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Presseschau
Woche
35
Delinquenz und Kriminalprävention
21.08.15 – 27.08.15
Unsere Themen:
Gewalt im sozialen Nahraum, Jugendkriminalität und Jugendgewalt, Resozialisierung von Straffälligen
Inhaltsverzeichnis
Der Weg vom Opfer zum Täter ist nicht weit
Wer als Kind Gewalt erlebt, hat ein erhöhtes Risiko, später selbst gewalttätig zu werden ......................1
Fall Seidel: Jetzt spricht die Kesb-Chefin
Die Angehörigen brachten den Rentner nach Deutschland und pflegen ihn seither privat .......................4
Jugendschiff will am Kurs festhalten
7
«Mein Sohn will nach wie vor heim» ..........................................................................................................7
Nach einem gescheiterten Leben neu aufbrechen
«Neustart» hilft Straffälligen seit 40 Jahren Rückfälle zu vermeiden...................................................... 10
Alt werden im Gefängnis
Betagte Strafgefangene brauchen mehr Pflege und weniger Zäune ..................................................... 11
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Delinquenz und Kriminalprävention
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Der Landbote
Seite 13
22.08.2015
Der Weg vom Opfer zum Täter ist nicht weit
Wer als Kind Gewalt erlebt, hat ein erhöhtes Risiko, später selbst gewalttätig zu werden
Wer als Kind Gewalterfahrungen macht, schlägt später nicht selten ebenfalls zu. Der Kriminalsoziologe Patrik Manzoni von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW)
spricht von einem Zyklus der Gewalt. Jugendliche, die delinquieren, haben als Kind oft häusliche Gewalt erlebt. Lässt sich diese Beobachtung wissenschaftlich erhärten?
Wer als Kind aktiv oder passiv Gewalt erlebt, hat ein erhöhtes Risiko, später selbst gewalttätig zu werden. Shotshop
Patrik Manzoni: Es gibt viele Studien, die diesen Zusammenhang nachweisen. Kinder, die von ihren Eltern geschlagen oder sexuell missbraucht werden, haben ein erhöhtes Risiko, als Jugendliche oder junge
Erwachsene selbst durch Gewalt oder illegales Verhalten aufzufallen. Sogar Dunkelfeldstudien, welche
nicht amtlich erfasste Straftaten berücksichtigen, belegen dies. Die Forschung blendet leichte körperliche
Strafen wie Ohrfeigen in der Regel aus. Sie befasst sich mit jener Gewalt, denen die Kinder regelmässig
ausgesetzt sind.
Macht es einen Unterschied, ob ein Kind selbst unmittelbar Opfer oder ob es «nur» Zeuge elterlicher Gewalt ist? Das Risiko, später delinquent zu werden, besteht in beiden Fällen. Es ist aber stärker
bei Kindern, die direkt Opfer sind.
Häusliche Gewalt kann ja verschiedene Gesichter haben. Zur häuslichen Gewalt zählen nicht nur
körperliche und sexuelle Grenzüberschreitungen, sondern auch psychische Gewalt und Vernachlässigung. Auch in solchen Fällen lässt sich ein Zyklus der Gewalt beobachten. Häusliche Gewalt ist aber nur
einer von mehreren Gründen, weshalb Jugendliche delinquent werden.
Welches sind weitere Ursachen? Kriminalität ist immer auf ein Bündel an Ursachen zurückzuführen.
Am meisten Einfluss hat das Umfeld. Wer Freunde hat, die bereits verbotene Dinge getan haben, wird
häufig ebenfalls delinquent. Dann spielt das Geschlecht eine Rolle. Männliche Jugendliche haben ein erhöhtes Risiko, kriminelle Handlungen und insbesondere Gewalt auszuüben. Hinzu kommen Persönlichkeitseigenschaften. Zentral ist etwa, wie gut man sich selber kontrollieren und mit Frustrationen umgehen
kann. Ein weiterer Faktor ist das Schwänzen der Schule: Jugendliche treffen sich, sie sind ohne die Kontrolle Erwachsener unterwegs und kommen auf dumme Ideen. Jugenddelinquenz ist in hohem Mass ein
Gruppenphänomen. Alkohol und Drogen setzen dabei die Hemmschwelle hinab.
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Delinquenz und Kriminalprävention
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Welche Delikte verüben Jugendliche am häufigsten? Sie laden Musik oder Filme ins Internet, begehen Vandalismus, stehlen, schlagen zu oder konsumieren illegale Drogen.
Mädchen reagieren auf häusliche Gewalt offenbar anders als Knaben. Sie tauchen in den Kriminalitätsstatistiken viel seltener auf. Mädchen werden unabhängig von ihrer Gewalterfahrung weniger oft
delinquent als Knaben. Sie können sich selbst besser kontrollieren, sie sind weniger risikofreudig und finden es moralisch verwerflicher, gegen das Gesetz zu verstossen. Sie werden mehr zur Rücksichtnahme,
Empathie und Anpassung sozialisiert. In letzter Zeit kann man allerdings beobachten, dass die Kriminalität von Mädchen zunimmt. Weshalb das so ist, muss man noch genauer erforschen.
Reagieren Mädchen auf häusliche Gewalt eher, indem sie psychisch krank werden? Diese These
wird häufig vertreten. Mädchen versuchen negative Erfahrungen intern zu verarbeiten und entwickeln
mehr psychische Auffälligkeiten wie EssBrechSucht oder Depressionen. Knaben richten ihre Wut nach
aussen und fallen durch Aggression auf. Manche Kinder bleiben trotz widriger Umstände gesund.
