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Wolfgang-Andreas Schultz:
Europas vergessene Seiten – eine Einladung zur Spurensuche
I.
Die weit verbreitete Selbstbeschreibung Europas erzählt dessen Geistesgeschichte in der
Regel anhand zweier Entwicklungslinien, die der Religion und der Wissenschaft, von ihren
Konflikten und auch von der Möglichkeit, sie zusammenzubringen.
Das jähe Erstaunen beim Anblick einer Zeichnung aus dem Jahre 1779, die den Menschen in
seinen kosmischen Bezügen derart darstellt, dass die Planeten-Archetypen den Stellen zugeordnet
sind, wo sich nach indischer Lehre die Chakren befinden1, sollte Zweifel an dem europäischen
Selbstbild wecken. Woher kommt das? Nicht aus der Religion, zumindest nicht, wie sie in Europa
verstanden und praktiziert wird. Und aus der Wissenschaft auch nicht …
Was hat das Abendland gewusst, aber offenbar vergessen? Werden wir heute durch die
Begegnung mit asiatischen Kulturen auf eigene unentdeckte Ressourcen gestoßen? Ist die
christliche Mystik nur ein etwas unorthodoxes Anhängsel an die institutionalisierte Religion, wie sie
von den Kirchen vertreten wird? War Giordano Bruno ein Naturwissenschaftler, der nur den Schritt
zur mathematisierten Naturwissenschaft noch nicht geschafft hat? Oder gibt es in der europäischen
Geistesgeschichte noch eine dritte Entwicklungslinie? Gerade das Dreieck Kirche – Galilei – Bruno
könnte eine Erzählung in drei Linien plausibel machen: einerseits die Kirche, die beide als Ketzer
verbrennen wollte, Galilei, der eine mathematisierte materialistische Naturwissenschaft anstrebte
und damit in Gegensatz stand zu Bruno, der die Welt als lebendigen, beseelten Kosmos auffasste –
also drei überaus konträre Positionen.
II.
Eine reduzierte Selbstwahrnehmung bringt in der Regel ein entsprechend unvollständiges
Bild anderer Kulturen hervor. Die vom Islam geprägten Kulturen kennen nicht nur den GesetzesIslam in seinen verschiedenen Richtungen (darunter eben auch die fundamentalistischen, auf den
Wahabismus zurückgehenden), eine Zeit des Rationalismus und der Aufklärung2 mit einem
Aufblühen der Wissenschaft in den Jahrhunderten um die erste Jahrtausendwende, sondern auch
den Sufismus, eine auf vorislamische Traditionen aufbauende Mystik, die Gott im Herzen eines
jeden Menschen sucht. Dem Rationalismus verdankt Europa die Überlieferung der antiken
Philosophie, zumal des Aristoteles, während der Sufismus, dessen bekannteste Vertreten
Dschelaleddin Rumi und Ibn'Arabi sind (beides Mystiker, Dichter und Philosophen zugleich), sich
oft im Konflikt mit dem Gesetzes-Islam befand: viele Mystiker wurden verfolgt und sogar
hingerichtet.
Auch heute gibt es vielerorts diese drei Linien: eine an Westen und an Rationalität und
Aufklärung orientierte Oberschicht, den Gesetzes-Islam und den in der Bevölkerung sehr beliebten
Sufismus mit Heiligen-Verehrung, Volksfesten und einer großen Toleranz für andere Religionen.
Es ist eine Tragödie, dass gerade in Ländern wie Pakistan und Afghanistan heute der
Sufismus von fundamentalistischen Strömungen wie den Taliban erbittert bekämpft wird; sie
„versuchen diese äußerst tolerante, synkretistische Verkörperung des Islam zu zersetzen, obwohl
gerade heute ein solches Gesicht des Islam dringend gebraucht wird, um die wachsende Kluft
1 Johann Georg Gichtel: Theosophia Practica, 1779, mitgeteilt in: Johann Munzer: Involution und Evolution des
Geistes und die Rolle der Archetypen, in: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, 9. Jahrgang, 2003/1, S.
77
2 Dazu: Abdelwahab Meddeb: Islam und Aufklärung, in: Lettre International, Sommer 2006, S. 17
zwischen dieser und anderen Religionen zu überbrücken“, schreibt William Dalrymple3, der sogar
von einem „Kampf der Kulturen“ spricht, „nicht zwischen dem Osten und dem Westen, sondern
innerhalb des Islam.“
Die andere Tragödie ist, dass der Westen diesen Kulturkampf nicht wahrgenommen hat, weil
er nur in den beiden Linien Religion und Glaube einerseits und Wissenschaft und Rationalität
andererseits denkt.
