Margareta Gruber Berührendes Sehen Zur Legitimation der Zeichenforderung des Thomas (Joh 20,24-31) (BZ 51, 2007, 61-83) „Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite“. Und Thomas nahm seine Hand und legte sie in die Seite Jesu, und er wurde gläubig. So ergänzen fast alle Leser und Leserinnen der Bibel und lange auch ihre Ausleger und Auslegerinnen,1 selbst wenn sie die Frage nicht ausdrücklich erörtern.2 Der dramatische Moment, in dem der Zweifler Thomas seinen auferstandenen Herrn berührt, hat sich nicht zuletzt durch die Ikonographie3 der abendländischen Imagination fest eingeprägt und ist für viele christlichen Schriftleser Bestandteil ihrer inneren Bildwelt geworden. Die intensivste und in ihrem krassen Realismus geradezu schockierende Darstellung dieser Szene, die ich kenne, ist die des italienischen Barockmalers Michelangelo da Caravaggio: Der ausgestreckte Zeigefinger einer Hand, deren schmutzige Fingernägel nicht zu übersehen sind, wird von der Hand des Auferstandenen selbst in seine Seitenwunde geführt.4 Das Evangelium selbst schweigt über eine solche Szene; es lässt sofort, ohne eine begleitende szenische Anweisung zu geben, das antwortende Bekenntnis des gläubig Gewordenen (Joh 20,28) folgen und darauf aus dem Mund Jesu die Seligpreisung derer, die „nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29). So fragen die Ausleger heute, ob die Symbolik der Berührung von Händen und Seite Jesu nicht, jenseits der realistischen Vorstellung, auf eine „innige Gemeinschaft mit 1 Meine Leserinnen mögen es mir nicht verübeln, wenn ich vorwiegend aus ästhetischen Gründen darauf verzichte, uns jedes Mal eigens zu erwähnen. Eine Kultur inklusiver Wahrnehmung möchte ich bei allen meinen Lesern und Leserinnen einfach voraussetzen. 2 Vgl. dazu die Angaben bei J. Kremer, „Nimm deine Hand und lege sie in meine Seite!“ Exegetische, hermeneutische und bibeltheologische Überlegungen zu Joh 20,24-29, in: The Four Gospels (FS F. Neirynck) (BEThL C), Leuven 1992, 2153-2128, 2153, Anm. 1 und 2. 3 Vgl. K. Laske u. a., Art. Thomaszweifel, in: E. Kirschbaum u.a. (Hrsg.), Lexikon der christlichen Ikonographie IV, Rom 1972, 301-303. 4 Das Bild entstand um 1600/1601; es ist heute in der Bildergalerie von Schloss Sanssouci in Potsdam zu sehen. M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) dem Gekreuzigten und Auferstandenen“ verweise.5 Die geforderte Berührung stehe für die „Unmittelbarkeit der Glaubenserfahrung“,6 die Jesus bejaht und gewährt. In dieser Begegnung – so ergänzt etwa wiederum Michael Theobald die Leerstelle des Evangeliums – lässt Thomas jedoch „sein ursprüngliches Ansinnen handgreiflicher Verifikation, das angesichts der gewährten Unmittelbarkeit absurd wäre, stillschweigend fallen (...), um (...) direkt seinen Glauben zu bekennen“.7 So werde er zum „Prototyp des Menschen, der den Schritt tut von einem kontrollieren wollenden Glauben zu einem Glauben, der aus der Unmittelbarkeit der Christusbegegnung erwächst“.8 Und diese vollziehe sich im Wort.9 Caravaggio taugt also nicht als Interpret des Evangelisten. Was jedoch irritierend bleibt, ist dessen Formulierung: fe,re ... kai. ba,le, „nimm und lege hinein“. Der inchoative Aorist evoziert tatsächlich die Vorstellung einer stattfindenden Handlung.10 Sie streichen zu wollen wird vom Text nicht ohne weiteres erlaubt. Die bedrängende Intimität der Szene, die hier nach Manier des Barockmalers vor den Augen des Lesers entstehen will – die Hand des Jüngers im Leib des Meisters – irritiert jedoch nachhaltig und lässt den johanneischen Leser nach tieferen Bezügen fragen. Zu welcher Berührung wird Thomas vom Auferstandenen aufgefordert? Welche Bedingung des Osterglaubens wird ihm dadurch erfüllt? Die trotzig klingende Eindringlichkeit in der Forderung des Thomas, der „auf keinen Fall“ glauben will ohne diese Berührung (evan. mh. i;dw ... kai. ba,lw ... ouv mh. pisteu,sw), wurde oft als Ausdruck seines Unglaubens interpretiert; sie kann aber auch Signal einer Bedingung sein, die auf jeden Fall 5 J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2) 2165. Für C. Hergenröder geht es um die personale „Bindung an Jesus den lebendigen Herrn“, vgl. C. Hergenröder, Wir schauten seine Herrlichkeit. Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont von Selbsterschließung Jesu und Antwort des Menschen (fzb 80), Würzburg 1996, 529. 6 M. Theobald, Der johanneische Osterglaube und die Grenzen seiner narrativen Vermittlung, in: Von Jesus zum Christus. Christologische Studien (FS P. Hoffmann), Berlin 1998, 93-123, 120. 7 Ebd.. 8 C. Dietzfelbinger, Johanneischer Osterglaube (ThSt B 138), Zürich 1992, 48. 9 M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6) 121. 10 Inchoativ interpretiert J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2) 2164; möglich ist auch effektiv, vgl. BDR 337. 2 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) erfüllt werden muss, damit ein voller österlicher Glaube zustande kommt. Was „fehlt“ noch in der Reihe der bisher geschilderten Glaubenserfahrungen der Osterzeugen in Joh 20, die ja nicht nur als einzelne zu sehen sind, sondern in ihrer Gesamtheit als Osterkatechese des Evangeliums interpretiert werden wollen?11 Eine Irritation im Lesevorgang verspricht, rezeptionsästhetisch gesehen, immer eine Entdeckung, wenn die vom Text erwartete Kooperationsleistung gelingt. Was will Thomas sehen? Aufschluss erwartet der Leser des Joh zunächst vom Erzählzusammenhang der Thomasperikope Joh 20,24-29. Hier geht es um die Verbindung von Sehen und Glauben. Die Jünger empfangen den Nachzügler: „Wir haben den Herrn gesehen“ (Joh 20,25). Thomas scheint sich jedoch nicht für den Auferstandenen zu interessieren, den die übrigen „gesehen“ haben (Joh 20,25); was er berührend sehen will, sind die Male der Nägel und die Seite des Gekreuzigten. Durch diese Bedingung thematisiert er nicht nur seine Abwesenheit „am Abend dieses ersten Tages der Woche“ (Joh 20,19), sondern zunächst seine Abwesenheit unter dem Kreuz. Auch an den beiden anderen Stellen, an denen „Thomas, genannt Zwilling“ bisher im Evangelium zu Wort gekommen ist, geht es um diese Auseinandersetzung mit Jesu Weg in den Tod: Unterwegs nach Bethanien äußert er spontan wie später Petrus (Joh 13,37) 11 Vgl. dazu M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6); J. Zumstein, Narratologische Lektüre der johanneischen Ostergeschichte, in: ders., Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im 2 Johannesevangelium, Zürich 2004, 277-290; L. D. George, A Literary-Rhetorical Analysis of the Johannine Resurrection Narrative (John 20,20-21), (Studies in Biblical Literature, 14), New York u.a. (P. Lang), 2000; A. Leinhäupl-Wilke, Rettet ein Buch? Spurensuche in den Rahmenteilen des Johannesevangeliums, in: K. Löning/M. Faßnacht (Hrsg.), Rettendes Wissen. Studien zum Fortgang weisheitlichen Denkens im Frühjudentum und im frühen Christentum (AOAT 300), Münster 2002, 269-316; ders: Rettendes Wissen im Johannesevangelium. Ein Zugang über die narrativen Rahmenteile (1,19-2,12 – 20,1-21,25), (NTA NF 45), Münster 2003; vgl. aber bereits die Studien der Exegeten des Biblicum in den 70er Jahren: D. Mollat, La foi pascale selon le chapitre 20 de l´ evangile de saint Jean, in: E. Dhanis (Hrsg.), Resurrexit. Actes du symposium international sur la Résurrection de Jésus, (Rome 1970), Libreria Vaticana 1974, 316-139 ; L. Dupont/Chr. Lash/G. Levesque, Recherche sur la structure de Jean 20 in: Bib 54 (1973) 482-498; I. de la Potterie, Genèse de la foi pascale d´ après JN.20, in: NTS 30 (1984) 26-49. 3 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) seine Bereitschaft, mit Jesus zu gehen „um mit ihm zu sterben“ (Joh 11,16); doch als Jesus in seiner ersten Abschiedsrede von seinem „Weg“ spricht, ist er es, der dieses Wort nicht verstehen kann (Joh 14,5). Noch am zweiten Osterabend wartet Thomas also auf etwas, was der Leser der joh Kreuzigungserzählung bereits gesehen hat (vgl. Joh 19,34-36): das erlösende Blut (vgl. Joh 1,29) und das Wasser des Leben spendenden Geistes (vgl. Joh 1,33; 7,37b.38) aus der Seite des Gekreuzigten.12 Das Zeugnis (vgl. Joh 19,35) von der Heilsbedeutung des Todes Jesu hat Thomas noch nicht erreicht, und deshalb kann er nicht glauben. In der großartigen Erzählung Joh 20,24-29 wird der Leser jedoch Zeuge, wie sich Thomas als einem, der nicht unter dem Kreuz gestanden hat, die Einheit des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten erschießt,13 und wie daraufhin das große Bekenntnis zu Jesus als „meinem Herrn und Gott“ die im Prolog (Joh 1,14) angelegte christologische Linie des Joh vollendet. 