Rundbrief Nr. 183 - Stab - Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur

Stiftung für
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Zürich, im August 2015
Rundbrief Nr. 183
An den Freundeskreis der
STAB Stiftung für
Abendländische Ethik und Kultur
500 Jahre Sebastian Castellio –
Vorkämpfer der religiösen Toleranz,
Wegbereiter der Menschenrechte
von Pfarrer Ueli Greminger
Sebastian Castellio war das Gegenüber von Johannes Calvin. Der französische Gelehrte und
Humanist setzte in der heissen Phase der Reformation nicht auf die Stärkung des Glaubens
und der religiösen Partei, sondern auf die Kraft des Einzelnen und auf die Kunst des Zweifelns.
Sebastian Castellio war ein humanistischer Gelehrter und Theologe aus Savoyen, der sich der Reformation verpflichtet fühlte. Mit seinen Ideen von Toleranz und Glaubensfreiheit war er seiner Zeit
weit voraus. Er geriet in Konflikt mit Johannes Calvin und der Reformierten Kirche. Sein früher
Tod in Basel kam einer möglichen Verurteilung oder Flucht zuvor. Sein theologisches Vermächtnis
„Die Kunst des Zweifelns“ galt über Jahrhunderte als verschollen, wurde 1938 in einem Archiv in
Rotterdam entdeckt und wird in diesem Herbst erstmals in einer deutschen Übersetzung zugänglich
sein.
Wenn Kain doch nur rechtzeitig daran gezweifelt hätte,...
dass es Gott war, der den Bruder Abel bevorzugt hatte! Wenn ihm nur jemand gesagt hätte, dass
Gott viel grossmütiger ist, als es die Menschen sich vorstellen, dann hätte er einen Weg aus der Eifersucht finden können. Dann hätte er seinen Bruder nicht töten müssen. So argumentierte Sebastian
Castellio. Er entdeckte den Zweifel als das Mittel, den Glaubenseifer zu brechen.
Im Nachhinein ist man oft gescheiter. Nach der Finanzkrise 2008 war von Fachleuten zu hören,
man hätte im vergangenen Jahrzehnt zu viel Glauben ins Finanzsystem gehabt. Darum sei es aus
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dem Ruder gelaufen. Man hat zu viel geglaubt und zu wenig gezweifelt. Auf dem Gebiet der Religion ist es
genauso. Zuviel Glauben führt schnell zu blindem Glauben, zum Glaubenseifer, zum Fanatismus.
Da sind wir bei der Entdeckung des Sebastian Castellio. Der Glaube ist wesentlich auf den Zweifel
angewiesen, sonst wird er blind, verliert die Freiheit und richtet grossen Schaden an. Mit einem einzigen Satz brachte Sebastian Castellio seine Entdeckung auf den Punkt: „Aus dem Nicht-Zweifeln
dort, wo der Zweifel angebracht wäre, entsteht ebenso viel Übel, wie aus dem Unglauben dort, wo
man glauben müsste.“
Castellio über die Kunst des Zweifeln: „Ich mache mich an die Beschreibung einer Kunst, mit deren
Hilfe einer mitten im Strudel der Zerwürfnisse, von denen die Kirche heute erschüttert wird, sich
behaupten und die echte und erkundete Wahrheit besitzen kann, dass er je nach Massgabe seines
Glaubens und Amts unerschütterlich bleibt gleichwie ein Fels.“
Im Schatten von Johannes Calvin
Im Zusammenhang mit dem Jubiläumsjahr „500 Jahre Calvin“, das im Jahr 2009 begangen wurde,
bin ich auf das Gegenüber von Johannes Calvin aufmerksam geworden, auf Sebastian Castellio, der
jedoch bis heute in seinem Schatten steht. Wie Calvin war Castellio humanistisch gebildet, äusserst
begabt und davon beseelt, die Kirche von Grund auf zu reformieren. Er war wie Johannes Calvin eigenständig, widerständig und trotzte der damals allmächtigen katholischen Kirche. Sebastian Castellio suchte Verbündete im Kampf für die Glaubensfreiheit. Er meinte in Johannes Calvin einen
solchen gefunden zu haben. Die beiden spannten zusammen. Es dauerte jedoch nicht lange und es
kam zum Zerwürfnis. Castellio blieb nur die Flucht aus Genf. Mit seinem hartnäckigen Festhalten
am humanistischen Ideal der religiösen Toleranz blieb er auch in Basel in der Schusslinie seines
ehemaligen Verbündeten. Trotz Exil, bitterer Armut und übler Nachstellungen blieb er bei seiner
Haltung: Es ist die Kunst des Zweifelns, welche die Macht und die Willkür der religiösen Ideologie
bricht.