Welche Faktoren spielen da eine Rolle? Man spricht dabei von Resilienz. Manche Kinder können ihre
Opfererfahrungen wegstecken und erfolgreich verarbeiten, indem sie sich etwa von Aussenstehenden
Hilfe holen. Entscheidend ist die Überzeugung, sein Leben selbst beeinflussen zu können. Diese Haltung
hilft, aktiv Problemlösungsstrategien zu entwickeln.
Gerade ältere Kinder versuchen sich zuweilen gegen Gewalt zu wehren oder gehen dazwischen
wenn die Eltern untereinander handgreiflich sind. Was weiss man darüber? Das ist ein Phänomen,
das man kennt. Die Zuschreibungen von Täter und Opfer sind nicht immer ganz gerechtfertigt. Man kann
eine gewisse Wechselwirkung beobachten. Wer geschlagen wird, kann das Bedürfnis entwickeln, zurückzuschlagen. Das ist naheliegend. Wie häufig dies bei häuslicher Gewalt vorkommt, weiss man allerdings nicht.
Was braucht es, damit Kinder, die Opfer häuslicher Gewalt sind, später nicht selbst zu Tätern
werden? Sie brauchen professionelle Hilfe; sie müssen das Erlebte psychologisch aufarbeiten. Viele Opfer entwickeln posttraumatische Belastungsstörungen. Diese müssen unbedingt angegangen werden,
damit sich die negative Entwicklung nicht weiter verschlechtert. Aussenstehende können dabei eine Stütze sein.
Sollen sich Aussenstehende einmischen? Ja. Es gibt unter anderem die Möglichkeit, bei der Kinderund Erwachsenenschutzbehörde eine Gefährdungsmeldung zu machen. Das können etwa Nachbarn
tun, die etwas mitbekommen. Die Folgen häuslicher Gewalt können gravierend sein. Da sollte man nicht
wegschauen.
Wenn man wegschaut, geht das Leiden eines Kindes unter Umständen jahrelang weiter. Das ist
leider so. Deshalb sollte man bei schweren Fällen aktiv werden. Die Früherkennung ist zentral. Die Kinderärzte spielen da eine wichtige Rolle. Aber auch das Personal von Kinderkrippen kann einschreiten
und muss entsprechend geschult werden.
Was sind denn Alarmsignale? Körperliche Verletzungen sind sichtbar. Da sollte man nicht alle Erklärungen glauben. Schwieriger ist es, sexuellen Missbrauch zu erkennen. Anzeichen können beispielsweise sein, dass sich ein Kind verschliesst, apathisch wirkt oder plötzlich schlechtere Schulleistungen erbringt.
Es gibt zahlreiche Beratungsangebote. Schwierig ist es jedoch, die betroffenen Kinder zu erreichen. Es gibt Notrufe und Onlineangebote, die ältere Kinder oder Jugendliche nutzen können. Wenn den
Behörden Vorfälle häuslicher Gewalt bekannt sind, können sie die aufsuchende Familienarbeit anordnen.
Fachleute machen überforderten Eltern klar, dass Gewalt kein probates Mittel ist, um Konflikte zu lösen.
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Sie zeigen ihnen auf, wie sie ihre Probleme mit alternativen Strategien angehen und die Beziehung zu ihren Kindern stärken können.
Wie muss eine Therapie oder der Strafvollzug für jugendliche Täter aussehen, die selbst Gewalt
erlebt haben? Das ist individuell verschieden. Oft klärt die Schulsozialarbeit, wie der individuelle Bedarf
aussieht, und verweist die Jugendlichen je nachdem an andere Stellen wie den schulpsychologischen
Dienst weiter. Von der Polizei aufgegriffene Jugendliche werden der Jugendanwaltschaft zugeführt. Vielen ist dies eine Lehre. Jugendliche, die weiterhin kriminell auffallen, werden genauer abgeklärt. Im
schlimmsten Fall muss man sie aus ihrem Umfeld rausnehmen, sei es für ein Timeout oder einen längeren Aufenthalt in einem Heim. Daneben gibt es Antiaggressionsprogramme und Kurse für Jugendliche,
die übermässig Drogen konsumieren. Interview: Eveline Rutz
Wenn man im eigenen Zuhause nicht sicher ist
Häusliche Gewalt spielt sich im Verborgenen ab. Wie häufig sie vorkommt, lässt sich nur schwer
beziffern. Häusliche Gewalt hat viele Gesichter. Sie kommt nicht nur in Form von Schlägen oder anderen
Tätlichkeiten vor. Zu ihr zählen auch der sexuelle Missbrauch sowie psychische Gewalt, die unter anderem Beschimpfungen, Drohungen und Demütigungen umfasst. Manche Täter schränken ihre Opfer zudem in ihrem sozialen Leben ein oder kontrollieren sie finanziell. Als spezielle Form häuslicher Gewalt
definieren Fachleute Zwangsheiraten. Häusliche Gewalt spielt sich in den eigenen vier Wänden und damit meist im Verborgenen ab; Opfer und Täter sind voneinander emotional abhängig. Besonders
schwerwiegend sind die Folgen für Kinder und Jugendliche: Sie stehen in einer besonderen Abhängigkeit
und können sich aus belastenden Situationen weniger gut befreien als Erwachsene. Kommt hinzu, dass
sie in ihrer Persönlichkeit noch nicht gefestigt sind. Grenzüberschreitungen wirken sich auf sie in hohem
Mass traumatisierend aus.