12 Vgl. J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2) 2161. Zur soteriologischen Symbolik von Joh 19,35f vgl. R. Schnackenburg, Johannesevangelium (HThK IV, III), Freiburg i. Br., 1975, 334345; I. de la Potterie, Die Passion nach Johannes. Der Text und sein Geist, Einsiedeln 1987, 131-143; L. P. Jones, The Symbol of Water in the Gospel of John (JSNT.S 145), Sheffield 1997. Zur nicht abreißenden Diskussion um die Theologie des Todes Jesu im Joh vgl. auch J. Frey, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, in: A. Dettwiler/J. Zumstein (Hrsg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), Tübingen 2001, 169-238 mit den Literaturangaben S. 170f, Anm. 2. 13 Die Identität des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten ist der Skopos der Thomasinterpretation in den neueren evangelischen Auslegungen, die v.a. gegen E. Käsemann eine „Kreuzestheologe“, mit J. Frey nach E. Jüngel richtiger, eine „Theologie des Gekreuzigten“ im Joh aufzeigen vgl.: H. Kohler, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium. Ein exegetisch-hermeneutischer Versuch zur johanneischen Kreuzestheologie (AthANT 72), Zürich 1987, 159-191. Die Anschaulichkeit des Joh, die Kohler gegen eine doketistische Tendenz betont (190f), zeigt sich für ihn gerade auch in den Wundmalen, die den „unendlichen Wert des Gekreuzigten“ bleibend sichtbar machen (166); vgl. ferner Th. Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums. Das Verständnis des Todes Jesu im Rahmen der johanneischen Inkarnations- und Erhöhungschristologie (WMANT 69), Neukirchen 1994, 266-268; M. Lang, Johannes und die Synoptiker. Eine redaktionsgeschichtliche Analyse von Joh 18-20 vor dem markinischen und lukanischen Hintergrund, (FRLANT 182), Göttingen 1999, 287-294. 4 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Die Zeichenforderung des Thomas und die österliche Lektüre der Zeichenforderungen Joh 2,18 und Joh 6,30 Thomas formuliert seine Bedingung als regelrechte Zeichenforderung;14 der Text signalisiert dadurch, dass er sie im Kontext dieser Stellen gelesen haben will. Fast wörtlich greift Thomas die Formulierung Jesu auf, mit der er auf die Bitte des königlichen Beamten reagiert: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht“ (Joh 4,48). Es gibt jedoch im Joh zwei explizite Zeichenforderungen an Jesus: Die eine wird ihm von den Juden nach der Tempelaktion gestellt (Joh 2,18), die andere von der Menge im Anschluss an das Brotwunder (Joh 6,30). Strukturell gesehen finden sie sich nach dem ersten der sieben Zeichen in Kana und nach dem vierten und mittleren Zeichen der Brotvermehrung. Auffällig ist weiter, dass sie im Kontext der beiden Paschafeste vorkommen, die im Joh das dritte Pascha, das Todespascha Jesu präludieren.15 Diese beiden Zeichenforderungen werden in den Arbeiten zu den Semeia Jesu in der Regel als Kontrastfolie zur geforderten Haltung des unbedingten Glaubens an Jesus angesichts seiner Zeichen ausgewertet; sie erscheinen als Demonstration des Unglaubens,16 die Jesus deshalb gerade nicht erfüllen kann. Dennoch bemerkt Christian Welck, dass Jesus sie „wenn auch anders als erwartet und dabei die ursprüngliche weil zutiefst ´menschliche´ Intention der Forderung auf den Kopf stellend – erfüllt“.17 Diese nach der Tempelaktion noch 14 Vgl. dazu M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6) 119. Vgl. dazu die übrigen Zeichenforderungen im NT: Mk 8,12; Mt 12,38f.. 16,1-4; Lk 11,16.29; 1 Kor 1,22f.. Anders interpretiert W. Bonney, Caused to believe. The Doubting Thomas Story as the Climax of John´s Christological Story (Biblical Interpretation Series 62), Leiden 2002: Thomas, der „Realist“, mache sich mit seiner „sarkastischen“ Forderung an die Jünger über deren Osterzeugnis lustig (159). Das ist eine zu stark psychologisierende Deutung, die keinen Raum mehr lässt für die symbolische Bedeutung der Erzählung. Für Bonney verfolgt Joh in seinem ganzen Evangelium primär die christologische Intention, seinen Lesern erstens Jesus in seiner Beziehung zu Gott und zweitens in seiner Beziehung zu den Menschen zu zeigen und darin als den, der hinter dem christlichen Glauben steht, vgl. ebd., 28. 15 Die Linie der drei Paschafeste ist eine der zentralen Sinnlinien der österlichen Lektüre des Joh. 16 Vgl. Chr. Welck, Erzählte Zeichen. Die Wundergeschichten des Johannesevangeliums literarisch untersucht. Mit einem Ausblick auf Joh 21 (WUNT II 69), Tübingen 1994, 103ff, 124. 17 Ebd., 106. 5 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) leicht ironisch und nach den Zeichen am See in Joh 6,30 schon fast „grotesk“18 wirkende Brechung zwischen Forderung und Erfüllung ist wiederum als Signal für eine erwartete Kooperationsleistung des Lesers mit dem Text zu werten; in diesem Fall ein Signal für die Transparenz der vorösterlichen Situation auf die österliche Bedeutung der beiden Zeichenforderungen und ihrer Erfüllung. Die Zeichenforderung der Juden (Joh 2,18) nach der Tempelaktion am ersten Paschafest,19 die Jesus seiner mangelnden Legitimation überführen will, wird zum Ausgangspunkt seiner Selbstdeutung im Tempellogion (Joh 2,19), das vorösterlich ein Rätselwort bleibt und den Unglauben der Zuhörer offenbart (Joh 2,20). Im österlichen Licht (vgl. die Prolepse Joh 2,22) erscheint im Zeichen und in dem dieses deutenden Logion schon am Beginn des Evangeliums dessen ganze Botschaft. Jesus macht durch seine Tempelaktion vor, was an ihm selbst geschehen wird: Durch die Hingabe seines Leibes und die Auferstehung dieses Leibes wird er selbst, Jesus, der wahre Tempel, zum Ort der Anbetung Gottes. Was sich am dritten Paschafest voll offenbart ist schon am ersten Paschafest gegenwärtig und kann damit schon am Beginn des Evangeliums den Leser ( – nicht die Personen in der Erzählung!) zum voll sehenden österlichen Glauben führen: Jesus ist der Gekreuzigte und Auferstandene; in der sa,rx offenbart sich die do,xa (vgl. Joh 1,14). Dies offenbart sich in Jesu Reden und Tun, und zwar im Joh von Anfang an.20 18 Ebd., 124. Vgl. zur neueren Exegese von Joh 2,13-22: U. Schnelle, Die Tempelreinigung und die Christologie des Johannesevangeliums, in: NTS 42 (1996) 359-373; Th. Söding, Die Tempelaktion Jesu. Redaktionskritik, Überlieferungsgeschichte, historische Rückfrage, in: TThZ 101 (1992) 36-64; J. Rahner, Er aber sprach vom Tempel seines Leibes (BBB 117), Bonn 1998; Chr. Metzdorf, Die Tempelaktion Jesu. Patristische und historisch-kritische Exegese im Vergleich, (WUNT II 168), Tübingen 2003. 20 So führt die österliche Erzählstrategie des Joh den Leser buchstäblich von hinten nach vorn: 2,22: im österlichen Licht glauben die Jünger, 2,21: dass Jesus von sich selbst gesprochen hat, 2,19: von seinem Tod und seiner Auferstehung, 2,18: als dem Zeichen, 2,17: das in der Schrift bezeugt ist, 2,16: das er in der Reinigung des Tempels prophetisch darstellt und vorwegnehmend deutet, 2,13: und das ein „Pascha-Geschehen“ ist. 19 6 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Eine mit der Denkbewegung der Tempelreinigung vergleichbare österliche Erzählstruktur, die ebenfalls schrittweise von der äußeren Zeichenforderung bis zur österlich-„eucharistischen“ Deutung voranschreitet, hat Thomas Popp jüngst für Joh 6 aufgewiesen.21 Die Zeichenforderung in Joh 6,30 unterbricht zunächst den Gedankengang von Joh 6,26-29. Die „klassische Legitimationsfrage“22 lässt den Unglauben der Gesprächspartner erkennen, die – ironische Brechung – das Zeichen der Brotspeisung gesehen haben ohne darin Jesu Einheit mit Gott zu erkennen und jetzt ein neues Wunder fordern.23 Jesus nennt ihnen, wie im Tempellogion vorösterlich verschlüsselt, in seinem Ich-Bin-Logion das geforderte Zeichen: Es ist – wie im Tempellogion – wieder er selbst, seine Selbstgabe im Brot des Lebens (Joh 6,35). In den folgenden Redegängen wird dies schrittweise vertieft bis zur „eucharistischen“ Fortschreibung oder Verdichtung der Brotrede in Joh 6,51-58.24 Sie gipfelt in der Aufforderung Jesu, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken, um so die bleibende Lebensverbindung mit dem Spender des Lebens zu erlangen („... der bleibt in mir und ich bleibe in ihm“, 6,56f). Spätestens an dieser Stelle der Komposition wird die Zeichenforderung von 6,30 transparent für ihre österliche Erfüllung. Denn im österlichen Vollsinn „sehen und glauben“, wie die Menschen es in Kafarnaum – vorösterlich ungläubig – verlangen, wird der johanneische Christ nicht auf Grund des Semeions der Brotspeisung am See. Dies ist erst möglich auf Grund der – nachösterlich erfahrenen – „eucharistischen“ Selbstgabe, auf die das Speisungswunder wiederum als Vor-Zeichen verweist.25 21 Th. Popp, Grammatik des Geistes. Literarische Kunst und theologische Konzeption in Johannes 3 und 6 (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 3), Leipzig 2001. 