Auch heute steht Castellio noch immer in Calvins Schatten. Darum rufe ich in seinem Jubiläumsjahr 2015 sein Vermächtnis und Schicksal in Erinnerung. Ich bin davon überzeugt, dass er eine Persönlichkeit aus den Wirren der Reformationszeit ist, auf die wir heute stolz sein können!
Um Sebastian Castellio bekannt zu machen habe ich zu seinem Jubiläum eine allgemein verständliche Schrift über sein Leben und sein Denken geschrieben:
„Sebastian Castellio. Eine Biographie aus den Wirren der Reformationszeit“, Orell Füssli, September 2015. Was ist so besonders an Sebastian Castellio?
Es ging um die Freiheit des Glaubens
Worum ging es? Nur wenige Jahre nach der Reformation, der Befreiung aus dem Joch der römischkatholischen Kirche, hatte sich die reformierte Kirche so etabliert, dass sie ihrerseits die Methode
der Inquisition übernahm. Sebastian Castellio legte den Finger auf den wunden Punkt und rief dazu
auf, zur Anfangszeit der Reformation zurückzukehren.
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„Nicht der Glaubenszwang, sondern der freie Glaube gibt den Menschen ihre Würde und ermöglicht ein friedliches Zusammenleben.“
Sebastian Castellio deckte damit bereits in seiner Zeit den Schatten von Johannes Calvin auf, indem
er die von Calvin organisierte Reformierte Kirche hinterfragte: Ist das hart geschmiedete Gebilde
der Genfer Kirche noch ein christliches Werk zur alleinigen Ehre Gottes? Er kam zum Schluss:
Nein! Die Freiheit des Glaubens ist wichtiger als die Disziplin in der christlichen Doktrin. In seiner
Toleranzschrift zitiert er den jungen Martin Luther: „Nur ein freier Glaube des Einzelnen ist ein
wahrer Glaube.“
Am Anfang waren Calvin und Castellio Verbündete
Der junge Castellio war dem sechs Jahre älteren Calvin bereits in Strassburg begegnet. Er gewann
dessen Vertrauen. Calvin schickte ihn nach Genf. Die gute Ausbildung der jungen Theologen lag
ihm sehr am Herzen. Dafür sollte Castellio als neuer Rektor der Lateinschule Ecole de Rive sorgen.
Aber kaum war Calvin selber wieder in Genf, fiel ihm Castellio durch sein widerständiges Denken
auf. Und vor allem durch seinen Mut. Davon zeugt folgende Episode:
Es war im Jahr 1542. In Genf wütete die Pest. Es fand sich aber kein Pfarrer, der bereit war, den
Pestkranken beizustehen. Einzelne hätten erklärt, sie würden lieber zum Teufel gehen als ins Pestspital. Castellio, der früher in Strassburg bereits Pestkranke gepflegt hatte, anerbot sich, diesen
Dienst zu übernehmen. Er wurde aber abgewiesen, weil er gar nicht ordinierter Pfarrer war. Auf Betreiben von Calvin blieb ihm die Ordination verwehrt. Warum? Calvin spürte, dass ihm Castellio
ebenbürtig war und dass er nicht bereit war, sich ihm zu unterwerfen. So kam es zu jener denkwürdigen Pfarrerversammlung.
Eklat in Genf
Johannes Calvin referierte über Paulus. Sebastian Castellio erwiderte: „Die Genfer Pfarrer sind in
allem das Gegenteil des heiligen Paulus. Er war demütig, sie sind hochmütig. Er war mässig, sie
denken nur an ihren Bauch. Er wachte über seine Getreuen, sie wachen bloss über die harmlosen
Spiele ihrer Mitbürger. Er war im Gefängnis, sie bringen andere ins Gefängnis.“
Diese Worte wurden Sebastian Castellio zum Verhängnis. Er galt als Verräter an der Sache der Reformation. Er musste Genf verlassen und lebte in den nächsten Jahren mit seiner Familie in grosser
Armut in der Stadt Basel. Aber auch in Basel wurde er bespitzelt. Seine Schriften wurden zensuriert, deren Druck verhindert. Er wurde verleumdet, des Holzdiebstahls beschuldigt und entging
möglicherweise nur dank seinem frühen Tod mit 48 Jahren dem gleichen Schicksal wie Miguel
Servet.
Die Affäre Servet und das Manifest der Toleranz
In Genf war der spanische Arzt und Theologe Miguel Servet im Jahr 1553 auf dem Scheiterhaufen
verbrannt worden, weil er das Dogma der Trinität kritisierte. Johannes Calvin hatte das Todesurteil
des Genfer Rates begrüsst.
