Dieses Manuskript stimmt nicht unbedingt mit dem Wortlaut der Sendung überein. Es darf nur zur Presse- und Hörerinformation verwendet und nicht vervielfältigt werden, auch nicht in Auszügen. Eine Verwendung des Manuskripts für Lehrzwecke sowie seine Vervielfältigung und Weitergabe als Lehrmaterial sind nur mit Zustimmung der Autorin/des Autors zulässig. hr2-kultur | Camino – Religionen auf dem Weg HR 2 Camino, 15. November 2015 Die Kunst des Zweifelns. Sebastian Castellio (1515-1563) forderte Religionsfreiheit. Christoph Fleischmann Zitator Calvin: Zitator Castellio: Sprecher: Regie: Redaktion: Lothar Bauerochse Atmo Von der Pfalz in den Kreuzgang, dann Kreuzgang unter die gesamte Szene Sprecher Wenn man in Basel nach Spuren von Sebastian Castellio sucht, ist das nicht so einfach. Der Gelehrte, der hier in der Mitte des 16. Jahrhunderts lebte, ist zwar am ersten Haus am Platz beerdigt worden, im Kreuzgang des Basler Münsters: O-Ton 1 Benkert I 2'40 Ein Universitätsprofessor und ein anerkannter Wissenschaftler, der in der Stadt sich ein gewisses Prestige erarbeitet hatte, [...] durfte hier beerdigt werden. [Baugeräusch setzt ein] Sprecher Aber man muss schon bei der Münsterbauhütte nachfragen, um zu erfahren, wo er beerdigt wurde, da die alte Grabplatte zerstört und nicht mehr ersetzt wurde. Die Inschriften rechts und links von seiner sind noch erhalten: O-Ton 2 Schaffner+Benkert I 3'58 - Und von der Anordnung, ist es, denke ich, schon interessant zu sehen, dass Castellio hier eigentlich zwischen Druckern begraben war, weil Isengrin auch ein Basler Drucker war des 16. Jahrhunderts. Ich denke, das verortet ihn schon auch, von seiner Tätigkeit her von dem, wofür er bekannt war in der städtischen Gesellschaft in der Zeit. - Weil er in seiner ersten Zeit in Basel als Korrektor bei einem Drucker gearbeitet hat. Atmo Kreuzgang, dann Pfalz [unter das Folgende] Sprecher Davina Benkert und Michael Schaffner sind zwei junge Historiker von der Universität Basel. Wenn man aus dem Kreuzgang des Münsters auf die Pfalz tritt, eine Terrasse hinter dem Chor der Kirche, dann hat man einen freien Blick den Rhein herauf und herunter. Das Münster liegt rund 20 Meter über dem Ufer. [Atmo kurz frei – Ende] Castellio arbeitete nicht nur beim Drucker Johannes Oporin, als er aus Genf nach Basel kam, Oporin druckte später auch Castellios Plädoyer gegen die Verfolgung von vermeintlichen Ketzern: Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll. Zitator Castellio Doch so wie die Türken über Christus anders denken als die Christen und die Juden wiederum anders als diese beiden und die einen die anderen verdammen und für Ketzer halten, so streiten auch die Christen vielerorts untereinander über die Lehre Christi und verdammen einer den andern und halten sich gegenseitig für Ketzer. Denn über die Taufe, das Abendmahl, die Anrufung der Heiligen, die Rechtfertigung, den freien Willen und die vielen anderen unklaren Fragen gibt es scharfen Streit, so dass Katholiken, Lutheraner, Zwinglianer, Wiedertäufer, Mönche und all die andern einander viel grausamer verfolgen als die Türken die Christen. Diese Zerwürfnisse rühren von nichts anderem her als von der Unkenntnis der Wahrheit. Denn wären diese Dinge ebenso offenkundig, wie es offenkundig ist, dass es nur einen Gott gibt, so würden sich alle Christen darin ebenso einig sein, wie alle Nationen einmütig bekennen, dass es nur einen Gott gibt. (MdT, 68f.) O-Ton 3 van Veen III 19'37 Bis dann hat man eigentlich Glaubensinhalte genauso verstanden wie mathematische Aussagen, also man war davon überzeugt, dass man wirklich objektiv feststellen konnte, ob