III.
Wie sieht es nun in der abendländischen Kultur aus, in Europa? Ohne Anspruch auf
Vollständigkeit4 soll der Blick auf einige Aspekte der abendländischen Geschichte versuchen, die
Frage nach dem möglicherweise unvollständigen Selbstbild zu beantworten.
Unbestritten ist, dass die Entwicklung der Philosophie von den Vorsokratikern bis zu Platon
und Aristoteles zu den ganz großen Leistungen der griechischen Antike gehört, und ebenso
unbestritten scheint die Vorstellung, im Bereich der Religion habe das Christentum den
verblassenden antiken Götterhimmel beerbt. Aber welche Rolle spielen die dabei oft übersehenen
Mysterien-Religionen?
„Offenbar vermochte der allgemeine Kult, also die von Homer geprägte olympische
Götterwelt, die religiösen Bedürfnisse auf Dauer nicht zu befriedigen. (…) Die althergebrachte
Religion (…) gab keine befriedigende Antwort auf die Frage des Individuums: Woher komme ich?
Wohin gehe ich?“5 Die Suche „nach einer religiösen Bindung, die sich auf die persönliche Existenz
bezog“6 fand ihr Ziel in den Einweihungsritualen der Mysterien, die sich zunächst noch mit den
olympischen Göttern verbinden ließen, auch wenn von Anfang an Einflüsse aus Ägypten und dem
Orient bestimmend waren. Auffällig ist, dass viele Mysterien eine Göttin als Zentrum haben und
eng mit den Rhythmen der Natur verwoben sind. „Als Herrin der Natur ist die Göttin mit dem
Wachsen, Blühen und Vergehen der Vegetation verbunden (…) Die aufblühende, sterbende und
wiedererstehende Vegetation wird im Bilde des blühenden junges Heros gesehen, der von der
Allmutter geliebt, aber auch geopfert wird und der wieder neu, aber verwandelt, aufersteht: der
Mythos vom sterbenden und wiedererstehenden Gott.“7
Pythagoras war wahrscheinlich in die ägyptischen Mysterien eingeweiht, wie Platon in die
eleusischen. Dieser ägyptisch-orientalische Anteil der griechischen Antike darf nicht unterschätzt
werden, zumal in ihm sich zwei entscheidende Elemente finden, die die Mysterien in Gegensatz zur
antiken Götterreligion treten lassen: die persönliche Erfahrung in der Einweihung und die Heiligkeit
der Natur mit einer Göttin im Zentrum als Gegengewicht zu dem von männlichen Göttern
dominierten Olymp.
Der Gegensatz zu diesen Göttern verschärfte sich von der Zeit an, als im Hellenismus mit
dem Isis-Kult eine ägyptische Göttin in den Mittelpunkt rückte. „Isis war (…) keine
nationalrömische Göttin geworden wie die Mater Magna Kybele; ihr Kult hatte mit großen
Widerständen, ja mit Verfolgung und Vertreibung zu kämpfen.“8 Osiris, der Gemahl der Isis,
durchlief, wie symbolisch auch jeder Eingeweihte, das Schicksal von Tod und Wiedergeburt, ebenso
wie – nach ägyptischer Vorstellung – die Sonne auf ihrer Nachtfahrt. Im Roman „Der goldenen
Esel“ von Apuleius ist ein Bericht über die Einweihung in die Isis-Mysterien zu finden. Isis wurde
in der Spätantike zur Universalgöttin, „die Eine, die alles in einem ist“.9 „Die Übereinstimmungen
mit dem Christentum sind deutlich, doch ist keine Abhängigkeit zu konstatieren. Der Weg zur
3 William Dalrymple: Sufismus, Pfad der Liebe, in: Lettre International, Frühjahr 2005, S. 24
4 Dem Autor ist bewusst, oft aus der Perspektive der deutschen Geistesgeschichte zu schreiben; er möchte dazu
ermutigen, entsprechende Spuren in den anderen europäischen Ländern wie auch im europäischen Judentum zu
suchen.
5 Marion Giebel: Das Geheimnis der Mysterien, München 1993, S. 9 und 11
6 Giebel, a.a.O. S. 12
7 Giebel, a.a.O. S. 117-118
8 Giebel, a.a.O. S. 192
9 Giebel, a.a.O. S. 172
universellen Gottheit war vorgezeichnet.“10
IV.