22 Chr. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum Evangelium (WUNT II, 84), Tübingen 1996, 260. 23 Th. Popp, Grammatik (s. Anm. 21) 319. 24 Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung von Th. Popp, Grammatik (s. Anm. 21) 379386; K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften (HBS 21), Freiburg 2000, 198-206. 25 Wenn hier und im Folgenden von „eucharistisch“ gesprochen wird, will dies nicht anachronistisch und systematisierend spätere Entwicklungen in das Joh zurückprojizieren. Mit „eucharistisch“ bezeichne ich jeweils den Aspekt der Selbstgabe Jesu, wie er im Joh in der österlichen Symbolik seiner Mahlszenen und der sie deutenden Reden zum Ausdruck kommt. Zum Zusammenhang von Christologie und Eucharistie in Joh 6 vgl. M. Reiser, Eucharistische Wissenschaft. Eine exegetische Betrachtung zu Joh 6,26-59, in: Vorgeschmack. Ökumenische Bemühungen um die Eucharistie (FS Th. Schneider), Mainz 1995, 164-177; Th. Popp, Grammatik (s. Anm. 21) 376-379; K. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 24) 391-408 und ders.: 7 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Die beiden Zeichenforderungen sind somit nicht allein die Negativfolie der Semeia und Ausdruck des Unglaubens der Menschen, sondern – wenn auch in charakteristischer Brechung – Hinweis auf die österliche Transparenz der Semeia und Ansatzpunkt für den österlich sehenden Glauben des Lesers. Als solche nehmen sie im Verweisnetz der Semeia im Johannesevangelium ihre charakteristische Stellung ein: Die Zeichenforderungen verlangen mehr als der irdische Jesus des Joh geben kann: einen Beweis seiner Gottessohnschaft vor, und das bedeutet, ohne seinen Tod und seine Auferstehung. Deshalb sind sie im Evangelium negativ als Unglaube und letztlich als Sünde qualifiziert.26 Erst wenn man mit seinem Glauben diesem Jesus bis an die Grenze des Todes folgt, so zeigt es die Schwester des Lazarus im siebten und letzten Zeichen, wird man „die Herrlichkeit Gottes sehen“ (Joh 11,40). In den Semeia vor Ostern geht es um das radikale Glauben an Jesus noch ohne die volle Offenbarung. Nach Ostern geht es jedoch darum, die Offenbarung Gottes in der heilbringenden Lebenshingabe seines Sohnes (die „Herrlichkeit“) zu sehen und zu glauben (vgl. Joh 17,24; 1,14; 19,35), um so das Leben zu haben. Erst von Ostern her erkennt man dann auch, wie beide Zeichenforderungen von Jesus erfüllt werden. Die Erfüllung ist jeweils er selbst in seiner Selbstgabe: als gekreuzigter und auferstandener Leib (vgl. Joh 2,21) und als das Leben spendende Brot (Joh 6,35). Die Erfüllung der beiden vorösterlichen Zeichenforderungen – so meine These – wird nun narrativ gestaltet als Antwort auf die dritte Zeichenforderung in der österlichen Begegnung mit Thomas. Sie verweisen deshalb aufeinander und auf diesen Schluss des Evangeliums. Die Brotrede Jesu Joh 6,1-71. Exegetische Beobachtungen zu ihrem johanneischen Profil, in: ZKTh 122 (2000) 35-55. Zur Forschungsgeschichte der Diskussion um die Eucharistie im Joh vgl. L. Wehr, Arznei der Unsterblichkeit. Die Eucharistie bei Ignatius von Antiochien und im Johannesevangelium (NTA NF 18), Münster 1987, 9-17. Eine dezidiert nicht-eucharistische Lektüre von Joh 6 bietet jüngst M. Stare, Durch ihn leben. Die Lebensthematik in Joh 6 (NTA 49), Münster 2004. 26 Dies ist primär als Signal für die Leser, nicht als Verurteilung der Personen im Evangelium zu verstehen. Vgl. als synoptische Bearbeitung des Themas Mk 8,11-13 (Mt 16,1-4) und Mk 8,3133. 8 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Denn Thomas will die Heilsbedeutung des Todes Jesu sehen – das „Zeichen“ des niedergerissenen und aufgerichteten Leibes Jesu (vgl. Joh 2,18f.); deshalb seine Forderung, „in seinen Händen das Mal der Nägel“ sehen zu wollen (Joh 20,25). Damit ist die intratextuelle Verknüpfung mit der ersten Zeichenforderung gegeben. Thomas will jedoch, so seine zweite Forderung, berührend sehen, indem er seinen Finger in das Mal der Nägel und seine Hand in die Seite Jesu legen will. Dieses krasse Bild des Eindringens in den Leib des Auferstandenen, das realistisch kaum vorstellbar ist, hat jedoch ein Vorbild oder ein Pendant in der ebenso krass anstößigen Aufforderung Jesu, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken (Joh 6,53-57), um in Jesus zu bleiben und durch ihn zu leben. Hier sehe ich die intratextuelle Verknüpfung zur zweiten Zeichenforderung Joh 6,30 und ihrer österlichen Antwort gegeben mit dem Thema der bleibenden Lebensverbindung mit Jesus (vgl. Joh 6,34) im Lebensbrot. Das gläubige Sehen, so die Osterbotschaft des Johannes, führt weiter und mündet in das Berühren und Essen, zur Lebensverbindung mit dem Auferstandenen im österlichen Mahl. Die Lebensverbindung mit dem Auferstandenen ist auch Thema der Ostertheologie in den Abschiedsreden. Was die Thomasperikope in der Berührung symbolisch inszeniert, wird dort wie in der Brotrede Joh 6,56 mit der Formulierung der reziproken Immanenz ausgedrückt: „An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin, und ihr in mir und ich in euch“ (Joh 14,20).27 Verdichtete Theologie in den großen Selbstaussagen Jesu wird im Joh oft in den großen Begegnungen narrativ-symbolisch in Szene gesetzt.28 Dieses joh Stilelement findet sich auch hier: Die abstrakte Sprache der Immanenz verweist auf die konkret erzählten Zeichenforderungen und ihre symbolische Erfüllung. Denn das gegenseitige In-Sein realisiert sich einerseits in der Aufforderung Jesu, sich Fleisch und Blut des Menschensohnes „einzuverleiben“ 27 Vgl. K. Scholtissek, In ihm sein (S. Anm. 24) 260-264. M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6) 96 nennt Joh 14,18-24 den Ostertext des Abschied nehmenden Jesus schlechthin. 28 Vgl. Joh 8,12 mit Joh 9,1-41; Joh 7,37-38 mit Joh 4,1-42; Joh 11,25 im Kontext der Lazarusperikope, sowie den „Ostertext“ der Abschiedsrede Joh 14-17 mit den österlichen Begegnungen mit dem Auferstandenen in Joh 20. 9 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) (Joh 6,5629), wie auch in der Einladung Jesu an Thomas, Finger und Hand in seinen auferstandenen Leib zu legen und so gewissermaßen „in“ Jesus zu sein. Die Irritation durch die Berührung der Wunden hat im Text des Joh also eine zunächst vielleicht überraschende Spur entdecken lassen, und zwar durch das intratextuelle Verweissystem der Zeichenforderungen und ihrer österliche Erfüllung. Die Symbolik der Berührung der Wunden will im Zusammenhang der joh Thematik „Lebensverbindung mit Jesus im Mahl“ gelesen werden. Dieses Thema lässt sich im Joh als Sinnlinie30 durch das gesamte Evangelium verfolgen; sie hat ihr Zentrum im Zeichen des Brotwunders und der dieses auslegenden Brotrede, führt von dort weiter zur Fußwaschung beim Abschiedsmahl Jesu Joh 13,1-11 und mündet in das Ostermahl am See im Epilog Joh 21. Auf textsemantischer Ebene lassen sich die Sinnlinien des Joh vor allem durch die Technik der Leitmotivik erschließen, die durch die spezifisch joh Kunst der Wiederholung zum sprachlichen Instrument der theologischen Konzeption des vierten Evangeliums wird. Dies wurde wiederholt beobachtet und beschrieben.31 Damit verbunden sind jedoch auch leitmotivische Verknüpfungen auf der narrativen Ebene. Es finden sich in jeweils unterschiedlichen Texten des 29 Explizit verbunden mit einer Formulierung der reziproken Immanenz! Unter der Metapher „Sinnlinie“ verstehe ich mit Egger Elemente eines Textes, die bedeutungsmäßig zusammengehören, vgl. W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg 1987, 97. Egger verwendet sie entsprechend seinem strukturalen Ansatz im Sinn einer Erstellung des semantische Inventars eines Textes. Man kann die Metapher jedoch auch innerhalb einer prozeduralen (rezeptionsorientierten oder semiotischen) Interpretation einsetzen: Ein Text lenkt seinen Lesevorgang durch Linien, die verschiedene Elemente des Textes miteinander verbinden und entlang derer sich Schritt für Schritt der Sinn-Zusammenhang aufbaut. Im Hintergrund steht hier das semiotische Modell U. Ecos vom Text als Rhizom, vgl. ders., Lector in Fabula, München 1987. Zur Anwendung der Textsemiotik für die neutestamentliche Exegese vgl. S. Pellegrini, Die Sturmstillungsperikope (Mk 4,35-41). Eine Lektüre nach Ecos ModellLeser-Theorie, in: Annali di Studi Religiosi 3 (2002) Bologna 2002, 319-373; zur Unterscheidung von stukturaler und prozeduraler Analyse vgl. ebd., 321; vgl. ferner dies., Elija – Wegbereiter des Gottessohns. Eine textsemiotische Untersuchung im Markusevangelium (HBS, 26), Freiburg 2000, bes. 88-92. Vgl. dazu auch M. Gruber, Wandern und Wohnen in den Welten des Texts. Das Neue Testament als Heilige Schrift interpretieren (SNTU, 29), Linz 2004, 41-66. 