der eine oder der andere Recht hatte. Und das spielte auch bei der Glaubensdebatte eine wichtige Rolle. Man war wirklich davon überzeugt, dass eine Obrigkeit sagen könnte: "Jetzt haben die Reformierten Recht" oder "jetzt haben die Katholiken Recht und deswegen sollen wir jetzt die Reformierten ausweisen" oder "jetzt sollen die Katholiken auswandern". Man war wirklich davon überzeugt, dass man das objektiv feststellen konnte. Und Castellio: Der wichtigste Beitrag ist, dass er gesagt hat: Nein, eine derartige Objektivität gibt es in Glaubenssachen nicht. Sprecher Die Kirchenhistorikerin Mirjam van Veen aus Amsterdam hat eine Biografie über Sebastian Castellio geschrieben. O-Ton 4 van Veen ff. Er hat ganz klar gesagt, dass der Glaube eine Sache des individuellen Gewissens war und nicht eine Sache kirchlicher Autorität und kirchlicher Tradition. Mit einem schönen Satz: "Wahrheit ist nicht wie Käse. Denn Käse wird immer besser, wenn er älter wird, aber Wahrheit nicht." Sprecher Aber war das nicht ein Grundimpuls der Reformation? Das individuelle Gewissen entscheidet über den Glauben und nicht mehr die Tradition? O-Ton 5 Wedel XV In der Toleranzfrage kann man beim frühen Luther, bei allen frühen Reformatoren, bevor sie sich eben mit den Politikern zusammengetan haben, haben sie alle Toleranz gefordert und haben sehr stark betont: Zum Glauben kann man niemand zwingen. Sprecher Christine Christ-von Wedel ist Historikern mit dem Schwerpunkt Humanismus und Reformation in Basel. O-Ton 6 Wedel XVI Sobald sie – muss man schlicht sagen – die Macht hatten, ihre Gottesdienste durchzusetzen und ihre Lehre an den Schulen und so weiter, da haben sie gesagt: Ja, man kann niemand zum Glauben zwingen, das macht Gott alleine, aber man kann jedermann zwingen, seine Kinder ordnungsgemäß taufen zu lassen, man kann jedermann zwingen seine Kinder in einen richtigen Unterricht zu bringen – vor allem, weil es ja jetzt der rechte ist. [...] Und sie haben dann ja die Freidenker wie Schwenckfeld oder Franck, und vor allem die Täufer natürlich, in einer Weise verfolgt, die schlicht kein bisschen besser ist, als was von katholischer Seite mit der Inquisition gemacht wurde; das ist genau so hart. Musik 1 Battle Hymn of the Republic [Instrumental – Anfang] Sprecher Die Reformation war ein Riss in der europäischen Geschichte. O-Ton 7 van Veen II 5'12 Bis dann hatte die katholische Kirche in Monopol, und religiöse Diversität hat bis dann eigentlich nicht gegeben. Es hat natürlich während des Mittelalter einige Dissenter gegeben, aber die haben doch keine wichtige Rolle in der Gesellschaft gespielt. Und im 16. Jahrhundert ist diese Einheit völlig zerstört worden und ich glaube, dass das die Leute im 16. Jahrhundert auch schockiert hat, weil die Gläubigen des 16. Jahrhunderts völlig davon überzeugt waren, dass man, wenn man der falschen Kirche angehörte, auch den Himmel vergessen könnte. Sprecher Aber nicht nur der Himmel war mit dem falschen Glauben in Gefahr, auch die Einheit des Gemeinwesens schien bedroht: O-Ton 8 van Veen II Man konnte sich nicht denken, dass eine Gesellschaft ohne Einheit, ohne kirchliche Einheit bestehen könnte. […] Und man hat wirklich die Idee gehabt, dass ohne die kirchliche Einheit die Gesellschaft völlig in Chaos und Unruhe gestürzt werden musste. Sprecher Um das zu vermeiden setzte Martin Luther auf die Einführung der Reformation von oben durch die, wie es damals hieß, "Obrigkeiten". In Genf versuchte Johannes Calvin zusammen mit der Pfarrerschaft den Rat der Stadt Genf auf einen christlichen Kurs festzulegen. Atmo Auditoire [unter das Folgende] Im Auditoire, einer kleinen