Jede Erzählung von Geschichte ist eine Konstruktion und beruht auf subjektiven
Entscheidungen, so auch der Versuch, die europäische Geschichte durch drei Entwicklungslinien zu
beschreiben. Wie sinnvoll ein solches Unterfangen ist, bemisst sich daran, ob es zu tieferem
Verständnis beiträgt – letztlich eine Frage der Evidenz.
Die drei Entwicklungslinien darf man sich nicht strikt getrennt vorstellen, sie können sich in
vielfältiger Weise berühren, ja fast verschmelzen, oder sich feindlich gegenüberstehen, und in den
verschiedenen Ländern Europa hat es zu verschiedenen Zeit unterschiedliche Ausprägungen der
drei Linien in unterschiedlichsten Konstellationen gegeben – man könnte versucht sein, so etwas
wie eine nationale Identität der europäischen Länder u.a. durch die jeweilige Erscheinungsform und
Konstellation der drei Entwicklungslinien zu beschreiben.
V.
Monotheistische Religionen der Art, dass ein außer- oder überweltlicher Gott geglaubt wird,
neigen dazu, da die Welt jetzt „nur“ noch als Gottes Schöpfung, aber nicht mehr als seine
Manifestation gesehen wird, die Natur zu entwerten, was im Christentum des Westens durch den
Einfluss von Neuplatonismus und Manichäismus bis zu einem extremen Dualismus gehen konnte,
der in der Welt und der Natur etwas Gegengöttliches sah.
Andererseits sollte man die polytheistischen Naturreligionen, gegen die sich die
monotheistischen durchsetzen mussten, nicht verklären. Die monotheistischen Religionen brachten
eine neue Geistigkeit, die Würde des Einzelnen und eine allgemeingültige Ethik, was gegenüber
den meisten polytheistischen Naturreligionen einen Fortschritt, in gewisser Weise sogar eine
Befreiung darstellte, deren dunkle Seiten ja das Menschenopfer war, eine Praxis, die sowohl für die
germanische als auch für die keltische und sogar für die ältere Zeit der griechischen Religion belegt
ist.11 Die dunkle Seite des Christentums allerdings ist der gnadenlose Kampf gegen das Heidentum
und gegen jegliche Naturverehrung. Weil der eine Gott letztlich doch männlich gedacht war, lud er
dazu ein, bis hin zur Hexenverbrennung alle Spuren weiblicher Naturverbundenheit zu tilgen.
Und dennoch zeigte sich, meist im Geheimen oder im offenen Konflikt mit der Kirche, dass
sowohl der Gedanke der Heiligkeit der Natur als auch der einer persönlichen Gotteserfahrung
überlebten.
„Irland war (…) eine Entdeckung, weil ich dort auf eine Unterströmung des Christentums
traf, die vieles davon besaß, was mir die Kirche nie hatte bieten können: Magie, Poesie,
Naturverbundenheit, archaische Kraft (...)“12 Im keltischen Christentum in Irland scheinen also
christlicher Monotheismus und die Heiligkeit der Natur eine glückliche Verbindung eingegangen zu
sein, so lange, bis der Papst mit Hilfe des englischen Militärs die Iren auf seine Linie brachte.
