Eine Ethik für das digitale Zeitalter

12 DEBATTE
DONNERSTAG, 28. MAI 2015, NR. 100
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tik-Veteran Joseph Nye. Nicht die größte
Militärmaschine, sondern die beste
„Story“ gewinnt, prophezeit der Harvard-Gelehrte. Siemens-Chef Joe Kaeser
reicht das nicht. Er versucht für die barrierefreie, grenzenlose Welt von morgen, neue Leitplanken zu installieren
und seinen 340 000 Mitarbeitern eine
Eigentümerkultur
nahezubringen.
Denn, so kalkuliert der Manager, wem
etwas gehört, wer mitbestimmen kann,
der fühlt sich verantwortlich.
Kaeser versucht damit, einen ersten
Baustein für eine neue Ethik im Informationszeitalter zu legen. Denn sein
Verantwortungsprinzip gilt nicht nur für
das Eigentum, sondern für die Macht im
Allgemeinen: Wer an ihr einen auch
noch so kleinen Anteil hat, ist verantwortlich – oder sollte es zumindest sein.
Das ist exakt jenes „Prinzip Verantwortung“, auf das der Philosoph Hans Jonas
bereits Ende der 70er-Jahre seine Ethik
für die kommende technologische Zivilisation aufgebaut hat. Jonas konnte die
dramatischen Umwälzungen der Globalisierung und der digitalen Revolution
nur erahnen. Dennoch hat er die geistige Lücke richtig erkannt: Die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts
braucht einen ethischen Imperativ. Vor
allem geht es darum, Freiheit und Verantwortung neu auszubalancieren. Die
Brücke zwischen diesen beiden Polen
könnte Vertrauen sein.
Eine Ethik
für das digitale
Zeitalter
Die stille Revolution reißt alle Barrieren
nieder. Wer absolute Freiheit fordert, muss
Verantwortung übernehmen – und um
Vertrauen werben, findet Torsten Riecke.
Der „New York Times“-Kolumnist
Thomas Friedman hat die Befreiungsbewegung des 21. Jahrhunderts bereits
vor zehn Jahren in seinem internationalen Bestseller „Die Welt ist flach“ prophezeit. Als der Amerikaner kürzlich in
Berlin gefragt wurde, welche Kräfte
denn die Grenzen, Mauern, Barrieren
des 20. Jahrhunderts einreißen, antwortete er kurz und bündig: „Es sind die
Märkte und das Moore’sche Gesetz
(nach dem sich die Leitungsfähigkeit
der Mikrochips etwa alle zwei Jahre verdoppelt oder sich ihr Preis halbiert). “
Mit anderen Worten: Die Globalisierung
der Wirtschaft und der rasante technologische Fortschritt sind die Speerspitzen der stillen Revolution.
Graffiti: Der
Spruch stammt
von der Rockband „Ton,
Steine,
Scherben“.
Fotiska
net-Jahren“ seit 1984 zusammen. Die
Welt ist online verbunden – und das vor
allem mobil: Es gibt 6,8 Milliarden Mobiltelefone auf dem Globus – fast so viel,
wie es Erdbewohner gibt.
Mobiler sind auch die Menschen
selbst geworden: Dürre, Not und Krieg
im Mittleren Osten, in Asien und in vielen Teilen Afrikas treiben jetzt immer
mehr von ihnen in die Flucht. Die „boat
people“ im Mittelmeer und der Andamanensee sind die täglichen Vorboten
einer Massenbewegung. Dass es jenseits
ihrer Heimatgrenzen gelobte Länder
mit Lohn und Brot gibt, können die Armen dieser Welt auf den Bildschirmen
ihrer Smartphones sehen. Erst durch
Mobilfunkgeräte können Bauern in Indien mit der Münchener Rück Versicherungspolicen abschließen, die sie gegen
M
ärkte und Megabits wirken
Hand in Hand, und erst ihre
Kombination verleiht ihnen
jene schöpferische Zerstörungskraft, die zur Erosion der alten
Ordnung führt. Güter, Kapital und Informationen kennen schon länger keine
Grenzen mehr. Von 1990 bis zur Finanzkrise 2008 hat sich der weltweite Austausch von Waren und Dienstleistungen
auf mehr als 16 Billionen Dollar pro Jahr
verfünffacht. Die Direktinvestitionen im
Ausland sind zwischen Mauerfall und
Finanzkrise von gut 200 Milliarden auf
1,9 Billionen Dollar pro Jahr gestiegen.
Und das globale Datenvolumen soll
nach einer Prognose des amerikanischen Netzwerkers Cisco 2018 größer
sein als in den vorangegangenen „Inter-
Weltweite Entwicklungen
Welthandel in Mrd. US-Dollar*
24 549
Datenvolumen in Exabyte*
Veränderung von 2005 zu 2020
in Prozent*
40 026
Datenvolumen
16 704
14 673
+30 689 %
10 129
8 591
Welthandel
2005
2010
2015
2020
+142 %
Handelsblatt | *Prognose für 2015 und 2020; 1 Exabyte = 1 Mrd. Gigabyte
130
1 227
2005
2010
2015
2020
Quellen: Oxford Economics, IDC
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Ernteausfälle schützen – und von lokalen Kredithaien unabhängig machen.