Wie häufig häusliche Gewalt vorkommt, lässt sich nur schwer beziffern. Ein Grund dafür ist, dass Betroffene grosse Hemmungen haben, Anzeige zu erstatten. Im Kanton Zürich sind 2014 1617 Straftaten
verzeichnet worden. Am häufigsten wurden Tätlichkeiten und Drohungen registriert; darauf folgen einfache Körperverletzung sowie Nötigung. In rund 43 Prozent der Fälle bestand zwischen Täter und Opfer
eine Paarbeziehung; in rund 34 Prozent der Fälle handelte es sich um eine ehemalige Partnerschaft. In
16,4 Prozent der Fälle übten Eltern gegenüber ihren Kindern Gewalt aus. Wie verschiedene, gesamtschweizerische Erhebungen aufzeigen, sind die Täter überwiegend männlich (rund 80 Prozent) und die
Opfer überwiegend weiblich (rund 76 Prozent). Dass auch Männer Opfer häuslicher Gewalt sein können,
ist in den letzten Jahren zunehmend beachtet worden. Aus Angst, dass ihnen niemand Glauben schenkt,
sprechen sie seltener über ihre Erlebnisse als betroffene Frauen und nehmen kaum Hilfe in Anspruch.
Tätlichkeiten innerhalb von Partnerschaften gelten seit 2004 als Offizialdelikt. Das heisst, sie müssen
von Amtes wegen verfolgt werden. Dies war bei wiederholter Gewalt gegen Kinder bereits unter altem
Recht der Fall. Kinder und Jugendliche geniessen bei Befragungen besonderen Schutz. Damit soll verhindert werden, dass sie psychisch noch einmal schwer belastet werden.
Um die Opfer zu schützen, können die Täter in einigen Kantonen von der Familie weggewiesen werden. Die kantonalen Regelungen unterscheiden sich allerdings stark. Im Kanton Zürich macht die Polizei
Meldung an die Kindesund Erwachsenenschutzbehörde (Kesb), wenn sie wegen häuslicher Gewalt ausrücken musste und Kinder involviert sind. Wer von häuslicher Gewalt betroffen ist, findet unter anderem
bei der Opferberatung Zürich (www.obzh.ch) oder bei der Interventionsstelle Häusliche Gewalt
(www.ist.zh.ch) Hilfe. Sie geben zudem die Adressen von weiteren Beratungsstellen, Notrufen und Frauenhäusern weiter.
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Neue Luzerner Zeitung
Seite 31
22.08.2015
Fall Seidel: Jetzt spricht die Kesb-Chefin
Die Angehörigen brachten den Rentner nach Deutschland und pflegen ihn seither privat
Uri: Die Präsidentin der Kesb, Barbara Eastwood, nimmt erstmals Stellung zum Fall Seidel. Sie
betont, dass sich die Behörde stets korrekt verhalten habe.
Interview: Florian Arnold
Der Regierungsrat hat Barbara Eastwood, Präsidentin der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde
(Kesb) Uri, am Dienstag im Fall des Rentners Klaus Seidel teilweise vom Amtsgeheimnis entbunden. Nun
ist sie bemächtigt, Auskunft gegenüber den Medien zu geben.
Barbara Eastwood, müssen Sie wegen des Falls Seidel Ihr Image aufbessern?
Barbara Eastwood*: Wir verstehen, dass angesichts der einseitigen Berichterstattung Kritik an der Kesb
Uri laut wird. Objektiv gesehen sind die Kesb und die andern involvierten Fachleute wie der Hausarzt, die
Heime, die psychiatrische Klinik und der Kantonsarzt im Fall Klaus Seidel sehr umsichtig, verhältnismässig und korrekt vorgegangen.
Das sieht die Familie des Betagten anders. Sie erlebte die Kesb stur und unflexibel. Können Sie
diesen Eindruck nachvollziehen?
Eastwood: Ich bedaure, dass die Kesb so wahrgenommen wurde, aber es trifft nicht zu. Wir streben möglichst einvernehmliche Lösungen an.
Wo lag denn das Problem?
Eastwood: Die Familie wollte Klaus Seidel privat betreuen. Und dagegen hat die Kesb auch nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Sie unterstützt jede gangbare, aber auch zwingend ausreichende private Lösung.
Sie nimmt bei ihrer Entscheidung unter anderem stets auch Bezug auf fachärztliche Beurteilungen und
Empfehlungen. Die Kesb musste einfach aufgrund der Informationen entscheiden, die ihr zur Verfügung
standen. Im Fall Seidel fehlte insbesondere das Konzept zur Betreuung der betagten Person durch die
Familie.
Mittlerweile hat die Familie gezeigt, dass sie Klaus Seidel betreuen kann. Wieso braucht es noch
ein Konzept?
Eastwood: Was wir lediglich wissen, ist, dass sich Klaus Seidel bei seiner Familie in Deutschland aufhält.
Wie aber die Familie die notwendige Betreuung in der Schweiz sicherstellen würde, konnte uns bisher
niemand ausreichend aufzeigen.
Da tönt Helmut Seidel, der Bruder von Klaus Seidel, anders. Er und sein Anwalt hätten um ein
mündliches Gespräch bei der Kesb ersucht, um genau dies aufzuzeigen. Sie seien aber abgeblockt worden.