Große Vorsicht mussten die Theologen und Philosophen der Schule von Chartres walten
lassen, denn sie begriffen „den Kosmos als ein lebendiges Wesen.“13 „Das intensive Erleben der
'Natur' war in Chartres seit Urzeiten lebendig. Die Schule von Chartres lebte in dieser Tradition und
erweiterte sie, indem sie jetzt einerseits zum bloßen Erleben der Natur deren denkerisches Erkennen
hinzufügte und andererseits den Einklang mit dem Mikrokosmos, dem Menschen, erkannte.“14
Einklang von Makrokosmos und Mikrokosmos – das wäre die Tradition der hellenistischen
Mysterien, und tatsächlich scheint es in Chartres einen Schulungsweg gegeben zu haben, der in
mancher Hinsicht den Mysterien der Antike ähnelt. Man fühlte sich „mit Ägypten und der
10
11
12
13
14
Giebel, a.a.O. S. 181
Helmuth von Glasenapp: Die nichtchristlichen Religionen, Frankfurt a.M. 1957, S. 128, 140 und 233
Rüdiger Sünner: Totenschiff und Sternenschloss, Klein Jasedow 2008, S. 59
Frank Teichmann: Der Mensch und sein Tempel – Chartres. Schule und Kathedrale, Stuttgart 1991, S. 129
Teichmann, a.a.O. S. 132
ägyptischen Weisheit verbunden, ihre Bilder waren bekannt, ihre Inhalte präsent (…)“15
Die Möglichkeit persönlicher Gotteserfahrung blühte auf in der Mystik des Mittelalters,
deren wichtigste Vertreter Meister Eckhart und Hildegard von Bingen sind. Gerade Eckhart hatte
heftige Probleme mit der Kirche und der Inquisition – die Verdammungsbulle trifft aber erst nach
seinem Tod ein. In der Tat gibt es gewichtige Unterschiede zur Lehre der Kirche, etwa in der
Interpretation der Menschwerdung Gottes: für die Kirche ein einmaliges historisches Ereignis in
Jesus Christus, für den Mystiker etwas, was sich in jedem Menschen vollzieht, so zu verstehen,
„dass ein jeder Mensch ein einiger Sohn ist, den der Vater ewiglich geboren hat.“16 Das
Bewusstsein der Gottessohnschaft hebt die Trennung von Gott und Mensch auf: Gott wird in der
Seele eines jeden Einzelnen geboren und dadurch Mensch.
VI.
Die Renaissance hat nicht nur die griechische Antike wiederentdeckt (deren Philosophie ja
bereits durch die Vermittlung der Araber bekannt war), sondern auch Hermes Trismegistos. Dessen
„Corpus Hermeticum“ galt lange Zeit als Weisheitstext des alten Ägypten, stammt aber aus der
Spätantike und wurde 1471 von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzt17 – mit beträchtlichen
Folgen, besonders im Kreise der Alchemisten.
Allenthalben führen Spuren nach Ägypten, denn die Alchemie war „größtenteils ägyptischen
Ursprungs“18 und müsste bereits im 11./12. Jahrhundert über die Araber in den westlichabendländischen Kulturkreis gelangt sein.19 „Die Alchemie bildet etwas wie eine Unterströmung zu
dem die Oberfläche beherrschenden Christentum. Sie verhält sich zu diesem wie der Traum zum
Bewusstsein.“20 Tatsächlich geht es um die „Projektion seelischer Inhalte in die Materie“,21 und bei
dem „alchemistischen Opus handelt es sich zum größten Teil nicht nur um chemische Experimente
allein, sondern auch um etwas wie psychische Vorgänge, die in pseudochemischer Sprache
ausgedrückt werden.22 (…) alles Unbewusste war, sofern aktiviert, ins Stoffliche projiziert, das
heißt, es trat dem Menschen von außen entgegen.“23 Die Alchemie war von der Kirche verboten
und doch auch von der gleichzeitig sich entwickelnden materialistisch ansetzenden
Naturwissenschaft weit entfernt. C.G. Jung betont in seinem Resümee, „bis zu welchem Grade die
Alchemie eine religiös-philosophische oder 'mystische' Bewegung war. Sie erreichte wohl ihren
Gipfel in der Gestaltung von Goethes religiöser Weltanschauung, wie sie uns im 'Faust' erscheint.“24
So lebte die seelische Symbolwelt lange weiter, auch als sich die Alchemie längst gespalten
hatte in die Naturwissenschaft (Paracelsus) einerseits und die christliche Mystik (Jakob Böhme)
andererseits25 – letzterer wurde von der Romantik hoch verehrt, heißt es bei ihm doch: „Wir zeigen
Euch die Offenbarung der Gottheit in der Natur.“26 Hier finden wir sie wieder, die Verbindung von
Mystik als persönlicher Gotteserfahrung mit dem Gedanken der Göttlichkeit und Heiligkeit der
Natur.
Das Corpus Hermeticum wurde auch später, bei Ralph Cudworth (1671/78), so gelesen, dass
es „auf eine Theologie der All-Einheit hinausläuft.“27 Und George Berkeley fasst 1744 zusammen:
„Platon und Aristoteles betrachteten Gott als abstrahiert oder geschieden von der natürlichen Welt.