In der Folge meldeten sich verschiedene Stimmen aus der reformierten Schweiz, die sich über die
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Haltung von Johannes Calvin empörten. Sebastian Castellio war ihr Wortführer. Er verfasste die
Schrift „Über die Häretiker“, die als das „Manifest der Toleranz“ in die Geschichte eingehen sollte.
Zitat: „Wahre Frömmigkeit und Liebe gibt es kaum mehr. Überall herrscht Streit und Zank und
zwar nicht nur unter den Gelehrten, sondern auch unter den einfachen Leuten. Über alle nur möglichen und unmöglichen dogmatischen Spitzfindigkeiten wird erbittert diskutiert, auch über solche,
die den Menschen nicht besser machen. Nur über die Art und Weise, wie man zu Christus gelangen
könne, redet niemand. Gerade dies wird überall vernachlässigt. Man kritisiert und verurteilt andere,
ohne die eigenen Fehler und Sünden zu bedenken, und viele Menschen merken nicht, dass sie den
Splitter aus des Bruders Auge nicht entfernen können, ehe sie den Balken aus dem eigenen Auge
gerissen haben. In der Sache Wahrheit ist Gott allein zuständig. Nur er allein ist im Besitz der
Wahrheit.“
Sebastian Castellio stellt fest: „Ein Ketzer ist im Grunde genommen jeder, der eine andere Meinung
hat.“ Und: „Es ist der Glaubenseifer, der den Ketzer erzeugt. Der Glaube, welcher den Zweifel nicht
zulässt, führt zu blindem Eifer, zu einem fanatischen Glauben.“
„Der Rat an das kranke Frankreich“
Die unglückliche Geschichte der Reformation, die zum Bürgerkrieg führte, liegt bis heute wie eine
bleierne Wolke über Frankreich. Sie zeugt davon, dass das Christentum als öffentliche Religion in
Frankreich zugrunde gerichtet wurde.
Bereits Sebastian Castellio erkannte diese Gefahr und wandte sich mit einem Brief an die französische Nation: „Conseil à la France desolée“.
Frankreich stand im Jahr 1562 wegen der ungelösten religiösen Frage am Rande eines Bürgerkrieges. In ganz Frankreich hatten sich reformierte Gemeinden gebildet. Es waren alle Stände vertreten. Es braute sich etwas zusammen. Frankreichs Reformierte wurden aus Genf von Johannes Calvin moralisch aufgerüstet. Es kam vereinzelt zu Bilderstürmen in Kirchen und Kathedralen und im
Gegenzug zu Massakern an Reformierten. Die grosse Frage war nun, wie es in der unübersichtlichen und unentschiedenen Situation des zerrissenen Landes weitergehen sollte.
Kritik auch an den Reformierten
Sebastian Castellio schrieb den „Rat an das kranke Frankreich“ im Oktober 1562. Die Publikation
folgte im Juni 1563. Das einst blühende Frankreich ist krank. So lautete seine Diagnose. Sowohl die
Katholiken wie die Reformierten schrecken vor verhängnisvollen Verbindungen mit dem Ausland
nicht zurück und beide Parteien praktizieren den Glaubens- und Gewissenszwang. Daraus ergibt
sich die Brutalität der Auseinandersetzung, die beklagenswerte Tatsache, dass Tausende ohne
Schuld ihre Leben verlieren. Castellio kritisiert beide Seiten gleichermassen. Es stehe keiner christlichen Kirche an, zu den Waffen zu greifen und Andersdenkende umzubringen, die Armen um ihr
Hab und Gut zu bringen, Hass und Gewalt zu predigen. Das ist der springende Punkt: Katholiken
und Reformierte seien beide von Gott, für dessen Ehre sie zu streiten vorgeben, gleich weit entfernt.
Die katholische
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Kirche habe schon immer die Verfolgung Andersdenkender praktiziert. Nun tun es auch die Anhänger der Reformation. Diese Sicht rief heftigen Protest bei den Reformierten hervor.
Trennung von Kirche und Staat
Sebastian Castellio ging es allerdings nicht um die Stärkung der reformierten Position in Frankreich, sondern grundsätzlich um die Zukunft des Landes mit seiner ganzen Bevölkerung. Gewaltsames Vorgehen, so stellt er fest, bringt demjenigen, der es praktiziert, letztlich immer Misserfolg.
Interessanterweise nennt Sebastian Castellio an dieser Stelle als Paradebeispiel Huldrych Zwingli.