Eastwood: Die Kesb hat Helmut Seidel beziehungsweise dessen Anwalt kein Gespräch verwehrt. Die
Behörde stand bis zur Ausreise nach Deutschland im regelmässigen Kontakt mit ihm oder dem Anwalt –
telefonisch und schriftlich.
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Helmut Seidel sagt, es gebe E-Mails an die psychiatrische Fachperson. Dort werde das Betreuungskonzept erläutert. Die E-Mails hätten Ihnen zur Verfügung gestanden, Sie hätten sie aber
nicht beachtet.
Eastwood: Dazu darf ich aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes nichts sagen.
Immer wieder haben Sie sich auf den Datenschutz berufen. Versteckt sich die Kesb?
Eastwood: Die Kesb kommt in ihren Verfahren zu persönlichen, zum Teil sensiblen Informationen aus der
Privatsphäre von Betroffenen. Der Datenschutz gilt gerade diesem Schutz der Privatsphäre. Dass
dadurch die Bevölkerung keine Details seitens der Behörde erfährt, um zu einer ausgewogenen Berichterstattung zu kommen, ist die Kehrseite des Datenschutzes und wird vom Gesetzgeber zu Recht in Kauf
genommen. Keine betroffene Person will in die Lage versetzt werden, in welcher die Kesb persönlichkeitsbezogene Informationen über sie preisgibt.
Helmut Seidel monierte, sein Bruder sei im Heim mit Medikamenten «zugedröhnt» worden, was
ihn entscheidungsunfähig gemacht habe.
Eastwood: Die Kesb stellt keine Diagnosen. Es ist Sache der Ärzte, Medikamente zu verschreiben und
Diagnosen zu stellen.
Weiter heisst es, die Frau von Klaus Seidel sei entmündigt worden, und die Kesb richte nun über
ihr Vermögen. Darf die Behörde Vermögen von Betagten verwalten?
Eastwood: Allgemein kann ich sagen, dass die Kesb Beistandschaften individuell zugeschnitten auf die
Bedürfnisse der betroffenen Person gestalten und anordnen kann. Das betrifft die Personensorge, das
Vermögen oder den Rechtsverkehr oder alles zusammen. Umgesetzt wird die Massnahme von privaten
Mandatsträgern oder durch die Berufsbeistandschaft. Dieses Massschneidern von individuellen Lösungen ist eine der Errungenschaften des neuen Rechts.
Am 16. Juni haben Sie Klaus Seidel zur Aufenthaltssuche und Rückführung polizeilich ausgeschrieben. Weshalb wurde die Suche am 28. Juli eingestellt?
Eastwood: Da der Aufenthaltsort unterdessen bekannt war, erübrigte sich die weitere Suche. Allgemein
kann ich sagen, dass die Kesb eine schutzbedürftige Person polizeilich suchen und zurückführen lässt,
wenn diese sich vom Unterbringungsort ohne Absprache entfernt hat und unauffindbar ist, weil unsicher
ist, ob sie sich schutzlos Gefahren aussetzt. Die Rückführung an den Unterbringungsort ist aber unter
diesen Umständen nur innerhalb der Landesgrenze möglich. Befindet sich die Person im Ausland, kann
die Kesb über die Polizei den Aufenthaltsort ermitteln lassen, damit sie die zuständige Schutzbehörde vor
Ort kontaktieren kann. Das weitere Vorgehen hängt vom konkreten Einzelfall ab.
Was aber passiert mit Klaus Seidel, wenn er in die Schweiz zurückkommt?
Eastwood: Vorerst gilt der Entscheid, den die Kesb gefällt und das Obergericht gestützt hat (das Obergericht hat die Einsprache der Familie Seidel zum Kesb-Entscheid abgewiesen, Anmerkung der Redaktion).
Die Kesb hat den gesetzlichen Auftrag, bedürftige Personen zu schützen.
* Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes will Barbara Eastwood nicht mit Bild erscheinen.
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Das ist passiert
Im Dezember 2014 erleidet Klaus Seidel (88), der mit seiner Frau in Altdorf lebt, einen Schlaganfall. Daraufhin soll er mit seiner Gattin in ein Altersheim ziehen. Im Gespräch mit der Heimleitung wird er ausfällig: «Dann erschiesse ich mich lieber gleich. Mich und meine Frau.» Die Kesb weist den Rentner in die
Pflegewohngruppe Höfli ein. Als Seidel nach Deutschland reisen möchte, wird ihm dies verwehrt. Die Angehörigen sehen nur einen Ausweg: Sie bringen den Rentner nach Deutschland und pflegen ihn seither
privat. Gegen den Kesb-Entscheid wurde Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben. Das Urner Obergericht stützte den Entscheid der Kesb.
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Zürichsee-Zeitung
Seite 7
24.08.2015
Jugendschiff will am Kurs festhalten
«Mein Sohn will nach wie vor heim»
Schmerikon Zum ersten Mal seit über einem Jahr hat die Mutter des Schmerkner Jugendlichen,
den die Kesb Linth auf das Erziehungsschiff Salomon schickte, ihren Sohn treffen können. Zum
«Tag der offenen Luke» sind Sie am Sonntag nach Elsfleth bei Bremen gereist und haben auf
dem Schiff Salomon ihren Sohn treffen können. Wie haben Sie den Besuch erlebt?