Kirche neben dem Genfer Münster traf sich die Compagnie des Pasteurs. Die Reformationshistorikerin Irena Backus findet, dass man Calvin zu Unrecht eine Tyrannenherrschaft vorwirft. O-Ton 9 Backus IV [im Auditoire] Tyrannei würde ich nicht sagen. Das war viel mehr eine Erziehung der Bewohner und auch eine Erziehung, was gerade der Protestantismus war, was sie glauben und nicht glauben sollen und so weiter. Das war sozusagen, ja, eine Erziehung der Bewohner. [...] Sonst war die Stadt sehr anarchisch [lacht]. Das war das Problem. Und Calvin musste [...] vermeiden, dass der Protestantismus als eine Libertinage, eine Anarchie, eine religiöse Anarchie bestimmt wird. Atmo Auditoire kurz frei. O-Ton 10 Backus VI Er hatte viele Schwierigkeiten mit den Zivilbehörden der Stadt. Aber er wollte daraus eine wirklich christliche Stadt machen. Zitator Calvin Also wird die fromme Obrigkeit Wächterin sein über die Lehre der Frömmigkeit, Sprecher forderte der Reformator Calvin, Zitator Calvin nicht nur um diejenigen zum Glauben zu zwingen, die ihn weniger freiwillig annehmen wollen, sondern auch damit Christus nicht aus ihrem Herrschaftsgebiet, in welchem sie durch seine Gnade regieren, verbannt wird, damit sein heiliger Name nicht ungestraft verspottet wird, durch dessen Glanz ihre Herrschaft erst ehrenvoll wird; damit die Gottlosen nicht ihren Mutwillen treiben können mit der Lehre dessen, der den Frieden in ihrem Reich aufrecht erhält. (GC, 135) O-Ton 11 van Veen II 9'20 Also Europa hat sich bis dahin verstanden als der Leib Christi, und diese Idee wurde zerstört. Der Umbruch bei Castellio ist, dass er sagt: Nein, die Lösung ist nicht, dass wir eine neue Einheit forcieren, aber dass wir Diversität akzeptieren. Seine Zeitgenossen haben versucht, eine neue Einheit zu schaffen. Aber er war davon überzeugt, dass diese neue Einheit nur, tja, auf der langen Dauer geben könnte. Und dass man jedenfalls temporär Diversität akzeptieren sollte. Und das war neu. Sprecher Verschiedenheit zu akzeptieren bedeutete, der Obrigkeit die Befugnis abzusprechen über Moral und Lehre zu wachen. Zitator Castellio Das Schwert wird für das Reich Christi nicht gebraucht, außer um Christus und die Seinen zu töten. Es gibt freilich einige Diener Gottes, die das Schwert führen, aber um Übeltäter zu bestrafen, nicht um das Reich Christi zu errichten. (GC, 130f.) O-Ton 12 van Veen I 10'02 Laut Castellio sollte man eigentlich einen Ketzer anders definieren: Ketzerei war im Mittelalter und im 16. Jahrhundert, dass man etwas glaubte, was man nicht glauben sollte. Und er sagte. Nein, ein Ketzer ist jemand, der unmoralisch handelt, dass ist jemand, der einen Menschen tötet oder ein Dieb. Wenn jemand unmoralisch handelt, dann soll der Staat etwas machen, dann soll der Staat auftreten und ihn juristisch verfolgen, aber der Staat solle sich nicht um den Glauben eines Menschen kümmern – eine ziemlich moderne Sichtweise. Sprecher Der Sprachengelehrte Sebastian Castellio hat knapp vier Jahre lang in Genf als Schuldirektor und Hilfsprediger gearbeitet, bis Meinungsverschiedenheiten mit Calvin ihn dazu bewogen, 1545 mit seiner Familie nach Basel zu ziehen. Dort arbeitete als Korrektor und Autor und machte sich einen Namen als Bibelübersetzer; 1553 wurde er Professor für Griechisch an der Basler Universität. Atmo Münsterplatz Die Basler Altstadt wirkt heute beschaulich und klein; auf dem Basler Münsterplatz spielen mittags einige Arbeiter Boule. Im 16. Jahrhundert war Basel betriebsamer, es war eine wichtige wirtschaftliche und intellektuelle Metropole. Viele Glaubensflüchtlinge fanden hier ein Zuhause, erklärt die Historikerin