Solange dieser seinen Kampf als Theologe und Prediger führte, hatte er Erfolg. Als er aber der Gewaltanwendung zustimmte und selbst das Schwert ergriff, kam es zur Katastrophe. Er selbst fiel in
der Schlacht, die konfessionellen Fronten verhärteten sich und eine weitere Ausbreitung der Reformation war von da an in der Eidgenossenschaft unmöglich.
Der Staat muss die Religionsfreiheit garantieren!
Was ist nun der Rat, der Sebastian Castellio der kranken Nation gibt? Die einzige Möglichkeit, den
Weg der Besserung einzuschlagen, besteht darin, den Glaubens- und Gewissenszwang abzuschaffen
und die friedliche Koexistenz der beiden Konfessionen zu verwirklichen. Die religiöse Einheit ist
keine Möglichkeit mehr. Darum muss sie der politischen Einheit geopfert werden. Das bedeutet,
dass der Staat die friedliche Koexistenz der Konfessionen mit allen Mitteln garantieren muss. Sebastian Castellio blieb mit seinem Rat ein Rufer in der Wüste. Was folgte, waren blutige Kämpfe
mit der Bartholomäusnacht als Tiefpunkt im Jahr 1572 und einem endlosen Bürgerkrieg. Zählten
im Jahr 1560 mehr als 10 Prozent der französischen Bevölkerung zu den Reformierten, nahm die
Zahl durch den bald einsetzenden Bürgerkrieg und die Verfolgung nach der Aufgebung des Ediktes
von Nantes drastisch ab. Viele Hugenotten flohen ins Ausland.
Das Urteil von Stefan Zweig
Stefan Zweig hatte recht, wenn er in seinem Essay „Castellio gegen Calvin. Ein Gewissen gegen die
Macht“ schrieb: „Nachfahren haben Sebastian Castellios Ruhm geerntet, und noch heute ist in jedem Schulbuch der Irrtum zu lesen, dass David Hume und John Locke die ersten gewesen seien,
welche die Idee der Toleranz in Europa verkündet hätten, als wäre Castellios Ketzerschrift nie geschrieben und nie gedruckt worden, vergessen das Aufbegehren gegen Calvin, ‚der Mücke gegen
den Elefanten’, vergessen seine Werke, vergessen sein ‚Rat an das kranke Frankreich’.“
Stefan Zweig: „Welch ein stiller Held und welch freier Geist, dieser Castellio, dieser Arme, dieser
Isolierte, dieser Erasmische ohne den beissenden Spott, ohne dessen Schwäche. Ich bin wirklich
sehr dankbar, diesen edlen Charakter gefunden zu haben. Doch es ist manchen verhängt, im Schatten zu leben, im Dunkel zu sterben.“
Das Denkmal von Werner Kaegi
Der Basler Historiker Werner Kaegi hat im Jahr 1954 anlässlich der Gedenkfeier an der Universität
Basel „400 Jahre Manifest der Toleranz“ eine Ansprache gehalten, mit der er Sebastian Castellio
ein würdiges Wort Denkmal gesetzt hat:
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„Das weitverzweigte Netz von Wegen und Strassen, das aus verschiedenen Epochen und Ländern
zum Katalog der Menschenrechte führt, findet einige seiner wichtigsten Ursprungsgebiete auf den
Britischen Inseln. Eine Strasse indessen kommt zu ihm hin vom Kontinent her. Sie führt von Basel
aus rheinabwärts in die Niederlande, dann über das grosse Meer in die Staaten des neuen Holland,
das später Neu-England geworden ist, an die Küste des neuen Amsterdam, das heute New York
heisst. Von dort führt sie zurück ins Frankreich der Revolution und in die Geschichte unsres eignen
19. Jahrhunderts. Castellios Büchlein, das im Herbst 1553 als Idee konzipiert und im Frühling 1554
gedruckt worden ist, stellt einen der Gründe dar, warum der Name Basels und seiner Universität in
der Geschichte der Freiheit von der Welt mit Ehren genannt wird.“
„Die Wahrheit leben und sie so sagen, wie man sie denkt, kann niemals ein Verbrechen sein.“
Sebastian Castellio
Ueli Greminger studierte Theologie in Zürich und Wien. Seit 30 Jahren ist er als Pfarrer tätig, seit
2007 am St. Peter in Zürich. Er versteht sich als liberaler Theologe, der das Religiöse und dem
freien Denken verbindet.
Wir wünschen der Biografie über Sebastian Castellio, der aktuell gebliebenen historischen Persönlichkeit, eine grosse Leserschaft - auch im Freundeskreis der STAB. Ein Verlagsprospekt mit Bestelltalon liegt bei.