Aktuell liegt das Erziehungsschiff Salomon bei Bremen vor Anker. zvg
Jeanette K.: Ich kam mir vor wie auf einer Kaffeefahrt. Hauptsächlich schien sich der Anlass an die einweisenden Institutionen zu richten. Beim Besuch wurde zünftig die Werbetrommel gerührt. Es waren
auch zwei Jugendliche zu Besuch, für die ein Schiffsaufenthalt infrage kommt. Ein Jugendlicher verlässt
demnächst das Schiff. Dann sind nur noch sechs Teilnehmer an Bord, 15 könnten es maximal sein.
Wenn das so bleibt, frage ich mich, wie sie künftig die Nachtwache auf den Überfahrten organisieren wollen. Bislang war es so, dass nachts jeweils zwei bis drei Jugendliche während dreier Stunden an Deck
Wache schoben.
Hatten Sie auch einmal Zeit, um mit Ihrem Sohn unter vier Augen zu sprechen? Jeanette K.: Am
Nachmittag konnten wir gemeinsam vom Schiff weg. Wir gingen Schuhe und Kleider probieren. Ich habe
ihm ja drei Paar Schuhe aus der Schweiz mitgebracht, zwei davon passen. Die Uniformschuhe, die er erhalten hat, sind etwa zwei Nummern zu gross. Passende orthopädische Schuhe hat er nicht, die müsste
man im Spital exakt anpassen.
Haben Sie darüber geredet, was ihn bewegt und wie gut es ihm auf dem Schiff gefällt? Jeanette K.:
Er versucht, das Beste daraus zu machen. Er hat es auch einmal lustig – hoffentlich auch! Etwa dann,
wenn sie Fussball spielen gehen. Er will nach wie vor heim, daran hat sich nichts geändert. Wir haben
aber während meines Aufenthalts nicht nur über das Schiff geredet, sondern auch einfach die Zeit zusammen geniessen wollen.
Nach über einem Jahr hat er erst rund 20 Wochen bestanden. Trotzt er manchmal auch? Jeanette
K.: Jeder Teenie trotzt manchmal. Ich sage ihm, dass er möglichst aufs Maul sitzen soll – wenn er sagt,
was er denkt, kann das zu seinem Nachteil sein. Mein Sohn sagt, dass er das Benotungssystem nicht
versteht. Mal besteht er die Woche, mal nicht. Für den Lernprozess wäre es meiner Meinung nach wichtig, dass Jugendliche die Bewertung nachvollziehen können.
Per wann rechnen Sie mit der Rückkehr? Jeanette K.: So genau wissen wir das im Moment nicht. Aktuell liegt das Schiff in der Werft, seit drei Wochen hat es keine Bewertung mehr gegeben. Erfüllt hat
Marco derzeit zwischen 21 bis 23 Wochen. Es bleiben mindestens 17 Wochen. Die hat er frühestens bis
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Delinquenz und Kriminalprävention
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Mitte Dezember erfüllt. Zum Teil werden allerdings die Rückflüge nicht sehr zeitnah gebucht. Ein Junge
musste weitere fünf Wochen warten, nachdem er die 40 Wochen erreicht hatte.
Welchen Eindruck haben Sie vom Schiff erhalten? JeanetteK.:Prinzipiellfindeichdas SchiffeineguteSache–alsAlternativezumJugendknast. Diemeisten anderen Jugendlichen hatten mit dem Gesetz beziehungsweise wegen Drogen Probleme, im Gegensatz zu meinem Sohn.
Sind Sie froh, dass der Besuch möglich war, oder hat er alles emotional schwieriger gemacht?
Jeanette K.: Beim Tschüss-Sagen hat mein Sohn grosse Mühe gehabt.
Und wie schwer fiel Ihnen der Abschied? Jeanette K.: Ich bin froh, dass ich meinen Sohn sehen konnte. Natürlich hätte ich ihn am liebsten gleich eingepackt. Ich höre nicht auf, für ihn zu kämpfen.
Interview: Ueli Abt
Jugendschiff will am Kurs festhalten
Schmerikon Die Betreiber des umstrittenen Erziehungsschiffs Salomon hoffen, mit einem neuen
Konzept das Aus abzuwenden. Träte es in Kraft, wäre eine Odyssee wie jene des Schmerkner Jugendlichen Marco kaum mehr möglich.
Die Stiftung Jugendschiffe Schweiz steht seit letztem Oktober unter Druck. Dem Erziehungsschiff Salomon, auf welchem renitente Jugendliche Anstand und das Einhalten von Regeln lernen sollen, werden
Mitte 2016 die Segel gestrichen. Nach Medienberichten über den heute 15-jährigen Marco aus
Schmerikon, den die Kesb Linth auf das Schiff beorderte, hatte das beaufsichtigende Berner Jugendamt
diverse Mängel festgestellt und bekannt gegeben, dass für die Zeit nach August 2016 keine Betriebsbewilligung mehr ausgestellt werde. Darauf wollte die Stiftung ein neues Konzept vorlegen, um doch eine
Verlängerung der Bewilligung zu erhalten. Wie sich die Betreiber des Erziehungsschiffs ihre Zukunft vorstellen, zeichnet sich jetzt ab: in den Grundzügen wie bisher. Wie aus einem Konzeptpapier hervorgeht,
das der ZSZ vorliegt, soll die Salomon weiterhin diesseits und jenseits des Atlantiks unterwegs sein. Zudem sollen die Jugendlichen wie bis anhin erst vom Schiff entlassen werden, wenn sie 40 Wochen mit
einer genügenden Note hinter sich haben. Dabei hatten laut einem früheren Medienbericht die Schiffsleiter einst grundlegendere Änderungen angedacht: eine Verkürzung auf sechs Monate und eine Beschränkung des Segelgebietes aufs Mittelmeer.