Davina Benkert: O-Ton 13 Benkert III 15'50 Es gab Leute aus Frankreich, aber Italien ist eigentlich ein sehr sehr wichtiger Ursprungsort für Wissenschaftler in der Zeit. Wahrscheinlich hauptsächlich deswegen, weil Italien am frühesten konsequent gegen Reformierte vorgegangen ist; bzw. die reformierte Konfession verfolgt hat. In Frankreich findet das etwas später statt; vor allem nach der Revokation des Edikts von Nantes, wo man dann hier in Basel ganz viele Flüchtlinge aus Frankreich aufnimmt. Musik 2 Battle Hymn of the Republic [instrumental] – unter das Zitat-Sprecher-Zitat Zitat Castellio Dieser Krieg ist anders als andere Kriege. Er ist nämlich ein Krieg ohne Ende. Jede Partei strebt danach, die andere vollständig zu vernichten. Beide Parteien haben außerdem feierlich gelobt, bis zum letzten Atemzug und letzten Blutstropfen zu kämpfen. (van Veen, 183) Sprecher Es waren nicht mehr Adelige, die mit Söldnern um Land oder politische Ziele kämpften, sondern Bürger eines Landes, die sich gegenüberstanden: Die Reformation hat den Bürgerkrieg nach Europa gebracht. Zitat Castellio Oh, in welcher Zeit leben wir! Ja, wir werden zu Mördern aus Eifer für Christus, der, damit das Blut anderer nicht vergossen werde, das seine vergossen hat. [...] Aus Eifer für Christus verfolgen wir andere; obwohl er uns geboten hat, auch die linke Wange hinzuhalten, wenn man uns auf die rechte schlägt. Aus Eifer für Christus fügen wir anderen Böses zu, obwohl er uns befohlen hat, Böses mit Gutem zu vergelten. (GC, 305) Atmo Pfalz / Münsterplatz Basel Sprecher Menschen auf der Flucht vor religiöser Verfolgung kamen nach Basel. So trafen unterschiedliche protestantische und auch altgläubige, also katholische Traditionen aufeinander. Aber deswegen war Basel noch keine Hochburg der Toleranz. O-Ton 14 Benkert XVII Das hat ganz viel mit Pragmatismus zu tun, das ist nicht ein genuiner Wille zu religiöser Toleranz, sondern ein Wille zu ignorieren, was nicht offensichtlich war. Also ein sehr schönes Beispiel wäre David Joris, der große Täufer aus den Niederlanden, der hier in Basel Zuflucht gefunden hatte; er ist dann als reicher niederländischer Händler hier in Basel gestorben, hat im Verborgenen seine religiösen Ansichten weiterverfolgt. Und […] Jahre nach seinem Tod kam heraus, wer da in Basel gelebt hatte und wer da begraben worden war, und man hat ihn auch ausgegraben und öffentlich verbrannt. Sprecher Castellio gehörte zum Freundeskreis von David Joris. Die Verbrennung seiner Leiche hat er noch erlebt. O-Ton 15 Benkert ff. Das Pikante dabei ist, dass wir inzwischen wissen, dass die wichtigen Basler Bürger zu der Zeit genau wussten, wer da unter ihnen lebt, es war einfach nicht allgemein und öffentlich bekannt. […] Also wenn man am Sonntag die offizielle Basler Messe besuchte, dann konnte man den Rest der Woche mehr oder weniger glauben, was man wollte, wenn man nicht zu laut darüber geredet hat. Atmo Ende Sprecher In Genf aber wurden nicht nur eine exhumierte Leichen verbrannt, sondern ein lebender Mensch. Nach einer Anklage als Ketzer, die Johannes Calvin beim Rat der Stadt eingereicht hatte, wurde der Spanier Michael Servet am 27. Oktober 1553 in Genf auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Er hatte die altkirchliche Lehre von der Trinität Gottes in seinen Schriften in Frage gestellt. Musik 3 Battle Hymn of the Republic [beginnt unter dem Sprecher, dann frei Strophe eins] Mine eyes have seen the glory of the coming of the Lord: He is trampling out the vintage where the grapes of wrath are stored; He hath loosed the fateful lightning of His terrible swift sword: His truth is