15 Teichmann, a.a.O. S. 288
16 Meister Eckehart: Predigt über „Ich und der Vater sind eins“, in: Eckehart: Vom Wunder der Seele, Stuttgart o.J., S.
45
17 Erste deutsche Ausgabe Hamburg 1706
18 Carl Gustav Jung: Psychologie und Alchemie, Ostfildern 1995, S. 160
19 Dazu: Manfred Ehmer: Weisheit des Westens, Düsseldorf 1998, S. 258
20 Jung, a.a.O. S. 38
21 Jung, a.a.O. S. 309
22 Jung, a.a.O. S. 282
23 Jung, a.a.O. S. 322
24 Jung, a.a.O. S. 537
25 Jung, a.a.O. S. 490
26 Zitiert nach Gerhard Wehr: Jakob Böhme, Wiesbaden 2010, S. 92
27 Jan Assmann, Religio duplex – Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, Berlin 2010, S. 81
Die Ägypter ( und damit bezieht er sich auf Hermes Trismegistos) aber betrachteten Gott und Natur
als Einheit. (…) Damit schlossen sie den verstehenden Geist nicht aus, sondern betrachteten ihn als
den umfassenden Raum aller Dinge.“28 Diese Theologie „bestand in der Gleichsetzung von Gott
und Natur, und zwar so, dass nicht Gott auf die Natur reduziert, sondern die Natur als allumfassende
Gottheit verstanden wurde.“29
Diese Überlegungen führen ins Zentrum einer Debatte, die zur Zeit der Aufklärung und der
Klassik geführt wurde, und bei der es vordergründig um die ägyptischen Wurzeln von Moses und
der monotheistischen Religion ging, in Wahrheit aber um die hermetische Tradition und um die
Auffassung des Kosmos als stufenweise Manifestation Gottes, um den „Kosmotheismus“, wie Jan
Assmann diese Anschauung nannte, um die Tradition der Sicht des Kosmos als lebendiges,
beseeltes Ganzes von Hermes Trismegistos über Giordano Bruno und Baruch de Spinoza.
VII.
Die eben zitierten Formulierungen sollten eigentlich die Lesart ausschließen, der
Kosmotheismus sei eine Wiederkehr des Polytheismus. Eine Wiederkehr des Gedankens der
Göttlichkeit der Natur allerdings, aber keiner wäre zur Zeit der Aufklärung und der Klassik auf die
Idee verfallen, antike Götter ernsthaft als Gegenstand der Anbetung neu zu inthronisieren. Vielmehr
geschah das alles in einem Raum, in dem ein undogmatisches Christentum genauso Platz fand wie
die Idee der Heiligkeit der Natur – das zeigen die Dichtungen von Hölderlin und Novalis (der ja
nicht nur das geniale naturphilosophische Romanfragment „Die Lehrlinge zu Sais“ dichtete,
sondern auch Geistliche Lieder) ebenso wie die Schriften von Lessing und Schiller.
Der Kosmotheismus war zur Zeit der Klassik und der frühen Romantik die in den gebildeten
Schichten vorherrschende Weltanschauung, die einherging mit einer Ägyptenmode, deren schönstes
Resultat „Die Zauberflöte“ von Mozart wurde, in der das Einweihungsritual in die ägyptischen
Mysterien im Zentrum stand, so wie man sie sich in den Kreisen der Freimaurer damals vorstellte.
Aber auch die Legende vom verschleierten Bild zu Sais (hinter dem sich die Göttin Isis oder „die
Natur“ – im umfassenden Sinne – verbarg) hat die Dichter beschäftigt, dessen Inschrift lautete:
„Ich bin, was da ist, was da war und was da sein wird. Meinen Schleier hat niemand gelüftet.“30 Von
Novalis gibt es ein Epigramm: „Einem gelang es – er hob den Schleier der Göttin zu Sais - / Aber
was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – sich selbst.“31 Hier wird die Brücke geschlagen
zwischen der Göttlichkeit der Natur und der persönlichen Erfahrung des Einsseins mit dem
Göttlichen, in der hermetischen Tradition der Harmonie von Makrokosmos, dem Universum, und
dem Mikrokosmos, dem Menschen.
Philosophisch konzentrierte sich der Kosmotheismus in der von Lessing in die Diskussion
gebrachten Formel „hen kai pan“ - das Eine in allem, das „All-Eine“.32 Sie wies zurück auf
Spinoza und Bruno und letztlich auf das, was man für altägyptische Weisheit hielt.