31 Vgl. dazu den Überblick bei Th. Popp, Grammatik (s. Anm. 21) insbes. zu „Repetition, Variation und Amplifikation im JohEv“, 67-77. 30 10 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Evangeliums erzählerische Elemente, die signalisieren, dass diese Erzählsequenzen sich gegenseitig interpretieren. Dies können sein: Art und Abfolge von bestimmten Handlungen und Situationen, Personenkonstellationen, Konstellationen von Ort und Zeit. So entsteht über die lexematische Verknüpfung hinaus ein Spiegeleffekt zwischen verschiedenen Texten auf narrativer Ebene; die dadurch geforderte komplementäre Lektüre dieser narrativen Sequenzen ist vom Gesamttext selbst intendiert und für die Interpretation des jeweiligen Einzeltextes von entscheidender Bedeutung. Ich möchte für diese literarische Technik der Intratextualität den Begriff der narrativen Spiegelung vorschlagen.32 Insbesondere für die Interpretation der Symbolik der joh Ereignisse und Handlungen ist die Beachtung dieser Textsignale weiterführend, wie ich im Folgenden anhand der Sinnlinie „Lebensverbindung mit Jesus im Mahl“ zeigen möchte: Die Sinnlinie „Lebensverbindung mit Jesus im Mahl“ in Joh 6 und im Kontext der joh Ostertheologie Dass das lange Kapitel Joh 6 als joh „Ostertext“ gelesen werden will, Zeugnis der österlichen Erinnerung, die vom Geist geführt ist, der sich dafür auf literarischer Ebene seine eigene „Grammatik“ schafft, hat neuerdings überzeugend Th. Popp aufgewiesen.33 An dieser Stelle sollen lediglich die für unsere Frage nach der Thomasperikope wichtigen Linien skizziert werden. So spielt in Joh 6,52-58 das „Bleiben“ in Jesus und sein Bleiben in dem, der ihn als Speise aufnimmt, eine zentrale Rolle (me,nein, Joh 6,56). Nun ist die drängende Frage nach der bleibenden Gegenwart des Erhöhten nach seinem „Aufsteigen“ zum Vater (Joh 20,17) der Ausgangspunkt für die joh Ostertheologie. Der 32 Dieser Begriff ist ebenfalls als Instrument nicht eines strukturalen sondern eines prozeduralen, auf den Prozess des Lesens konzentrierten Interpretationsansatzes zu verstehen. Vgl. dazu die Untersuchung der narrativen Spiegelungen der Salbungsgeschichte Joh 12,1-8 in M. Gruber, die Zumutung der Gegenseitigkeit. Zur johanneischen Deutung des Todes Jesu anhand einer pragmatisch-intratextuellen Lektüre der Salbungsgeschichte Joh 12,1-8, in: G. van Belle (Hrsg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, (BETL), Leuven 2006. 33 Vgl. Th. Popp, Grammatik (s. Anm. 21). 11 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) dadurch ausgelöste theologische Denk- und Kontemplationsprozess hat das Meisterwerk der joh Abschiedsrede Joh 14-17 hervorgebracht,34 der weniger ein rückblickender Abschiedstext als vielmehr ein in die Gegenwart hinein sprechender „Ostertext“35 ist; der Reigen der vier Erscheinungserzählungen in Joh 20 ist als „narrative Vergegenwärtigung“ dieser Botschaft zu lesen.36 In Joh 6 liegt eine vergleichbare Komposition von Handlung und Rede vor, allerdings in umgekehrter Beziehung: Hier sind es die narrativen Textteile der beiden Zeichen der wunderbaren Speisung (Joh 6,1-15) und des Seewandels (Joh 6,16-21), die in den folgenden beiden Dialogszenen (Joh 6,22-59 und Joh 6,60-71) ihre österliche Auslegung erfahren: Die Brotrede deutet das Speisungswunder als Zeichen für die Lebenshingabe Jesu („mein Fleisch für das Leben der Welt“, Joh 6,51) und gibt in der nochmaligen „eucharistischen“ Interpretation dieser Rede eine Antwort auf die Frage, wie der Glaubende bleibend mit dieser Wirklichkeit verbunden sein kann. Die Antwort ist: Im österlichen Mahl wird der Glaubende in die Hingabe Jesu hineingenommen und seine Lebensverbindung mit Jesus bleibend erfahrbar (Joh 6,56ff). Die Auseinandersetzung um Glaube und Unglaube der Jünger in der zweiten Dialogszene Joh 6,60-71 greift dagegen die Seewandelerzählung auf mit dem dort geschilderten Weg aus der „Finsternis“ (vgl. Joh 6,17: skoti,a) des Unglaubens zum Erkennen Jesu. Auch hier finden sich Textsignale für eine österliche Lektüre: Das Motiv des Weggehens und Wiederkommens Jesu lässt das Thema der Abschiedsrede anklingen (Joh 14,1-6. 18f. 23. 28; 16,7.16-22), Selbstoffenbarung aus der Finsternis von Meer und Sturm sind Motive, die auf 34 Ich nenne hier aus der umfangreichen Liste neuerer Untersuchungen nur diejenigen, die insbesondere die Frage der Oster-Relecture stellen: A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31-16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters (FRLANT 169), Göttingen 1995; Chr. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes (s. Anm. 22); K. Scholtissek, Abschied und neue Gegenwart. Exegetische und theologische Reflexionen zur johanneischen Abschiedsrede 13,31-17,26, in: ETL 75 (1999) 332-358; J. Rahner, Vergegenwärtigende Erinnerung. Die Abschiedsreden, der Geist-Paraklet und die Retrospektive des Johannesevangeliums, in: ZNW 91 (2000) 72-90; M. Gruber, Die Gegenwart des Kommenden. Österliche Auslegung der Abschiedsrede Jesu Joh 14-17, in: G. Augustin u.a. (Hrsg.), Priester und Liturgie. Festschrift Manfred Probst, Paderborn 2005, 147-166. 35 M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6) 96. 36 Ebd.. 12 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) die Osterepiphanien vorweisen (vgl. v.a. das Kommen Jesu und seine Selbstoffenbarung vor den Jüngern in Joh 20,19-23). Wichtig ist mir bei dieser skizzenhaften Oster-Lektüre von Joh 6, dass sich hier eine Antwort auf die Frage nach der bleibenden Gegenwart des Weggegangenen zeigt, die die in der Abschiedsrede entwickelte ergänzt. Dort ist es die Gegenwart des Erhöhten im Geist, der ihn in seinem Wort präsent setzt37 und die Gegenwart des Erhöhten in der gegenseitigen Liebe (Einheit) der Jünger, die für die Glaubenden Ostern erfahrbar machen.38 Zu diesen Weisen seiner Gegenwart tritt nun in Joh 6 das (österliche) Mahl, in dem die Lebensverbindung mit dem Weggegangenen und Wiedergekommenen 39 bleibend erfahren werden kann. Die Sinnlinie „Lebensgemeinschaft mit Jesus im Mahl“ besitzt ihr Zentrum in Joh 6,52-58, führt jedoch weiter zur Erzählung von der Fußwaschung Joh 13,111. Diese steht an der Stelle, wo synoptisch das Abendmahl mit Jesu Worten über seine Selbstgabe in Brot und Wein steht. Dass diese im Joh fehlen ist deshalb möglich, weil der Erzähler das Abendmahlsthema aus dem Passionszusammenhang herausgenommen und in sein zweites, galiläisches Paschafest vorverlagert hat. Dadurch entsteht intratextuell ein Spiegeleffekt zwischen den beiden Themen Lebensbrot und Fußwaschung.40 Traditionsgeschichtlich ist der Bezugspunkt beider Texte die synoptischpaulinische Abendmahlstradition (vgl. Joh 6,11 mit Lk 22,19); hermeneutisch ist es jedoch die Erfahrung des österlichen Mahls der Gläubigen, aus der heraus das Joh sowohl Speisungswunder mit Brotrede als auch die Fußwaschung erzählt und auslegt. 37 Vgl. M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6) 99. Vgl. M. Gruber, Gegenwart (s. Anm. 34) 156-158.162. 39 Signale im Text sind: zum „Fleisch“ tritt das „Blut“; das präsentische „verzehren“ (trw,gein, Joh 6,56-58) weist auf eine sich wiederholende Erfahrung hin, vgl. B. Schwank, Evangelium nach Johannes, St. Ottilien 1996, 122f.. 40 Weitere Textsignale für diese komplementäre Lektüre sind: die Paschafestangabe (Joh 6,4; Joh 13,1), das Mahl sowie das Motiv des „Wissens“ Jesu, das beide Szenen einleitet (vgl. Joh 6,6 mit Joh 13,1). Am Ende des Brotwunders taucht das Motiv des gewaltsamen Fortführens (6,15, a`r` pa,zein) sowie das Königsmotiv auf; diese sind bereits Andeutungen der Passion und als Textsignale für eine Verknüpfung beider Paschafeste zu lesen. 