Schiff würde teurer
Ob sich mit dem neuen Konzept das beaufsichtigende Berner Jugendamt überzeugen lässt, wird sich
gegen Ende Jahr zeigen. Wie Amtsleiterin Andrea Weik im April auf Anfrage sagte, beurteilt das Amt die
lange Verweildauer auf dem Schiff als problematisch. Selbst eine zeitliche Verkürzung würde aber aus
Sicht des Amtes nicht sämtliche Probleme beseitigen: Unter anderem sei eine genügende Aufsicht von
Bern aus ohnehin nicht möglich, selbst wenn das Schiff künftig nur noch in Europa segeln würde. Zum
neuen Konzept will das Amt keine Stellung nehmen. Amtsleiterin Weik bestätigt lediglich, dass die Stiftung und das Amt «miteinander im Gespräch» stünden. In diesem Dialog gehe es um rechtliche Fragen.
Trotz unveränderten Eckpunkten würde das neue Konzept, sofern es denn umgesetzt werden könnte,
Neuerungen bringen. So will die Stiftung die Tagespauschale um 55 Franken auf neu 485 Franken anheben. Ausserdem will sie die Dauer des bisher unbegrenzten Schiffsaufenthaltes der Jugendlichen auf
maximal 60 Wochen eingrenzen. Gälte dies bereits jetzt, so hiesse dies, dass der Schmerkner Jugendli-
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che Marco demnächst nach Hause reisen könnte. Tatsächlich stehen ihm aber nun noch mindestens
dreieinhalb weitere Monate auf dem Schiff bevor.
Noten für Körperpflege
Jeweils am Ende der Woche wird das Verhalten der Jugendlichen auf dem Erziehungsschiff Salomon
bewertet. Jugendliche wie etwa der 15-jährige Marco aus Schmerikon, der dort ein Erziehungsprogramm
durchläuft, erhalten für ihre Sozial-, Selbst- und Fachkompetenzen Noten. Eine Rolle spielt dabei unter
anderem, wie die Jugendlichen sich gegenüber Erwachsenen benehmen, wie sie sich in die Gruppe integrieren, aber auch Pünktlichkeit, Körperpflege und wie gut sie ihr Ämtli erledigen. Wer einen Notenschnitt von 4 erreicht, hat die Woche bestanden, nach 40 bestandenen Wochen endet die Zeit der Jugendlichen auf dem Schiff. Gemäss einem neuen Konzept der Stiftung Jugendschiffe Schweiz soll künftig
der Schiffsaufenthalt auf maximal 60 Wochen beschränkt werden. Würde die Regelung bereits jetzt gelten, so dürfte Marco, der nach wie vor laut Aussagen der Mutter keinen Sinn im Schiffsprogramm sieht
(siehe Interview unten), nun nach Hause reisen: 64 Wochen sind seit seiner Platzierung auf dem Schiff
Ende Mai 2014 vergangen. Ueli Abt
Was bisher geschah
Im Mai 2014 ordnete die Kesb Linth an, dass der damals 14-jährige Marco zum Erlernen grundlegender
Verhaltensweisen wie etwa Respekt und das Einhalten von Regeln einige Monate auf dem Erziehungsschiff Salomon verbringen soll. Der Mutter hatte die Kesb zuvor das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen. Aus Sicht der Kesb bestand zur Schiffsplatzierung keine Alternative, da der Jugendliche in der öffentlichen wie auch in sonderpädagogischen Einrichtungen nicht tragbar gewesen sei. Die Mutter von
Marco bestritt dies. Ihr Sohn habe in der Primarschule gute bis sehr gute Noten gehabt. Nach einem nie
aufgeklärten Übergriff von Kameraden in der 6. Klasse sei der Junge disziplinarisch schwierig geworden.
Er leidet seit Geburt an einer Fussdeformation, und es wurde ADHS diagnostiziert.
Von Beginn weg lehnte die Mutter die Platzierung auf dem Erziehungsschiff ab. Kurz zuvor hatte die
Mutter die Zusicherung eines Berner Internats erhalten, dass ihr Sohn dort eintreten könne. Die Mutter
kritisiert zudem, dass bei der Platzierung die ärztliche Eignungsabklärung unterblieben sei.
Das Kinderspital St. Gallen hätte laut einem Bericht der «Obersee-Nachrichten» diesen Juli den Jugendlichen, der seit Geburt an einem Klumpfuss leidet, zur Verlaufskontrolle und Ganganalyse aufbieten
wollen. Die Schiffsleitung lehnte dies aber ab – die Kontrolle hätte wenn schon in einem Spital in Kopenhagen erfolgen sollen, was für die Mutter nicht akzeptabel war. Ohne auf den konkreten Fall Bezug zu
nehmen, teilt Harry Klima, Leitender Arzt an der Abteilung Kinderorthopädie am St. Galler Kinderspital
auf Anfrage mit: Die periodischen Kontrollen bei Fussdeformitäten seien in der Wachstumsphase wichtig.
Die Untersuchung könne jenes Spital am besten vornehmen, in welchem bereits Vorbefunde vorlägen.