marching on. Zitator Calvin: Aber sobald die Religion in ihren Grundfesten erschüttert wird, verabscheuenswerte Lästerungen gegen Gott vorgebracht, durch gottlose und unheilvolle Lehren die Seelen ins Verderben gezogen werden; sobald man schließlich offen vom einzigen Gott und seiner reinen Lehre abzufallen versucht, muss zum äußersten Mittel gegriffen werden, damit das tödliche Gift nicht weiter um sich greift. (GC, 194) Sprecher So verteidigte Calvin später die Verbrennung Servets. Castellio konterte: Zitat Castellio Wer diese "gottlosen Zerstörer" sind, darum geht der Streit. Denn als "gottlose Zerstörer" der himmlischen Lehre sind nicht immer diejenigen anzusehen, die in strittigen Fragen nicht mit Calvin übereinstimmen. […] So gibt es heute viele christliche Sekten, die alle fromm und gottesfürchtig über das Evangelium denken, es aber verschieden interpretieren. Wenn jemand das Evangelium, zu dem er sich zuvor bekannt hat, deutlich leugnen und Christus schmähen und mutwillig lästern würde, so würde ich mich keineswegs für ihn einsetzen wollen. Wer aber an Christi Worte glaubt, sie jedoch anders versteht als wir, der ist meiner Meinung nach kein "gottloser Zerstörer der Religion". Denn Gottlosigkeit und Irrtum sind nicht dasselbe. (GC, 97f) O-Ton 16 van Veen III 2'52 Das Wichtigste für Castellio war, glaube ich, dass man nicht hundert Prozent sicher sein konnte, dass man selber Recht hat. Und wenn man nicht absolut sicher ist, dass man selber Recht hat, dann ist es auch Wahnsinn einen anderen zu töten. Und zweitens war für ihn die doktrinäre Ketzerei nicht so wichtig. Wenn einer unmoralisch handelte, dann war es wichtig und dann sollte die Obrigkeit Maßnahmen nehmen. Aber wenn jemand etwas anderes glaubte, als man normalerweise glaubte, dann war das für Castellio nicht so problematisch. Zitat Castellio Kein Mensch wird wegen seines lasterhaften Lebenswandels getötet, sofern er nicht Mord oder oder Diebstahl oder irgendein ähnlich schreckliches Verbrechen begangen oder die Prediger beleidigt hat: denn das gilt bei ihnen wie eine Sünde wider den Heiligen Geist. Wenn aber jemand in der Taufe oder im Abendmahl oder in der Rechtfertigung oder im Glauben nicht mit ihnen übereinstimmt, ist er ein Ketzer, ist er ein Teufel, und müssen ihn alle, ob zu Lande oder zu Wasser, als Feind behandeln, gleichsam als ewigen Feind der Kirche und gottlosen Zerstörer der reinen Lehre, auch wenn er ansonsten untadelig lebt und so sanftmütig, geduldig, gütig, barmherzig, freigiebig, religiös und gottesfürchtig ist, dass weder Freund noch Feind etwas gegen seinen Lebenswandel einzuwenden haben. (GC, 215) O-Ton 17 van Veen ff Und drittens, laut Castellio, und das ist eine berühmter Satz geworden, tötet man nie eine Ketzerei, aber immer einen Mensch. Und das war auch neu. Im 16. Jahrhundert hat man noch immer geglaubt an den Teufelspakt. Man hat geglaubt, dass Ketzer, so wie Hexen eigentlich Instrumente des Teufels waren. Und damit wurden Ketzer und Hexen auch dehumanisiert: das waren eigentlich keine Menschen, das wurden satanische Instrumente, die überdies die Gesellschaft gefährdeten; und deswegen wurde es auch ganz rationell gegen diese Ketzer und Hexen einzuschreiten. Sprecher Auf dem Scheiterhaufen brannte für Calvin ein gefährlicher Sohn des Satans. Zitat Calvin Man sieht also, dass es nichts Blutrünstigeres gibt als Heuchler, die sich auf ihrer Unwissenheit und ihren Irrlehren sorglos betten. Aber es ist zwangsläufig so, dass alle Ungläubigen dem Geist ihres Vaters, des Teufels, folgen, "der von Anfang an Mörder und Vater der Lüge war". (CG, 111) Atmo Wasserrauschen – wird zu