38 13 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Das Mahl gibt in Joh 13 jedoch nur den Rahmen ab für die Deutung, die der joh Jesus seiner bevorstehenden Lebenshingabe gibt: nicht durch die Worte über Brot und Wein, sondern durch die symbolische Zeichenhandlung der Fußwaschung. Diese provozierende Art zu dienen wird von Petrus als Zumutung empfunden; nicht in erster Linie deshalb, weil sein „Herr und Meister“ seine soziale Rolle durch eine Tat der Selbsterniedrigung durchbricht (Joh 13,6), sondern weil er die Annahme dieses Sklavendienstes – und damit seines Todes – zur Voraussetzung für die Teilnahme an seinem Leben macht: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“ (Joh 13,8). Das Thema der Lebensverbindung ist damit genannt;41 auch das Mahl ist als szenischer Rahmen präsent, die Gabe des Brotes jedoch ist ersetzt durch eine Geste intimer Berührung! Diese Geste ist so zentral, dass sie im Joh in narrativer Verdopplung sozusagen als „Diptychon“ präsentiert wird, denn die Fußwaschung wird vorbereitet durch die Fußsalbung Joh 12,1-8.42 Jesu Tod wird in Joh 13,1-11 als Tat der Liebe dargestellt (vgl. Joh 13,1), die eine unsagbare Lebensgemeinschaft mit ihm herstellt. Der Dialog mit Petrus unterstreicht die Bedeutung der Annahme dieser Tat und dieses Lebens mit großer Eindringlichkeit; so setzt die Fußwaschung in Szene, was Jesus als Abschluss der Brotrede formuliert: die Lebensgabe ist an die Bedingung des Essens und Trinkens von Fleisch und Blut des Menschensohnes geknüpft (Joh 6,53). 41 Me,roj bezeichnet den Erb -Anteil an Gott, vgl. im AT 2 Sam 20,1; Jes 57,6; Num 18,20; im joh Kontext steht er für das ewige Leben, vgl. H. Thyen, Johannesevangelium (HNT, 6), Tübingen, 2005, 588f. 42 Die narrative Spiegelung von Joh 12,1-8 und 13,1-11 ist besonders schön, denn die Übereinstimmung in der Abfolge der Handlung wird bis zu Übereinstimmungen in den Formulierungen durchgeführt. Drei Motive verbinden diese beiden Szenen miteinander: Jesu naher Tod, Nähe/Intimität zwischen Jesus und seinen Freunden bzw. seiner Freundin, sowie die Bedeutung des Annehmens oder der Abwehr dieser Nähe und damit des Todes Jesu. Die Fußsalbung bringt die Annahme der Lebenshingabe Jesu zum Ausdruck, die ebenfalls als Tat der Liebe dargestellt wird. Zur komplementären Lektüre von Salbung und Fußwaschung im Blick auf die Deutung des Todes Jesu vgl. M. Gruber, Zumutung (s. Anm. 32). Die Frage der Statusgrenze wird erst in der zweiten, auch sachlich nachgeordneten Deutung der Fußwaschungsgeste in Joh 13,12-15 wieder aufgegriffen und auf das Verhältnis der Jünger untereinander angewandt. 14 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) An dieser Stelle entsteht ein interessanter Spiegeleffekt zwischen der Fußwaschung und der Thomasperikope, und zwar über die beiden erzählten Berührungen: In Joh 13 geht die Initiative von Jesus aus, der dazu erst den Widerstand des Jüngers überwinden muss; Petrus muss die Berührung geschehen lassen, wenn er „Anteil“ an Jesus haben will (Joh 13,8). Thomas hingegen ergreift – wie Maria von Betanien – selbst die Initiative, die von Jesus ohne Kritik beantwortet und ohne Abstriche erfüllt wird. An Petrus wird im Kontext der Passionserzählung die Herausforderung einer Lebensverbindung mit Jesus gezeigt, die mit der „Reinigung“ durch seinen Tod verbunden ist; Thomas hingegen ist der Jünger, der nach Ostern diese Verbindung verlangt und erhält und sie mit seinem christologischen Bekenntnis beantwortet. Die Fußwaschung verbindet im Verweissystem des Joh das Thema Berührung mit dem Thema Mahl; so ist die österliche Thomasperikope über das Thema Berührung mit Joh 13 und über diesen Spiegeleffekt weiter mit Joh 6 und der Mahl-Linie verbunden.43 Den Abschluss findet die Mahl-Linie im Epilog des Evangeliums Joh 21. Was in der vorösterlichen Situation am See von Tiberias in zwei Doppelszenen (zwei Zeichen mit zwei sie interpretierenden Dialogszenen) auseinander fällt, ist in der österliche Begegnung am selben Ort ein einziges Geschehen. Hier treffen sich die beiden Linien, die in Joh 6 zu unterscheiden waren: Die Selbstoffenbarung Jesu und das Mahl der Lebensgemeinschaft mit ihm. Joh 21 ist eine österliche Fortführung und Vollendung von Joh 6. M. Hasitschka44 hat aufgezeigt, dass sich die beiden Zeichen am „See von Tiberias“45 aufeinander beziehen und dass die Brotrede in Joh 6 und insbesondere ihr so genannter „eucharistischer“ Teil Joh 6,51-58 nur im Blick auf diese österliche relecture in Joh 21 voll verständlich wird. 43 Die Zeichenforderung ist also nicht der einzige intratextuelle „link“ zwischen Joh 20,24-29 und Joh 6. 44 M. Hasitschka, Die beiden „Zeichen“ am See von Tiberias. Interpretation von Joh 6 in Verbindung mit Joh 21,1-14, in: SNTU 24 (1999), 85-102. 45 M. Hasitschka weist darauf hin, dass dieser Name nur hier und in Joh 6,1 genannt wird, vgl. ebd. (s. Anm. 35) 93. 15 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Nun spielt auffälligerweise gerade im Vergleich zu dieser Passage in Joh 21 das „Trinken“ keine Rolle; statt dessen „nimmt“ und „gibt“ Jesus in 21,13 Brot und Fisch wie im Speisungswunder Joh 6,11. Joh 21 will keine verspätete Abendmahlsszene sein und bietet auch nicht die volle „eucharistische“ Symbolik. Diese bleibt der deutenden Rede in Joh 6, 51-58, dem Zentralstück joh Lebensbrottheologie vorbehalten. Diese wird jedoch narrativ ausgefaltet und dadurch symbolisch in Szene gesetzt durch die beiden galiläischen Mahlszenen vor dem zweiten und nach dem dritten Paschafest des Joh. Durch die Spiegelung dieser beiden Szenen wird noch einmal die enge Verbindung zwischen Speisungswunder und österlichem Mahl hergestellt. Im Epilog Joh 21 wird die österliche Hermeneutik und die daraus folgende Erzählstrategie des Joh deutlich erkennbar: Was den Jüngern vorösterlich nicht möglich war, ist ihnen an Ostern möglich: Jesus im gemeinsamen Mahl zu erkennen (Offenbarungsaspekt) und zu empfangen (Teilgabeaspekt). Dieser Prozess, in dem sich eine neue österliche (Pascha-)Perspektive auf Jesus und auf die Gemeinschaft mit ihm eröffnet, spiegelt sich im Joh in der Weise, wie die vorösterlichen (Joh 6) und die österlichen (Joh 21) Erfahrungen der Jünger mit Jesus erzählt werden. Dadurch, dass der Evangelist die einzelnen Perikopen auf verschiedene Weise ineinander spiegelt, werden die dahinter liegenden Glaubensprozesse der Jünger, was natürlich heißt: der joh Christen, sichtbar und am Text nachvollziehbar.46 Der Zugang zum österlichen Jesus ist vermittelt durch die Erfahrung seiner lebendigen Gegenwart im Geist und durch seine Vergegenwärtigung im österlichen Mahl. Das bedeutet für die Thomasperikope: Auch sie ist Teil dieser österlichen Erzählkomposition und nicht als einzelne Stimme, sondern im Gesamt der Partitur zu lesen. 46 Dabei kommt dem namenlosen „Jünger, den Jesus liebte“ noch einmal eine besondere Funktion zu. Dieser Jünger beansprucht für sich, die Traditionsinstanz des Joh zu sein (Joh 21,24f). Die historische Frage ist hier von der textinternen Rolle dieser Erzählfigur noch einmal zu unterscheiden. Vgl. dazu J. Kügler, Der Jünger, den Jesus liebte. Literarische, theologische und historische Untersuchungen zu einer Schlüsselgestalt johanneischer Theologie und Geschichte. Mit einem Exkurs über die Brotrede Joh 6 (SBB 16), Stuttgart 1988. 16 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) „Thomas, genannt Zwilling“ ist der zweite Jünger, der in Joh 21,2 nach Simon Petrus genannt wird und somit ein Zeuge der ersten österlichen Mahlerfahrung im Joh. Wenn man Joh 21 tatsächlich als integralen Bestandteil des Johannesevangeliums verstehen darf,47 kann man damit rechnen, dass auch die auf die Lebensverbindung mit Jesus im Mahl verweisende und insofern sozusagen „eucharistische“ Dimension der Symbolik in der Thomasperikope sich von Joh 21 her tiefer erschließt und vielleicht sogar von vornherein auf diese Ergänzung angelegt war. Was nach Hasitschka für die Ostererfahrung am See Joh 21 gilt, betrifft dann auch die Begegnung mit Thomas: es geht „nicht um ein ´reines´ Glauben ohne jegliche Erfahrung der Wirklichkeit des Auferstandenen. In besonderer Weise kann ´Brot´ (Andeutung der späteren Eucharistie) dazu helfen, mit den ´Augen´ des Glaubens die Nähe und das Wirken des Auferstandenen zu erkennen.