Die Aufklärung, die Klassik und die frühe Romantik hatten also durchaus eine spirituelle
Seite, allerdings stand diese im Gegensatz zu den Dogmen der Kirchen.33 Im Hinblick auf die Sicht
der Natur gab es aber ebenso Konflikte mit der mathematisierten und damit letztlich
materialistischen Naturwissenschaft – die Auseinandersetzung von Goethe mit Newton über die
Natur des Lichts und der Farben zeugt davon (dabei ist es nicht ohne Ironie, dass Newton zugleich
einer der letzten Alchemisten war). Der Kosmotheismus war also keineswegs nur eine Frage der
Religion, sondern betraf genauso das Verhältnis zur Natur und das Konzept von Wissenschaft. Auch
hier findet man wieder das Dreieck einer dritten Entwicklungslinie in Konflikt mit der ersten
(Kirchen) und der zweiten (materialistische Naturwissenschaft).
28
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33
Zitiert nach Assmann, a.a.O. S. 82
Assmann, a.a.O. S. 82
Zitiert nach Assmann, a.a.O. S. 76
Novalis, Werke und Briefe, München o.J., S. 139
Dazu: Jann Assmann: Moses der Ägypter, München-Wien 1998, S. 205 ff.
Ein wichtiger Vermittler allerdings war der protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher.
Die Idee einer Evolution des Gottesbildes war der Aufklärung nicht fremd – Lessing vertritt
sie in seiner Schrift „Die Erziehung des Menschengeschlechts“. Der Grundgedanke, dass Menschen
auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen unterschiedliche Gottesvorstellungen haben,34 findet sich
schon bei Maimonides und in der Renaissance bei Pico della Mirandola, wenn dieser von den
„geheimen Mysterien, die sich unter der Schale der Gesetzes und unter dem großen Mantel der
Worte verbargen“35 spricht, und wurde in der Aufklärung unter dem Begriff „religio duplex“
benutzt, um die Vereinbarkeit von „offenbarter und natürlicher Religion“ zu begründen. Auch der
Begriff „Monotheismus“ hat einen Bedeutungswandel durchgemacht: War der eine Gott im Alten
Testament noch der eifersüchtig über die Treue seines auserwählten Volkes wachende Gott Israels,
so wurde er später (im Judentum wie im Christentum) zum universalen Gott aller Menschen. Wenn
ein Theologe die kirchlich-christliche Gottesvorstellung so beschreibt: „Es gibt einen allmächtigen
und allwissenden Gott, der die Welt geschaffen hat und dieser Welt gegenübersteht und auf sie
einwirken kann“,36 dann ließe sich einwenden: Solange es neben Gott noch ein Anderes gibt, und
sei es auch nur die eigene Schöpfung (oder gar der Teufel …), kann von einem reifen
Monotheismus noch nicht die Rede sein. Indien kennt den Begriff „Advaita“ - Nicht-Zweiheit;
Vivekananda schreibt: „Der Dualist glaubt, dass Gott sich außerhalb des Universums befindet, der
Advaitist dagegen, dass Er seine eigene Seele ist.“37
So lassen sich unter dem Begriff eines reifen Monotheismus bzw. „Advaita“ die beiden
Erscheinungsweisen der dritten Entwicklungslinie zusammenfassen als „Immanenz Gottes“: Gott in
der eigenen Seele erfahren in der Tradition der Mystik, und im beseelten Kosmos in der Tradition
von der Hermetik bis zum Kosmotheismus. Die Idee der Manifestation Gottes in der unbelebten
und belebten Natur bis hinauf zur mystischen Erfahrung schließt die Kluft zwischen Gott und Welt,
zwischen Gott und Mensch. „Gott schläft im Stein, atmet in der Pflanze, träumt im Tier und wacht
auf im Menschen.“38
VIII.
In der dritten Entwicklungslinie finden sich Vorstellungen über seelisches Wachsen und über
persönliche Weiterentwicklung, wie sie weder Kirche noch Wissenschaft liefern können, in der
Mystik bei Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz, bei Lessing, Karl Philipp Moritz und
Goethe, und es ist tragisch, dass diese Linie im Laufe der 19. Jahrhunderts so dramatisch an
Bedeutung verlor. Die Ursachen dürften einerseits darin liegen, dass der Kosmotheismus auf keine
Tradition spiritueller Praxis zurückgreifen konnte, um den „Gott der Philosophen“ in der Erfahrung
und im Herzen zu verankern, andererseits in dem Siegeszug der materialistischen
Naturwissenschaften, gegen den sich die Romantiker (besonders Schelling) vergeblich zu stemmen
versuchten.