Wasserrad (Zahnräder) Sprecher Die Wasserräder der Papiermühlen drehten sich in Basel. Sie waren die Grundlage für die blühende Druckindustrie im 16. Jahrhundert; noch heute zu sehen im Schweizer Papiermuseum, einer alten Papiermühle im Basler Alban-Tal. O-Ton 18 mit entsprechender Atmo X Nehme ich mit dem Ledertampon die Farbe vom Farbstein – verteile diese gleichmäßig und färbe den Satz ein, eine Seite, andere – jetzt nehme ich das leicht feuchte Papier, lege es in den Druckrahmen, schließe ihn und klappe ihn auf den Satz – jetzt schieb ich den ganzen Balken unter den Druckstock und mache den Druck. Dann ziehe ich den Wagen wieder hinaus – öffne und nehme das gedruckte Papier hinaus. Sprecher Castellios Buch Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll konnte nach Servets Hinrichtung im März 1554 erscheinen – allerdings hielten es der Autor und sein Drucker für geraten, anonym zu bleiben. Die weitere Auseinandersetzung mit Calvin konnte Castellio nur mittels handschriftlicher Manuskripte führen – aus Angst vor Zensur und Ausweisung. Zitator Castellio Verleumdungen schreiben alle, so glaubt er, die nicht seiner Meinung sind. Daher fordert er, ihnen nicht nur das Schreiben, sondern auch das Reden zu verwehren, damit es allein ihm erlaubt sei, alles, was er wolle, von sich zu geben, und leugnet dann auch noch, dass das Tyrannei ist. (GC, 82) Sprecher Sein letztes großes Werk Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens hat Castellio kurz vor seinem Tod im Jahr 1563 geschrieben; es ist nur als Manuskript überliefert; in diesem Jahr wurde es erstmals ins Deutsche übersetzt. Eine wichtige Erkenntnis darin: Glaubenswahrheiten sind nicht eindeutig. Zitator Castellio Die Frage lautet nicht, ob die heiligen Schriften wahr sind, sondern wir man sie auffassen soll. Alle bekennen, dass sie wahr seien, doch um ihren Sinn wird erbittert gestritten. Dass sie aber mehrdeutig sind, das verdeutlichen gerade jene Kontroversen, von denen wir hier sprechen. Denn sicherlich ist der versammelte Verstand all der gelehrten Männer nicht so blind, dass sie sich schon seit seit so vielen Jahrhunderten über eindeutige Frage streiten müssten, zumal sie, wie wir sehen, in einigen Dingen, die eindeutig sind, tatsächlich übereinstimmen. (KdZ, 101) Sprecher Dass die Heilige Schrift nicht eindeutig ist, war freilich auch ein Politikum. Das detaillierte Festzurren der Lehre war nach den Anfängen der Reformation die politisch-theologische Option der großen Reformatoren: O-Ton 19 Wedel XXV Es wurde ihnen im Laufe ihres Lebens immer wichtiger, die Klarheit der Schrift zu betonen: Bei Luther haben wir ältere Zitate, die zugeben, dass nicht alles so klar ist eigentlich und nicht hin tendieren zu einer Verbalinspiration, dass jedes Wort selber eigentlich inspiriert ist und nicht fehl gehen kann, dass es keine Fehler geben kann […] Und in der späteren Zeit tendiert er sehr stark daraufhin, jedes Tüpfelchen und jedes Wort in der Bibel, das ist vom Geist inspiriert und wir haben uns daran zu halten, und da ist nichts dran zu ändern. Sprecher Christine Christ-von Wedel verweist nochmal auf die erschütternden Umbrüche durch die Reformation: O-Ton 20 Wedel 10'25 Die Reformatoren haben das ganze Abendland durcheinandergebracht. Sie haben das immer abgelehnt, aber sie haben letztlich die Kirche getrennt. Es kam dann in Schmalkalden in den 40er Jahren erste Kriege, in der Schweiz schon vorher, man hat sich bekriegt. [...] Dafür war man verantwortlich und dafür brauchte man jetzt einen festen Halt; man brauchte das auch für die Gefolgschaft, gefordert wurde es auch sehr stark von den