Erst durch das Internet der Dinge (Industrie 4.0) weiß der deutsche Maschinenbauer aus Baden-Württemberg,
wann der nach China gelieferte Bohrer
stumpf wird – und kann rechtzeitig für
Ersatz sorgen. Und erst durch Onlinehändler wie Amazon und Ebay, können
die Verbraucher wählen, ob sie lieber in
Italien, Deutschland oder Amerika einkaufen.
W
er dank Internet und weltweiter Logistik seine Medikamente in Holland kauft
und sein Investmentdepot
in New York führt, ist nicht mehr auf lokale oder nationale Anbieter angewiesen. Wer die Onlinevorlesung amerikanischer Elite-Universitäten hören kann,
muss nicht mehr in den überfüllten Seminarraum einer deutschen Hochschule. Wer sich seinen Kredit mit Hilfe von
Crowdfunding direkt von Geldgebern
besorgen kann, muss nicht mehr bei seiner Bank betteln. Und wer dank Google
das Wissen der Welt mit einem Mausklick abrufen kann, für den sind die
Denkverbote der alten Autoritäten – seien es die Kirche, der Staat oder die Familie – hinfällig.
Kurzum: Mit jedem Technologiesprung gewinnt auch der Einzelne neue
Freiheiten hinzu – die Freiheit, sich zu
verweigern, und die Freiheit, etwas
Neues zu gestalten. Das Erstere ist leicht
– und wir erleben es jeden Tag überall
auf der Welt. Mit dem Gestalten tun wir
uns hingegen deutlich schwerer. Am Re-
Das Handelsblatt hat mit
der Titelstory vom 8. Mai
eine Debatte über die „stille
Revolution“ in Wirtschaft
und Gesellschaft ausgelöst.
Marc-Steffen Unger für Handelsblatt
D
er deutsche Anarchist Augustin Souchy erinnerte
kurz vor seinem Tode 1984
daran, dass Revolutionen
einen „langen Atem“ brauchen. Das gilt besonders dann, wenn sie
das Ende jeglicher Macht versprechen.
Es könnte sein, dass Souchy und seine
Gesinnungsfreunde doch noch ans Ziel
ihrer Utopie kommen.
„Keine Macht für niemand“ steht auf
der Hauswand im Berliner Stadtteil
Neukölln. Mehr als 40 Jahre nachdem
die Rockband „Ton, Steine, Scherben“
aus der anarchischen Losung der 68er
einen wütenden Protestsong fabulierte,
haben die damaligen Revoluzzer es offenbar geschafft: Atomkonzerne, Banken, Parteien, Regierungen, ganze Staaten und Gesellschaftssysteme schwanken. Nicht etwa, weil sie erstürmt oder
erobert werden. Sondern, weil Bürger,
Verbraucher und Kunden ihnen die Gefolgschaft verweigern.
Gabor Steingart hat dieses Phänomen
zutreffend in seinem Essay („Die stille
Revolution“, Handelsblatt vom 8. Mai
2015) beschrieben. Doch warum können wir uns heute einfach verweigern?
Mit welchen Mitteln gelingt es den einst
Ohnmächtigen plötzlich, die alten
Mächte zu entmachten? Und noch wichtiger: Was folgt daraus, wenn der Sponti-Spruch „Keine Macht für niemand“
wirklich zum Motto des 21. Jahrhunderts wird? Kann eine Gesellschaft funktionieren, in der ein „Like“- Button die
demokratische Willensbildung ersetzt?
In der die Freiheit so grenzenlos erscheint, dass sie ohne Regeln auszukommen glaubt?
Nein, mit den Technologie-Anarchisten ist kein Staat zu machen. Bezweifeln
viele von ihnen doch, dass die mit
Smartphones ausgerüsteten Individuen
in ihrer virtuellen Welt den Hobbes’schen Leviathan überhaupt noch
brauchen. Für sie wird der Gesellschaftsvertrag des digitalen Zeitalters
zwischen Individuum und technischem
Fortschritt abgeschlossen. „Ich glaube
nicht, dass Freiheit und Demokratie
noch zueinander passen“, sagt der Paypal-Gründer Peter Thiel. Für den Vordenker des modernen Libertarismus
aus dem Silicon Valley ist Freiheit eine
„Maschine“, die von den neuen digitalen Technologien angetrieben wird.
vers der stillen Revolution prangt bislang nur der „Nein, danke“-Button.
Die Aufklärung 2.0 verdankt der moderne Mensch dem Zusammenspiel
von Globalisierung und digitalen Technologien. Das gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für den politischen Raum. Hätten sich die Bilder
vom brennenden Gemüsehändler Mohamed Bouazizi in Tunis nicht in Windeseile über das Internet verbreitet, wäre es vermutlich nie zum Arabischen
Frühling gekommen. Ohne die sozialen
Netzwerke Facebook und Twitter hätte
es die Proteste auf dem Tahrir-Platz in
Kairo, im Gezi-Park in Istanbul oder auf
dem Maidan in Kiew so nicht gegeben.
