einer Frau aussieht. Hunderte Vulvafotos
sind auf dem Blog von
«Largelabia Project» zu
finden. Die Betreiberin will
zeigen, dass 1000 verschiedene Formen und Grössen
existieren und alle normal
und schön sind.
www.vaginaproject.
tumblr.com
www.largelabiaproject.
com
Und das glauben Sie?
Ja, denn einer der nicht so denkt, würde es a) nicht kommunizieren und
b) schon gar nicht mitkommen und
sich vor mir outen. Was ich aber nach
einer Rekonstruktion oft höre, ist, dass
das Sexleben besser geworden ist. Einfach weil sich die Frau befreiter fühlt.
Und wir wissen, wenn sich eine Frau
im Kopf befreit fühlt, dann ist auch der
Sex besser.
Wie steht es um die Risiken? Beispielsweise eine Gefühlslosigkeit
nach einem Eingriff?
Ich mache ja nichts an der Klitoris. Und
haben sie sich schon mal in die Schamlippen geklemmt, das tut nicht wahnsinnig weh, weil man da nicht sehr viel
Gefühl hat. Aber man muss vorsichtig
sein, dass man nicht zu nahe an die Klitoris kommt. Die ist unterschiedlich
gross und schön in eine Vorhaut eingepackt, dass man sie eben gar nicht auspacken soll. Die soll dort drin bleiben.
Apropos Verstümmelung, Frauen
werden beschnitten, also verstümmelt. Kann man solchen Frauen
mit der Intimchirurgie wieder zu
einem Gefühl verhelfen?
Es gibt Fälle, wo beschnittene Frauen
nach einer Operation wieder orgasmusfähig sind. Häufig werden sie
schon als Mädchen beschnitten, darum
wissen sie gar nicht, was ein Orgasmus
ist. Aber es geht vor allem darum, dass
man diese Frauen wieder glücklich
machen kann. Sie werden nicht nur
körperlich beschnitten, sondern eben
auch seelisch. Mein Traum ist es, solche
Operationen durchführen zu können.
Aber sie sind sehr schwierig und es
gibt weltweit nur eine Handvoll Ärzte,
die das können und dementsprechend
auch wenig Möglichkeiten, solche Eingriffe zu lernen und die nötigen Erfahrungen sammeln zu können.
FRAGE DES TAGES
Übertreiben wir es
heutzutage mit den
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