“48 Von Magdalena zu Thomas: Steigernde Intensität der Berührung in Joh 20 An dieser Stelle kann eine Antwort gegeben werden auf die Frage, warum, wenn meine These stimmt, im Osterkapitel Joh 20 nur dieser sehr verschlüsselte Hinweis auf das Thema der Lebensverbindung mit dem Auferstandenen im Mahl gegeben wird. Warum isst Jesus nicht am Osterabend mit den Jüngern wie in Lk 24? Warum wird das österliche Mahl auf den Epilog verschoben? Der Schlüssel scheint mir in der Antwort zu liegen, die der Auferstandene an Maria Magdalena gibt: „mh, mou a[ptou, halte mich nicht fest ...“ (Joh 20,17).49 Auch hier geht es um eine handgreifliche Berührung des Auferstandenen, und auch hier zeigt die Wirkungsgeschichte (noli me tangere) 47 Zumindest auf der Ebene der Endredaktion. Auch relecture-Prozesse im Sinne Zumsteins und Dettwilers sind letztlich diachrone Vorgänge, wenn sie auch synchron beschrieben werden können. Neuere Analysen wie die von M. Hasitschka (s. Anm. 44) sammeln jedoch gegen das bisherige Modell Beobachtungen dafür, dass das Korpus des Evangelium von vornherein auf diesen „Epilog“ angelegt war. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. 48 M. Hasitschka, Zeichen (s. Anm. 44) 101; vgl. auch J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2) 2179 mit Anm. 74. 49 Zu Maria vom Magdala vgl. S. Ruschmann, Maria von Magdala. Jüngerin – Zeugin – Lebensbotin (NTA NF 40), Münster 2002. 17 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) die Verlegenheit der Ausleger, damit in angemessener Weise umzugehen. Theobald bezeichnet diesen Satz als den hermeneutischen Schlüssel für Kap 20, den der Evangelist hier durch den auferweckten Jesus selbst seinen Lesern und Leserinnen übereichen lässt“.50 Er paraphrasiert ihn folgendermaßen: „Halte mich nicht fest, denn (als derjenige, der ich jetzt vor dir stehe, nämlich als der aus dem Grab Erweckte), bin ich noch nicht zum Vater gegangen; (meine Existenzweise als Auferweckter ist noch nicht meine eigentliche beim Vater, sie ist vorläufig).“51 Dieser abgrenzenden Aussage folgt die positive, in der Jesus nicht über seinen bevorstehenden Aufstieg informiert, sondern ihn im Blick auf seine Bedeutung für die Jünger und damit für die Glaubenden performativ ansagt: Als seine Brüder sind sie in seine Vater- und Gottesbeziehung hineingenommen.52 Theobald lädt dazu ein, von Joh 20,17 aus die joh Ostererzählungen „gleichsam gegen den Strich zu lesen: gegen seine verführerisch-anschauliche Narrativität will hinter dem Mythos der Logos ergriffen sein oder anders gesagt: Die Erzählungen vom Auferweckten wollen nicht als solche ´festgehalten´ werden, sondern möchten als Zeichen gelesen werden, die auf die österliche Wirklichkeit des Erhöhten im Geist hinweisen.“53 Nun ist es ja so, dass Thomas gewährt wird, worauf Magdalena wieder verzichten muss: die Berührung. Psychologische Spekulation ist hier abwegig, die Antwort will auf der symbolischen Ebene gefunden sein. Es ist immer wieder festgestellt worden, dass die Osterbegegnungen in Joh 20 durch eine sich steigernde Nähe zum Auferstandenen ausgezeichnet sind:54 Vom bloßen Sehen der Leinenbinden und des Schweißtuchs im Grab durch die beiden Jünger (Joh 20,1-10) zur Anrede und dem (Wieder-)Loslassen der Magdalena (Joh 20,11-18), vom bloßen Zeigen der Wunden vor den Jüngern und dem Anhauch des Geistes (Joh 20,19-23) zur Berührung der Wunden und zum „Einlass“ in die Seitenwunde als der Quelle dieses Geistes (vgl. Joh 19,34; 50 M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6) 113. Ebd., 111f.. 52 Vgl. ebd., 112. 53 Ebd., 113. 54 So etwa im Resumee von A. Leinhäupl-Wilke, Rettet ein Buch (s. Anm. 11) 310. 51 18 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) 7,37f.) bei Thomas. Dieser Befund wird zuweilen als absteigende Linie interpretiert, in der der Glaube des Lieblingsjüngers auf Grund des bloßen Sehens die Zielperspektive angibt.55 Die Zunahme an Nähe und Konkretheit ist jedoch als wirkliche Steigerung zu verstehen. In der Phase, in der Jesus „noch nicht hinaufgestiegen“ ist zu seinem Vater, also noch nicht seine volle österliche Präsenz erreicht hat, führen die Begegnungen mit ihm schrittweise an diese heran. Ihr Ziel ist nicht nur der volle österliche Glaube der Jünger, sondern, wie in der Schlussnotiz Joh 20,30f explizit ausgedrückt, die Gabe des Lebens. Joh 21 führt diese Linie konsequent fort, indem hier die Lebensverbindung im Mahl stattfindet, die Thomas in seiner Berührung erst symbolisch vorweggenommen hat. Am See ist es ja nicht so, dass Jesus wie in Lk 24,43 vor den Jüngern oder wie noch im Abendmahlssaal Joh 13 mit den Jüngern isst, sondern der Auferstandene gibt ihnen zu essen, was wieder auf die „eucharistische“ Wirklichkeit der Selbst-Gabe im Brot hinweist. Die Seligpreisung des Auferstandenen „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29). In der berühmten Antwort des Auferstandenen an Thomas scheint ein leiser Tadel zu liegen, nicht selten gerade als Kritik an der zwar gewährten aber doch wieder abgewerteten sinnlichen Berührung verstanden.56 Jacob Kremer weist deshalb auf die joh Doppelsinnigkeit des joh „Sehen“ hin und folgert, dass der Auferstandene in seiner ersten Antwort an Thomas nicht das sinnliche Sehen und Berühren, sondern „das einzigartige, vom Glauben geprägte ´Sehen´ des Auferstandenen meint. ... Thomas gehört zu denen, die aufgrund einer besonderen Erscheinung den Auferstandene 55 Wobei meistens übersehen wird, dass dieser Jünger tatsächlich etwas sieht, nämlich die vom Evangelisten im Bemühen darum, möglichst präzise zu sein, merkwürdig umständlich geschilderte Anordnung der Tücher im Grab (Joh 20,5-7). Vgl. dazu S. M. Schneiders, „Das Tuch auf dem Antlitz Jesu“: ein johanneisches Zeichen, in: ThG 27 (1984) 34-40. 56 Vgl. die Diskussion bei J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2) 2167 und den Überblick bei P. J. Judge, A Note on JN 20,29, in: The Four Gospels (s. Anm. 2) 2183-2192, 2185-2187. 19 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) sahen und zum Glauben an ihn kamen.“57 Die anschließende Seligpreisung Jesu, so Kremer, beziehe sich jedoch mit den beiden Partizipien im Aorist auf die beiden Forderungen des Thomas; dadurch würden die Leser „ermahnt, nicht auf sinnenfällige Beweise als Bedingung ihres Glaubens zu pochen“,58 statt dessen sich auf das Zeugnis der Osterzeugen einzulassen. Zu recht bemerkt Theobald, dass diese von den meisten Auslegern vertretene Interpretation der Seligpreisung „durch den Duktus der Thomasperikope nicht gedeckt“59 sei. Nicht um den Verweis auf die “Autorität der Erstzeugen“60 gehe es, sondern um die „Authentizität der eigenen Erfahrung mit dem das Leben erschließende Wort Jesu.“61 Die Glaubenserfahrung des Thomas war verbunden mit einer Erscheinung des Auferstandenen. Durch sie ist Thomas ein Glaubender geworden, was Jesus nicht mit fragendem Unterton sondern bestätigend feststellt.62 Dass damit in irgendeiner Weise die Art, wie Thomas zu diesem Glauben gefunden hat – durch sein berührendes Sehen – in Frage gestellt oder abgewertet würde, ist diesem Satz in keiner Weise zu entnehmen. Thomas erhält die letzte der in Joh 20 berichteten Erscheinungen. Diese Art des Sehens ist somit befristet, damit auch der noch dem Thomas gewährte Weg, zum Glauben zu kommen (vgl. das Perfekt pepi,steukaj).63 Selig gepriesen werden von Jesus nun diejenigen, die ohne diese unmittelbare Ostererscheinung dennoch zum Glauben gelangt sind; dass darin eine besondere Herausforderung liegt, wird durch das adversative kai, hervorgehoben.64 Dieses bezieht sich aber nicht antithetisch auf die sinnenfälligen Beweise durch Berührung wie Kremer meint,65 sondern auf die vom Auferstandenen anerkannte und durch die Seligpreisung honorierte 57 J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2) 2167. Er verweist auf die Perfektform pepi,steukaj. So auch C. Hergenröder (s. Anm. 5) 527f.. 58 J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2), 2168. 59 M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6) 121. 60 Ebd.. 61 Ebd., 123. 62 J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2) 2167. 63 Diesen Unterschied betont auch M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6). 64 J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2) 2168; M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6) 121. 65 J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2) 2168. 