Das überwiegend vorherrschende reduzierte Selbstbild Europas hatte auch zur Folge, dass
der eigene reduzierte Zivilisationsbegriff zum Maßstab anderen Kulturen gegenüber genommen
wurde. Die „großen Widersacher“ der Kolonisatoren und Siedler, „die es zu bezwingen galt, waren
Natur und Chaos, Traditionen und die Geister und Gespenster des 'Aberglaubens' jeglicher Art.“39
So wurde der Kampf gegen die vermeintlichen Dämonen im Inneren der eigenen Kultur fortgesetzt
im Kampf gegen die naturreligiösen Traditionen anderer Kulturen; Europa bekämpfte im Anderen
das verdrängte Eigene. Dagegen ließen sich von der dritten Entwicklungslinie aus gut Brücken
bauen zu den anderen Kulturen, über die Mystik und den Kosmotheismus.
Da in Europa die Psychologie im Gefolge der Medizin entstand, geriet auch sie rasch unter
34 Dazu: Küstenmacher / Haberer /Küstenmacher: Gott 9.0 – Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird,
Gütersloh 2011
35 Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen, Hamburg 1990, S. 59
36 Urs Eigenmann: Ein Gott der Fremden und der Kleinen, in: Publik-Forum 2014 / Nr. 23, S. 27
37 Swami Vivekananda: Vedanta, Frankfurt a.M. 1989/2006, S. 95
38 Indischer Spruch, zitiert nach: Holger Schleip (Hrgb.): Zurück zur Naturreligion, S. 248
39 Jürgen Osterhammel, zitiert nach: Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung, München 2011, S.
153
den Einfluss des materialistisch-mechanistischen Denkens, beschäftigte sich überwiegend mit
psychischen Krankheiten und wurde blind für die im Menschen angelegten Wachstums- und
Entwicklungsmöglichkeiten. Abraham Maslow schrieb: „Es ist, als hätte Freud uns die kranke
Hälfte der Psychologie geliefert, die wir jetzt mit der gesunden Hälfte ergänzen müssen.“40 Und
Daniel Goleman geht so weit zu sagen: „Die modernen psychologischen Theorien haben ihre
Wurzeln in der europäischen und amerikanischen Wissenschaft und Kultur, und man kann das Fach
Psychologie als kulturgebunden betrachten, so kurzsichtig, ja geradezu solipsistisch ist es in seiner
Unkenntnis psychologischer Systeme aus anderen Regionen und Zeiten.“41
IX.
Gerade weil, trotz so herausragender Persönlichkeiten wie Henri Bergson und Rudolf
Steiner, die dritte Entwicklungslinie weitgehend in den Untergrund gedrängt war, wuchs die Gefahr
des politischen Missbrauchs spiritueller Bedürfnisse. Sie bestand immer dann, wenn tatsächlich ein
vorchristlicher (etwa germanischer) Polytheismus wiederbelebt werden sollte, wenn die Verbindung
des Gedankens der Heiligkeit der Natur mit der jüdisch-christlichen Tradition und der
philosophischen Tradition von Griechenland her verloren ging, und wenn das Individuum als Ort
der Manifestation Gottes auf dem Altar kollektivistischer Ideologien geopfert wurde.42
Das machte die Menschen, besonders in Deutschland, nach 1945 extrem vorsichtig und
begünstigte den Rückzug auf ein materialistischen Weltbild, auf Rationalität und Beweisbarkeit.
Viele ahnen inzwischen, dass diese Haltung eine Verarmung bedeutet, zu innerer Leere führt, zu
einem Verlust an Lebendigkeit und Kreativität, die gerade im Kulturbereich zu beklagen ist. So lässt
sich allenthalben der Ruf nach einer „zweiten Renaissance“ vernehmen, nach einer „kulturellen
Wiedergeburt“.43 Möglicherweise bedarf es dazu eines Anstoßes von außen: „Wir sind überzeugt,
dass die Wiederentdeckung der asiatischen Philosophie (…) für die westliche Kulturgeschichte
einer 'zweiten Renaissance' entspricht.“44 Eine Begegnung mit der indischen, japanischen oder
chinesischen Kultur könnte Europa sensibilisieren für die vergessenen eigenen Potenziale – so sieht
es Francois Jullien : „Meine Arbeit besteht (...) darin, Figuren der Andersheit zwischen China und
Europa zu schaffen – nicht um Welten aus ihnen zu machen, sondern um sie auf das europäische
Denken zurückzuwenden, um dort dasjenige wahrzunehmen, was es bisweilen zwar kurz als
Möglichkeit erblickt, dann aber beiseite gelassen hat, indem es andere Wege bevorzugte; dasjenige
also, was dort scheiterte oder an den Rand gedrängt wurde.“45
Gewiss kann Europa von den Kulturen des fernen Ostens viel lernen, sind diese doch in der
Erforschung des Bewusstseins und in spiritueller Praxis viel erfahrener; und doch finden sich in der
europäischen Geistesgeschichte alle Ressourcen, einen eigenen Weg zu finden anstatt den Osten zu
kopieren. Die Integration der dritten Entwicklungslinie in das Selbstbild Europas wäre dafür die
Voraussetzung.