Ohne das Internet gäbe es keine Wikileaks, und Edward Snowden wäre womöglich immer noch ein unbekannter
US-Spion.
Auch hierzulande sorgt die Netzdemokratie dafür, dass Bürger vorbei an
den Altparteien mit einer Mischung aus
Petition und Shitstorm Druck auf Regierung und Parlamentarier machen. Sei
es beim umstrittenen Freihandelsabkommen TTIP oder beim Streit über
neue Stromtrassen. Den Druck der virtuellen Basisdemokratie bekommen
auch Konzerne zu spüren. Als die amerikanische Fast-Food-Kette McDonald’s
2012 den Preis für einen Cheeseburger
um 39 Cent erhöhen wollte, protestierten innerhalb von 48 Stunden über
80 000 Facebook-Nutzer dagegen. Einen Tag später kostete die Boulette wieder einen Euro.
P
olitik und Wirtschaft sind zu einer Open-Source-Software geworden, an der jeder mitprogrammieren kann. Ihre Qualität
hängt allerdings von der Schwarmintelligenz oder Herdenblödheit der stillen
Revolutionäre ab.
Für die Gastautoren, die in den vergangenen Tagen die Debatte über die
„stille Revolution“ auf diesen Seiten vorangetrieben haben, ist noch nicht ausgemacht, wer und was am Ende die
Oberhand behält. Die Vordenkerin Gertrud Höhler misstraut den „leisen Revoluzzern“, die sie als unbewusste Erfüllungsgehilfen dunkler Mächte sieht. Damit liegt sie nicht weit entfernt von
Bodo Hombach, für den die modernen
Freiheitskämpfer ebenso korrumpierbar sind wie ihre historischen Vorläufer.
„Die Weisheit des Schwarms könnte
sich in die Dummheit des Mobs verwandeln“, warnt der Ex-Politiker.
So weit muss es nicht kommen,
schreibt IBM-Deutschland-Chefin Martina Koederitz und fordert eine „digitale Souveränität“, die sie den Kindern
mit Hilfe von iPads schon in der Schule
vermitteln will. Der Ökonom Moisés
Naím sieht hingegen die Gefahr einer
Gesellschaft im permanenten Reformstau, in der zahlreiche Mikromächte jede Gestaltungsmacht blockieren. Dagegen hilft nur „soft power“ rät der Poli-
Torsten Riecke ist
internationaler Korrespondent
beim Handelsblatt in
Berlin und berichtet über
internationale Politik,
Finanzmärkte und neue
Technologien. Zuvor hat
er rund 13 Jahre aus
dem Ausland berichtet,
darunter aus London,
New York und Zürich.
F
ür den amerikanischen Politologen Francis Fukuyama ist Vertrauen (Trust) der Kit, der Gesellschaften zusammenhält. Nur
wer einem Unternehmen vertraut, wird
auf Dauer seine Produkte kaufen und
für dieses arbeiten wollen. Nur wer einem Politiker oder einer Partei glaubt,
wird ihnen folgen. Nur wer einem Medium traut, wird es lesen oder ihm zuhören. Auch Investitionen und Innovationen brauchen einen Vertrauensvorschuss: Nur wenn Arbeitnehmer, Unternehmer und Erfinder davon ausgehen
können, dass sie nicht um den Lohn ihrer Arbeit gebracht werden, sind sie bereit, hohe Risiken einzugehen.
Die beiden US-Wissenschaftler Daron
Acemoglu und James Robinson haben in
ihrem Bestseller „Warum Nationen
scheitern“ die DNA erfolgreicher Länder
untersucht. Danach brauchen Gesellschaften ein Mindestmaß an Zuverlässigkeit und Stabilität, um für ihre Bürger
Sicherheit und Wohlstand zu garantieren. Selbst der technologische Individualismus, den Libertäre wie Peter Thiel
predigen, ist darauf angewiesen. Denn
in einem Klima des permanenten Misstrauens könnten Geschäftsmodelle von
Google, Facebook und Paypal nicht gedeihen.
Die „Freiheitskämpfer“ aus dem Silicon Valley müssen deshalb aufpassen,
dass sie dieses wertvolle Vertrauen in
der aktuellen Debatte über Datensicherheit nicht verspielen. Wer wie GoogleGründer Larry Page mehr Selbstverantwortung und Freiheit für sich reklamiert, kann nicht gleichzeitig jedes
Steuerschlupfloch nutzen, das sich ihm
bietet. Der Gründerspruch von Google
„Don’t be evil“ ist eben nicht nur eine
Aufforderung, sondern er ist vor allem ein Versprechen. Das heißt:
Nicht alles, was erlaubt ist, ist auch
richtig.
Nie war es einfacher als heute,
Macht zu erlangen. Aber nie war es
auch leichter, Vertrauen zu verlieren.