Der Jugendliche befindet sich seit Mai 2014 auf dem Jugendschiff. Inzwischen hat die Salomon, von
den Kapverden ablegend, den Atlantik überquert. Nach einigen Wochen in der Karibik und einer weiteren
Atlantiküberquerung liegt das Schiff derzeit in der Werft bei Bremen.
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Basler Zeitung
Seite 10
25.08.2015
Nach einem gescheiterten Leben neu aufbrechen
«Neustart» hilft Straffälligen seit 40 Jahren Rückfälle zu vermeiden
Franziska Laur. Basel. 30 Jahre alt ist er, sitzt bei Mutter zu Hause rum, kifft und dealt mit Marihuana.
Nach einer Verurteilung zu Gefängnis bedingt nahm ihn «Neustart» unter die Fittiche. Ein Verein, gegründet von Juristen vor vier Jahrzehnten. Um zu verhindern, dass Straffällige rückfällig werden, greifen
sie ihnen mit Rat und Tat, Schuldensanierung und Wohnungsvermittlung unter die Arme. «Als Erstes
müssen wir den Leuten beibringen, Verantwortung zu übernehmen», sagt Barbara Widzgowski, Geschäftsführerin von Neustart. Im Fall des jungen Kiffers heisst das, dass er seine in jungen Jahren abgebrochene Bäckerlehre nachholt, eine eigene Wohnung findet und Termine einhält.
Es ist harte Arbeit. «Viele dieser Delinquenten sehen sich als Opfer, dabei sind sie ja Täter», sagt
Widzgowski. Dann müsse man sie davon überzeugen, dass nicht die Umstände, der Lehrmeister, die Eltern oder falsche Freunde schuld an ihrem Schicksal sind, sondern dass sie stets selber die Wahl haben.
Tatsächlich hat der junge Kiffer schon eine Wandlung durchgemacht. «Ja, ich finde es toll. Jetzt mache
ich endlich was», sagt er. Dabei ist der Weg zum Erwachsenwerden nicht einfach. Die NeustartMitarbeiter konfrontieren die Betroffenen mit ihren Taten und bohren auch unbequem nach.
Springt bei Not in die Bresche
Zum Verein Neustart kommen keine Mörder oder Vergewaltiger. «Diese Fälle bleiben bei den kantonalen
Bewährungshilfen», sagt Widzgowski. Von staatlicher Seite her werden ihnen etwa 50 Fälle jährlich zugewiesen. Dafür bekommt der Verein von Basel-Stadt 75 000 Franken und von Baselland 25 000 Franken. Rund 120 Fälle pro Jahr kommen freiwillig. Diese müssen mit 200 000 Franken finanziert werden,
die durch Spenden von Stiftungen, Kirchen und Privatpersonen zusammenkommen.
Endlich Klarheit im Leben
Für einige ist Neustart ein Geschenk des Himmels. Pia (Name geändert), kokste und handelte mit Drogen. Sie kam ins Gefängnis, wurde nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe entlassen – und stand
vor einem Schuldenberg. «Wir begannen mit der Sanierung», sagt Widzgowski. Alle Schuldner wurden
angeschrieben und gefragt, ob sie mit der Tilgung von knapp 20 Prozent der Schuldensumme einverstanden sind. Nachdem sie dies bejaht hatten, schloss man Verträge. Nun musste die junge Frau innert
drei Jahren jeden Monat 300 Franken abzahlen. Diese neu gewonnene Klarheit in ihrem Leben motivierte
die junge Frau so sehr, dass sie eine Weiterbildung anpackte und eine Psychotherapie abschloss.
Oder der Finanzmann, der seinen hoch dotierten Job verloren hatte. Er ging gegen 60 Jahre zu und war
einen mondänen, luxuriösen Lebensstil gewohnt. Da begann er, Freunden und Bekannten beim Ausfüllen
der Steuererklärung zu helfen und entdeckte dabei, dass einige sehr wohlhabend waren. Er schlug ihnen
vor, das Geld lukrativ anzulegen und zweigte es in die eigene Tasche ab. Die Löcher stopfte er jeweils
durch das Geld von weiteren Opfern. Doch seine Missetaten schlugen ihm so zu Gemüte, dass er sich
selber anzeigte. Nach verbüsster Strafe kam er zu Neustart. Dort half man ihm, die Gründe für sein illegales Tun aufzuarbeiten. So konnte er sein Verhalten ändern. Heute pflegt er einen Kräutergarten auf dem
Balkon und ist mit kleinen Freuden statt einem luxuriösen Lebensstil zufrieden.
So konnten sich im Verlauf der vier Jahrzehnte schon Tausende Delinquenten mithilfe von Neustart vor
einem Rückfall retten und fügen so der Gesellschaft keinen weiteren Schaden zu. Eventuell schafft es
auch der Kiffer.
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Delinquenz und Kriminalprävention
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Neue Luzerner Zeitung
Seite 19
27.08.2015
Alt werden im Gefängnis
Betagte Strafgefangene brauchen mehr Pflege und weniger Zäune
Im grössten geschlossenen Männergefängnis der Schweiz, in der Pöschwies, sind 24 Insassen
über 60 Jahre alt. Diese Anzahl wird in den kommenden Jahren steigen – eine neue Herausforderung für den Justizvollzug.