Eine konkrete Utopie wäre die Harmonisierung der drei Entwicklungslinien. Dafür stehen
die Chancen gar nicht so schlecht: In den Wissenschaften mehren sich die Stimmen, die das
materialistische Weltbild für falsch halten (Rupert Sheldrake,46 Thomas Nagel,47 Ken Wilber48),
40 Abraham A. Maslow: Psychologie des Seins, München 1973, S. 23
41 Daniel Goleman: Dialog mit dem Dalai Lama, München-Wien 2003, S. 122
42 Dazu: Barbara v. Meibom: Deutschlands Chance – mit dem Schatten versöhnen, Wien-Berlin-München 2013,
sowie: Wolfgang Aurose: Die Seele der Nationen, Wien-Berlin-München 2014
43 Ben Schofield: Neue Geschichten, alte Geschichte, in: Hertling/Hassemer: Europa eine Seele geben, BerlinMünchen-Wien 2014, S. 179
44 Varela / Thompson: Der mittlere Weg der Erkenntnis, Bern-München-Wien 1992, S. 42
45 Das neue Gemeinsame – Bruno Latour im Gespräch mit Francois Jullien, in: Lettre International, Frühjahr 2008, S.
63
46 Rupert Sheldrake: Der Wissenschaftswahn – Warum der Materialismus ausgedient hat, München 2012
47 Thomas Nagel: Geist und Kosmos – Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie
sicher falsch ist, Berlin 2013
48 Ken Wilber: Eros, Kosmos, Logos – eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend, Frankfurt a.M. 1996
Stimmen, die Goethe gegen Newton Recht geben,49 Stimmen eines neuen naturphilosophischen
Denkens (Jochen Kirchhoff,50 Andreas Weber51), und auch in den Kirchen erlebt man eine
vorsichtige Öffnung für eine mystische Spiritualität. Die Widerstände des alten Denkens sind
beträchtlich, es wird machtpolitisch reagiert statt offen zu diskutieren – man wird aber hoffentlich
nicht von einem Kulturkampf innerhalb der europäischen Kultur sprechen müssen … In Kirche,
Wissenschaft und Kultur wird die Zukunft denen gehören, die sich wandeln können.
Lebenslauf Wolfgang-Andreas Schultz:
1948 in Hamburg geboren, erhielt Wolfgang-Andreas Schultz während der Schulzeit Klavier- und
Cello-Unterricht und unternahm erste Kompositionsversuche im Alter von 12 Jahren.
Nach dem Abitur 1968 studierte er zunächst Musikwissenschaft und Philosophie an der Universität
Hamburg; in dieser Zeit wurde ihm das Komponieren immer wichtiger, so daß er 1972 ein
Kompositionsstudium an der Musikhochschule in Hamburg bei Ernst Gernot Klussmann begann.
1974 schloß er das Musikwissenschaftsstudium mit der Promotion ab, 1975 folgte die
Diplomprüfung in Musiktheorie/Komposition. Bei György Ligeti konnte er das
Kompositionsstudium fortsetzen; während dieser Zeit arbeitete er als Theorielehrer am Hamburger
Konservatorium.
1977 wurde er Dozent an der Hamburger Musikhochschule und Assistent von György Ligeti - dabei
war es seine Aufgabe, Ligetis Studenten in den traditionellen Disziplinen wie Harmonielehre,
Kontrapunkt und Instrumentation zu unterrichten.
Seit 1988 ist er in Hamburg Professor für Musiktheorie und Komposition.
www.wolfgangandreasschultz.de
49 Z.B. James Gleick: Chaos – die Ordnung des Universums, München 1990, S. 238
50 Jochen Kirchhoff: Was die Erde will – Mensch, Kosmos, Tiefenökologie, Bergisch Gladbach 1998
51 Andreas Weber: Lebendigkeit – eine erotische Ökologie, München 2014