Obrigkeiten. [...] Die Reformatoren, das was ihnen am Herzen lag, die Christenheit zu reformieren, das haben sie durchgesetzt mit Hilfe der Obrigkeiten. Und die Obrigkeiten, denen ging es drum, gute Richtlinien zu haben, ihre Sittenmandate durchzusetzen – das haben sie nicht erfunden, die gab es schon vorher im Spätmittelalter. Es war eine Zeit, in der man die Bevölkerung normieren wollte, also gemeinsame Werte in einer politischen Gesellschaft. Dafür brauchen sie feste Richtlinien; und die holen sie natürlich am besten, wenn sie Christen sind, aus der Bibel: Da steht das und so ist das und das haben wir zu machen. Sprecher Die Normierung der Lehre in einem Herrschaftsgebiet bedeutete für Andersgläubige den Zwang zum Auswandern und nicht selten eine Legitimation für Krieg. In dieser Situation war auch der Zweifel hochpolitisch. Zitator Castellio Die Israeliten selbst hätten niemals so viele Propheten und heilige Männer und schließlich gar den Sohn Gottes und seine Apostel getötet, wenn sie Zweifel gehabt hätten. Und die Nachahmer der Israeliten – und nicht etwa Christi – seien es Christen oder Heiden, hätten niemals über so viele Jahrhunderte hinweg so viele Tausende heilige Märtyrer umgebracht, wenn sie Zweifel gehabt hätten. Und heute, wo in den christlichen Kirchen überall die heiligsten Männer getötet werden, würden die Christen niemals so viele schändliche Morde begehen (die sie schon bald werden bereuen müssen), wenn sie ihr Tun in Zweifel zögen. (KdZ, 88) Musik 4 Battle Hymn of the Republic by Johnny Cash Here is a song, that was reportedly sung by both sides in the Civil War: Sprecher [darüber] Kriege vertragen keine Zweifel; Soldaten folgen meist einer göttlichen Wahrheit. Mine eyes have seen the glory of the coming of the Lord: He is trampling out the vintage where the grapes of wrath are stored; He hath loosed the fateful lightning of His terrible swift sword: His truth is marching on. Glory, glory, hallelujah! Glory, glory, (glory) hallelujah! Glory, glory, hallelujah! His truth is marching on O-Ton 21 van Veen II 2'25 Und was ich sympathisch an ihm finde, dass er nicht nur in Theorie diese Kunst des Zweifelns bevorzugt hat, aber das auch selber gemacht hat. Auch in seiner persönlichen Korrespondenz war er im Stande zu sagen: Ja, ich bin völlig davon überzeugt, […] aber es könnte sein, dass ich mich irre. Er war im Stande auch mit Leuten, die einer völlig anderen Meinung waren als er, Kontakte zu pflegen. Und das finde ich sympathisch. Zitator Castellio Hier muss man sicher eingestehen: Gott ist zweideutig. (GC, 88) Literatur zum Thema Der Alcorde Verlag hat zentrale Texte Castellios in ausführlich kommentierten und schön gestalteten Editionen zugänglich gemacht: Sebastian Castellio, Das Manifest der Toleranz. Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll (aus dem Lateinischen von Werner Stingl), Alcorde Verlag, Essen 2013 [MdT]. Sebastian Castellio, Gegen Calvin (aus dem Lateinischen von Uwe Plath), Alcorde Verlag, Essen 2015 [GC]. Sebastian Castellio, Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens (aus dem Lateinischen von Werner Stingl), Alcorde Verlag, Essen 2015 [KdZ]. außerdem erschienen kürzlich: Ueli Greminger, Sebastian Castellio. Eine Biografie aus den Wirren der Reformationszeit, Orell Füssli Verlag, Zürich 2015. Uwe Plath, Der Fall Servet und die Kontroverse um die Freiheit des Glaubens und Gewissens. Castellio, Calvin und Basel 1552-1556, Alcorde Verlag, Essen 2014. Mirjam van Veen, Die Freiheit des Denkens. Sebastian Castellio - Wegbereiter der Toleranz 1515-1563. Eine Biografie, Alcorde Verlag, Essen 2015.
© Copyright 2024 ExpyDoc