Blick in den Himmel, aber nur durch Gitter – das gilt auch für die betagten und gebrechlichen Strafgefangenen. GORAN BASIC / NZ
Brigitte Hürlimann. Herr G. ist 67 Jahre alt, ein rüstiger Rentner, geistig hellwach, und er sitzt in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies eine sechsjährige Freiheitsstrafe ab. Herr G. lebt also vorübergehend in Regensdorf, hinter hohen Mauern und umgeben von Maschendrahtzäunen. Wenn er in seiner schmalen
Zelle das Fenster öffnet, sieht er zwar den Himmel und hört die Flugzeuge vorbeidonnern, die Aussicht
ins Freie wird ihm aber nur vergittert gewährt. In zweifacher Hinsicht hat der Rentner dennoch Glück: Erstens verbüsst er, anders als viele betagte Gefangene, eine endliche Strafe und kann sich auf ein Leben in
Freiheit freuen. Und zweitens verbringt er den Rest seiner Gefängnisstrafe in der neugestalteten Altersabteilung der Pöschwies: Mit einem eigenen Garten und Hof und vor allem mit anderen, altersgerechten
Regeln. Herr G. steht am Mittwoch den Journalisten Red und Antwort, und er beteuert, wie froh er sei,
dass es hier ein bisschen ruhiger zu und her gehe als im Normalvollzug, dass er zwar noch arbeite, aber
nicht mehr «chrampfen» müsse. Dafür geht er regelmässig ins Altersturnen, und wenn er einen Wunsch
äussern dürfte, dann wäre es eine leichtere Ernährung, vor allem abends. Herr G. gehört zu den 24 Insassen der Pöschwies, die älter als 60 Jahre alt sind – der älteste Gefangene ist 72-jährig. Gefängnisdirektor Andreas Naegeli hat vorsichtig hochgerechnet, dass bis in fünf Jahren mit mindestens 36 Gefangenen in dieser Alterskategorie zu rechnen ist; darunter ein hoher Anteil an verwahrten Insassen. Diese
Entwicklung, die in der ganzen Schweiz zu beobachten ist, zwingt die Vollzugsanstalten zu raschen Veränderungen. Alte Gefangene haben andere Bedürfnisse, benötigen mehr Fürsorge und Pflege, dafür
aber einen kleineren Sicherheitsstandard. Ueli Graf, der frühere Pöschwies-Direktor, hat zusammen mit
einem Projektteam Vorschläge für den Strafvollzug betagter Insassen erarbeitet. Was die Pöschwies mit
ihren insgesamt 452 Plätzen derzeit anbietet, ist eine «Variante light», die wenig Mehrkosten generieren
soll. Der Aufenthalt in der Gruppe «Alter und Gesundheit» kommt nur leicht teurer als jener im Normalvollzug; er kostet 406 Franken anstatt 301 Franken. Die Rentnergruppe ist dafür in einer abgetrennten
Abteilung untergebracht, und sie kennt andere Regeln. So sind beispielsweise die Zellentüren länger geöffnet, und der Hof darf tagsüber jederzeit genutzt werden. 30 Insassen leben derzeit in der Altersabteilung, sie werden von 11 Angestellten betreut. Auf die gebrechlichen Männer und vor allem auf jene mit
beginnender Demenz halten die Mitarbeiter ein wachsames Auge. Ueli Graf schlägt vor, dass künftig
auch Pflegepersonal eingesetzt wird. Für die Angestellten stellen sich nämlich ganz ungewohnte Aufga11
Presseschau
Delinquenz und Kriminalprävention
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ben. So ist es im Gefängnisalltag verpönt, die Insassen zu berühren, es wird Distanz gewahrt. Bei den
betagten Gefangenen jedoch werden Hilfestellungen zur Bewältigung des Alltags unumgänglich: «Das ist
ein Paradigmenwechsel,», sagt Ueli Graf. Dass sich ein Gefängnis um seine alten, verletzlichen Insassen
besonders kümmern muss, ist im Übrigen gesetzlich vorgeschrieben. Die einschlägigen Artikel im Strafgesetzbuch postulieren nicht nur eine Fürsorgepflicht, sondern ein Entgegenwirken gegen Haftschäden.
Berücksichtige man zusätzlich noch das Verhältnismässigkeitsprinzip, sagt Graf, so müsse man feststellen, dass alte Insassen nicht adäquat untergebracht seien: wegen der übermässiger Sicherung.
Unter den diversen Vorschlägen des Projektteams findet sich denn auch die Idee eines separaten Baus
innerhalb der Gefängnismauern, der mit weniger Sicherheitsinfrastruktur auskommen würde und dafür
vollständig rollstuhlgängig wäre. In der heutigen Altersabteilung ist dies erst in einzelnen Zellen der Fall –
dafür dürfen die Insassen den Lift benutzen, was im Normalvollzug nicht erlaubt ist. Auch in der neuen
Abteilung können die betagten und gebrechlichen Gefangenen jedoch nur bleiben, so lange sie keine intensive Pflege benötigen. Für solche Insassen plant der Kanton Graubünden in einem neuen Gefängnis
10 geschlossene Pflegeplätze, auf die auch der Kanton Zürich zurückgreifen kann, da beide Kantone
dem Ostschweizer Strafvollzugskonkordat angehören. Eine Abteilung für Rentner gibt es zudem seit
2011 in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg.
Was den Ruhestand der betagten Gefangenen betrifft, hat das Bundesgericht 2013 eine altersgerechte
Arbeitspflicht, die mehr den Charakter einer Beschäftigung und Strukturierung des Alltags hat, bejaht.
Dieser Fall, ausgelöst durch einen Pöschwies-Insassen, ist derzeit jedoch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hängig.
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