20 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Schwierigkeit, ohne die Hilfe einer Erscheinung zum vollen Osterglauben zu gelangen. Damit wendet sich der Auferstandene jedoch nicht mehr an seine Jünger, sondern – die Pluralform sagt es deutlich – an die Leser und Leserinnen des Evangeliums. Diese werden aus der Szene in Jerusalem heraus direkt angesprochen und damit durch die Person des Auferstandenen in das noch nicht abgeschlossene Geschehen einbezogen.66 Ihnen wird jedoch nicht etwa als letzter Satz des Erhöhten eine Ermahnung mitgegeben, es doch besser als Thomas zu machen;67 vielmehr werden die Leser, die lesend Zeugen der Ostererfahrung des Thomas geworden sind, auf eben diese noch einmal hingewiesen und verwiesen. Auch der Inhalt der Ostererfahrung des Thomas soll nach der „Strategie des Glaubens“ (Zumstein), die das Joh verfolgt, ohne Abstriche zu der ihrigen werden, wie die der beiden Jünger am Grab (Joh 20,110), der Maria von Magdala (Joh 20,11-18) und der Jünger am Osterabend (Joh 20,19-23). Man kann sogar vermuten, da es sich hier um die vierte und letzte der Osterbegegnungen in Joh 20 handelt und diese in ihrer Gesamtheit als die joh narrative Osterkatechese gelesen werden wollen, dass hier in gewissem Sinn deren Höhepunkt zu erwarten ist. Berührendes Sehen Und hier kommen wir wieder an den Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück: Das Letzte, worauf das Evangelium die Augen seines Lesers und seiner 66 Es ist auffällig, dass keine der vier in Joh 20 erzählten Ostererscheinungen einen eigentlichen narrativen Schluss besitzt. Die Kamera blendet gewissermaßen nirgends explizit ab. Das hat einen eigentümlich schwebenden Effekt zur Folge, der es dem Leser erleichtert, sich nicht nur als zuschauender Zeuge einer abgeschlossenen Handlung, sondern als teilnehmender Zeuge eines laufenden Geschehens zu empfinden. Die Ostererscheinungen sind einerseits befristet und damit vorbei, andererseits enthalten sie eine Dynamik, die sich im Lesen je neu aktualisiert. Dies ist eine narrative Inszenierung der österlichen Metaphorik von Joh 14: Jesus „kommt“ zwar (Joh 14,18-24), aber er „geht“ nirgends wieder! Vgl. zur Verbindung von Joh 14 mit Joh 20 auch M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6) 94-99. 67 „Sans voir Jésus lui-même, Thomas aurait déjà dû croire“, I de la Potterie, Genèse (s. Anm. 11) 42. Die von ihm konstatierte Antithetik zum Lieblingsjünger ist außerdem nicht so klar, denn auch dieser Jünger sieht etwas (Joh 20, 8)! 21 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Leserin lenkt, sind die Wundmale im Leib des Auferstandenen und ihre verlangte und gewährte Berührung. Wenn meine Kooperation mit der im Text angelegten Strategie gelungen ist, gibt das Verweisnetz der Zeichenforderungen im Joh den Hinweis auf die Deutung dieses symbolischen Gestus. Ich fasse das Ergebnis zusammen: • Das „Mal der Nägel“ (evn tai/j cersi.n auvtou/ to.n tu,pon tw/n h[lwn, Joh 20,25) weist synekdochisch auf den Gekreuzigten. Dieses Mal im Leib des Auferstandenen sehen zu wollen, bedeutet den Wunsch des Thomas, die Identität des Auferstandenen (den die Jünger gesehen haben, was ihm aber nicht genügt) mit dem Gekreuzigten erkennen zu können;68 das heißt theologisch, die Heilsbedeutung des Todes glauben zu können, in der Bildsprache des Evangelisten: das (rettende) „Schauen auf den, den sie durchbohrt haben“ (Joh 19,37) gewährt zu bekommen. • Die erste Bedingung führt steigernd und vertiefend (Wiederholung der „Nägel“ und Ergänzung durch „Seite“) zu einer zweiten: Thomas fordert mit großer Eindringlichkeit (ouv mh. pisteu,sw), dass ihm nicht nur das gläubige Sehen, sondern die Lebensverbindung mit dem „Durchbohrten“ (Joh 19,37) gewährt wird. Darauf verweist der symbolische Gestus der Berührung der Wunden. • Beides wird ihm vom Auferstandenen in voller Weise und ohne jede Andeutung von Tadel gewährt. Jesus „kommt“ österlich (vgl. Joh 14,18 und Joh 20,19.2669) und lädt Thomas zum berührenden Sehen ein; er fordert ihn dadurch sozusagen auf, „in ihm“ zu sein (vgl. Joh 6,56, Joh 14,20). • So ist es die Erfüllung seiner beiden Forderungen – die im Grunde zwei Aspekte einer einzigen sind70 –, die Thomas in Joh 20,28 das große christologische Bekenntnis ablegen lässt. „Mein Herr und mein Gott“ ist 68 Die Jünger verschweigen ihm, dass der Auferstandene sich auch ihnen als der Gekreuzigte zu erkennen gegeben hat, vgl. Joh 20,20; ein Hinweis darauf, dass diese Erfahrung nur „aus erster Hand“ gemacht werden kann (vgl. Joh 4,42)? 69 In der Thomasperikope sogar im vergegenwärtigenden praesens historicum erzählt. 70 Jesus unterscheidet nicht zwischen einem bloßen Sehen und einem berührenden Sehen; er fasst die beiden Forderungen des Thomas als eine einzige auf. 22 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) seine Antwort auf das gläubige Erfassen der heilbringenden Lebenshingabe Jesu im Tod und auf die gewährte bleibende71 (vgl. Joh 6,56) Teilgabe an dieser Lebenshingabe in der Berührung (vgl. „Anteil“ an Jesus in Joh 13,8!). Diese wiederum verweist symbolisch – gelesen im Kontext der Sinnlinie „Lebensverbindung mit Jesus im Mahl“ – auf die österliche Mahlgemeinschaft mit dem Auferstandenen. Durch diese seine „doppelte“ Ostererfahrung wird Thomas vom „ungläubigen“ zum „gläubigen“ Thomas (Joh 20,27),72 vom vorösterlich „zweifelnden“ (Joh 20,25) zum österlich sehenden Jünger (Joh 20,29). Als „Zweifler“ ging Thomas in die Geschichte ein. Die Eindringlichkeit seiner Forderung ist jedoch legitim. Nicht dass er an der Wahrheit der Osterbotschaft der Jünger zweifelt, ist sein Problem, sondern dass er ohne die gesuchte Unmittelbarkeit zum Auferstandenen keinen Zugang zu dieser Wahrheit bekommt. Insofern ist der Text auch ein Plädoyer für die Unverfügbarkeit Gottes in seiner österlichen Selbstmitteilung. Er enthält zum einen die Einladung, diese wie Thomas mit ganzer Entschiedenheit zu erbitten und dann die Überraschung, auf welche Weise der Auferstandene diese Bitte erfüllt. Dieser Stachel wird der Thomasperikope gezogen, wenn man sie einfach in die Ermahnung, dem Wort der Osterzeugen zu glauben, einmünden lässt.73 71 Aus dieser Perspektive gibt der inchoative Aorist in der Aufforderung Jesu, seine Hand in seine Seite zu legen, Sinn! 72 Die Aufforderung Jesu, „nicht ungläubig, sondern gläubig“ zu sein, wird oft als Beweis gewertet, dass er die Forderung des Thomas als Ausdruck seines Unglaubens kritisiere, vgl. J. Kremer, Nimm deine Hand (s. Anm. 2) 2165. Das Paar a;pistoj / pisto,j ist im Joh singulär; auch deshalb sollte diese Aussage nicht unbesehen mit den joh Aussagen über den Unglauben der Menschen angesichts des Wirkens Jesu im übrigen Korpus des Evangeliums gleichgesetzt werden. In Joh 20 geht es um den Glauben an den Auferstandenen als den Herrn und darum, wie man (als Leser) zu einem solchen Glauben gelangen kann. „Ungläubig“ ist in diesem Kontext jemand, der noch nicht diesen Osterglauben gefunden hat. 73 Vgl. dazu noch einmal M. Theobald (s. Anm. 6) 116, der vom „Mut zur ´Emanzipation´ im Glauben“ spricht, vgl. auch ebd., 99, 120-123. 23 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Die „aufgeschriebenen“ Zeichen (Joh 20,30f.) und ihre österliche Lektüre In der eben dargelegten Kooperation zwischen Leser und Text in der Thomasperikope kam dem Verweissystem der Zeichenforderungen im Joh eine Schlüsselrolle zu. Vor diesem Hintergrund lässt es aufhorchen, dass unmittelbar nach dem Höhepunkt des Christusbekenntnisses und der darauf antwortenden Seligpreisung in der so genannten Schlussnotiz Joh 20,30 noch einmal die Zeichen erwähnt werden: „Noch viele andere Zeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen.“ Es fällt außerdem auf, dass es in Joh 20,30f. nicht nur um das vollgültige christologische Credo geht, sondern auch um die Gabe des Lebens, nicht nur um das gläubige Sehen des Sohnes Gottes sondern um die Teilnahme an dessen Leben. Auch in der Schlussnotiz wird somit auf beide Aspekte der Ostererfahrung des Thomas verwiesen.74 Die eigentliche Intention der Schlussnotiz mit der Erwähnung der Zeichen75 ist es jedoch, eine neue, österliche Lektüreanweisung für das gesamte Evangelium zu initiieren, das nun noch einmal neu gelesen werden soll. Sie lädt die Leser dazu ein, die österliche Dimension in allen im Evangelium erzählten und aufgeschriebenen Zeichen wahrzunehmen, damit sich an ihnen die Seligpreisung Jesu an Thomas erfüllt. Die „aufgeschriebenen“ Zeichen (shmei/a gegramme,na) dienen jetzt der Erfahrung des Thomas, der die Seite des 74 „Das Leben haben“ verweist natürlich explizit auf all die Stellen, in denen die Gabe des Lebens ausdrücklich verheißen wird; dabei kommt Joh 6,57f. in der Brotrede eine zentrale Rolle zu aber auch Joh 10,10 und 10,27-30 im Zentrum des Joh: Auf der Makroebene des Evangeliums (Joh 1,1-20,31, ohne den Epilog) führt die linear-steigernde Leseführung entlang der Frage nach der Identität Jesu zum vollgültigen Christusbekenntnis des Thomas Joh 20,28, in dem die christologische Aussage des Prologs Joh 1,14 eingeholt wird. Die konzentrisch vertiefende Leseführung führt zur Selbstoffenbarung Jesu (Joh 10,30, vgl. 4,26; 6,35), die verbunden ist mit der Verheißung der Lebensgabe (Joh 10, 28, vgl. 10,10; 4,14; 6,40.47-51.5358). 75 Vgl. dazu H. Roose, Joh 20,30ff: Ein (un)passender Schluss? Joh 9 und 11 als primäre Verweisstellen der Schlussnotiz des Johannesevangeliums, in: Bib 84/3 (2003) 326-343; G. van Belle, The Meaning of SHMEIA in Jn 20,30-31, in: ETL 74 (1998) 300-325. 24 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Gekreuzigten berührt und das Leben des Auferstandenen empfangen hat. Sie werden nun – österlich gelesen – zu Offenbarungen des Gekreuzigten und Auferstandenen und zu Einladungen, an ihn zu glauben als den Erhöhten und Verherrlichten, der auch im Irdischen gegenwärtig war.76 Auch in den Semeia geht es für den Leser nicht mehr nur, wie für die Personen in den Wundererzählungen,77 um den vorbehaltlosen Glauben an den Irdischen, sondern darum, in diesem Jesus den „Christus und Sohn Gottes“ (Joh 20,30) zu glauben und ihn als „meinen Herrn und meinen Gott“ zu bekennen (Joh 20,29). Nahelegen würde sich für dieses Vorhaben die Rede von der österlichen Relecture. Dieser Begriff hat jedoch in der neueren Johannesforschung eine anders definierte Bedeutung Fortschreibungsprozesse innerhalb erhalten des und bezeichnet vorliegenden diachrone Evangelientextes.78 Insofern sich die von mir gemeinte österliche Lesperspektive synchron in der Textproduktion selbst sichtbar machen ließe, müsste man mit Scholtissek von Reécriture sprechen.79 Relecture und Reécriture sind produktionsorientierte Paradigmen. Der von mir gemeinte Sachverhalt will jedoch rezeptionsorientiert einen vom Text gesteuerten Lesevorgang beschreiben: Der Text des Joh verfolgt eine Strategie 76 Das Pascha Jesu wird im Joh nicht als Semeion bezeichnet; sofern Jesus davon spricht, redet er vom „Werk“ (e;rgon) des Vaters (Joh 4,34; 17,4), auf das sich seine anderen „Werke“, die er selbst jedoch nicht als Semeia bezeichnet, beziehen. Dennoch ist das von Jesus so bezeichnete „Werk“ seiner Erlösungstat im Joh der Bezugspunkt der Semeia des Irdischen. Deshalb charakterisiert die Unterscheidung zwischen dem „Bereich des Zeichens“ und dem „Bereich der Wahrheit“, die Schnackenburg mit Brown im Blick auf die Wunderzeichen im Unterschied zu Kreuz und Auferstehung an dieser Stelle vornimmt, nur die vorösterliche Lektüre, vgl. Schnackenburg (s. Anm. 12) 402 und Welck, Zeichen (s. Anm. 16)106. Von Ostern her gibt es kein Nacheinander von Zeichen und Wahrheit, denn in den Zeichen geht es um nicht anderes als um diese „Wahrheit“; jene werden so erzählt, dass sie auf diese hin transparent werden und den Leser performativ – fast könnte man sagen: „sakramental“ – mit ihr in Berührung bringen. 77 Beispielhaft in der Gestalt des Blindgeborenen Joh 9. 78 Vgl. J. Zumstein, Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur, in: NTS 42 (1996) 394-411; A. Dettwiler, Gegenwart (s. Anm. 34); K. Scholtissek: Relecture. Zu einem neuen Programmwort in der Schriftauslegung (mit Blick auf das Johannesevangelium), in: BiLi 70 (1997) 309-315. 79 Vgl. Scholtissek, In ihm sein (s. Anm. 24); ders.: Relecture und reécriture: Neue Paradigmen zu Methode und Inhalt der Johannesauslegung aufgewiesen am Prolog 1,1-18 und der ersten Abschiedsrede 13,31-14,31 in: ThPh 75 (2000) 1-29. 25 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) der doppelten Lektüre ein und desselben End-Textes, der von diesem Text selbst gewollt und durch literarische Techniken der Intratextualität (v.a. leitmotivische Verknüpfung) gesteuert ist: In einer ersten, „auf Ostern zugehenden Lektüre“ will er als Glauben weckende und zum Glauben herausfordernde Begegnung mit Jesus, dem irdischen Wundertäter der Semeia, gelesen werden;80 in einer zweiten, österlichen Lektüre „von Ostern herkommend“ erscheint der selbe Text des Evangeliums von Anfang an als Verkündigung Jesu, der bereits in seinen irdischen Zeichen sich selbst in seiner Einheit des Gekreuzigten mit dem Auferstandenen, des Präexistenten mit dem Menschgewordenen offenbart und auch gibt. In dieser Einheit offenbart sich im Joh die Doxa Gottes.81 Die in Joh 20,30 erwähnten Zeichen wollen aber nicht allein auf die bereits erzählten sieben Semeia hinweisen; von Ostern her sind auch die Ostererscheinungen Zeichen im joh Sinn, weil sie „auf die österliche Wirklichkeit des Erhöhten im Geist“ verweisen,82 auf die Gegenwart dessen, der „hinaufgestiegen“ ist zu seinem Vater (vgl. Joh 20,17), der nun auch der Vater seiner Brüder und Schwestern ist, und der nach seiner Verheißung zu diesen seinen Brüdern und Schwestern „kommt“ (vgl. Joh 14,18 und Joh 20,19.26). „Selig sind die nicht (als unmittelbare Osterzeugen mich) Sehenden und doch (an mich) Glaubenden“ (Joh 20,29). Mit diesem Wort entlässt der Auferstandene im Joh seine Leser. Wie erfüllt sich diese Seligpreisung? Die Schlussnotiz gibt hier eine Antwort: Im gläubigen Lesen des aufgeschriebenen 80 Diese Perspektive verfolgt die Arbeit von Chr. Welck (Zeichen, s. Anm. 16). Die Semeia offenbaren die eschatologische Heilsbedeutung Jesu und führen so in linearer Lektüre auch zur Erkenntnis der Heilsbedeutung von Kreuz und Auferstehung. Diese „auf Ostern zugehende Perspektive“ bleibt wichtig und wird nicht etwa durch die „von Ostern her kommende“ abgelöst, denn sie betont die bleibende Bedeutung des Lebens des Irdischen! 81 Die Einheit des Gekreuzigten mit dem Auferstandenen, des Präexistenten mit dem Menschgewordenen (vgl. Joh 1,14) ist nach Popp „Kennzeichen der joh. Grammatik des Geistes“, vgl. Th. Popp, Grammatik (s. Anm. 21) 463. 82 So M. Theobald, Osterglaube (s. Anm. 6) 113. W. Nicol, The Semeia in the Fourth Gospel. Tradition and Redaction (NT.S 31), Leiden 1972, 115, und, ihm folgend, van Belle, Semeia (s. Anm. 75) 324f, wollen den Semeiabegriff hier auf das ganze Leben Jesu einschließlich seines Todes und seiner Auferstehung ausweiten; Schnackenburg hingegen betont, dass das Kreuz kein Zeichen im joh Sinn ist, vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium (s. Anm. 12) 402. 26 M. Gruber: Berührendes Sehen (Joh 20,24-31) Evangeliums.83 Die Leser werden also am Schluss ihrer Johanneslektüre vom Auferstandenen und seinem Sprachrohr, dem Text des Evangeliums, wieder auf die erneute Lektüre des Evangeliums verwiesen, insbesondere auf die Zeichen, um in ihnen dem Auferstandenen in seiner Einheit mit dem Gekreuzigten zu begegnen. Was narrativ in der Thomasperikope ausgefaltet wird, wird also in der Schlussnotiz des Evangeliums Joh 20,30f. auf der Metaebene als Leseanweisung für das ganze Evangelium formuliert: die österliche Lektüre des Evangeliums (der aufgeschriebenen Zeichen), um zum österlich vollen Glauben an den Sohn Gottes und zum Anteil an seinem Leben zu kommen. Der „unpassende“ Schluss Joh 20,30f.84 erweist sich somit als mystagogische Leseanweisung für das Johannesevangelium. Und Caravaggio? Die österliche Erzählstrategie des vierten Evangeliums führt seine Leser auf manche überraschende Pfade; sie münden zum Schluss doch wieder in der Szene des zweiten Ostersonntags mit ihrer beunruhigenden und faszinierenden Anschaulichkeit. Thomas soll vor den Augen der Leser und Leserinnen seine Hand in die Seitenwunde Jesu legen. Dies ist die Intention des Textes; er will dadurch jedoch hinweisen und vorbereiten auf eine andere Art der Berührung des Auferstandenen in seiner Selbstgabe im Mahl. Analyse und Interpretation kann die inneren Bilder nicht wegwischen oder ersetzen; sie kann sie läutern und im besten Fall vertiefen, so dass die Leser und Leserinnen der Thomasperikope diese überwältigende Begegnung wieder neu betrachten und, auf ihre Weise, die Hand in die geöffnete Seite des Auferstandenen legen können, mit Caravaggio oder auch anders. 83 Insofern stimmt es, dass „ein Buch rettet“, vgl. A. Weinhäupl-Wilke, Buch (s. Anm. 11). Vgl. zum Ganzen auch: Th. Söding, Die Schrift als Medium des Glaubens. Zur hermeneutischen Bedeutung von Joh 20,30f, in: Schrift und Tradition (FS J. Ernst), Paderborn 1996, 343-371. 84 Vgl. H. Roose (s. Anm. 75). 27
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