Dialog der Meisterwerke HOHER BESUCH ZUM JUBILÄUM Herausgegeben von Max Hollein Mit Beiträgen von Jana Baumann, Bastian Eclercy, Martin Engler, Anna Helfer, Felicity Korn, Felix Krämer, Kristina Lemke, Eva Mongi-Vollmer, Maureen Ogrocki, Susanne Pollack, Almut Pollmer-Schmidt, Annabel Ruckdeschel, Jochen Sander, Jutta Schütt, Martin Sonnabend, Fabian Wolf und Daniel Zamani WIENAND Inhalt 8 Grußwort Kulturfonds Frankfurt RheinMain 9 Grußwort DZ BANK Max Hollein 10 Vorwort Eva Mongi-Vollmer 12 „ … denn ein Haus nur, nicht eine Festung der Kunst will er sein.“ 200 JAHRE KUNST IM STÄDEL MUSEUM 20 Alte Meister Jochen Sander – Die Altmeister-Sammlung im Städel Museum Rheinischer Meister um 1330 | Oberrheinischer Meister um 1410 / 20 | Jan van Eyck | Fra Angelico | Sandro Botticelli | Pietro Perugino | Mathis Gothart Nithart, genannt Grünewald | Quentin Massys | Guercino | Rembrandt Harmensz. van Rijn | Nicolas Poussin | Johannes Vermeer | Ferdinand van Kessel | Justus Juncker 84 Moderne Felix Krämer – Die Moderne im Städel Museum Johann Heinrich Wilhelm Tischbein | Arnold Böcklin | Edgar Degas | Max Liebermann | Vilhelm Hammershøi | Pablo Picasso | Franz Marc | Ernst Ludwig Kirchner | Max Beckmann | Otto Dix 152 Gegenwart Martin Engler – Die Kunst der Gegenwart im Städel Museum Georg Baselitz | Thomas Struth | Dierk Schmidt | Daniel Richter | Corinne Wasmuht 210 Graphische Sammlung Jutta Schütt und Martin Sonnabend – Die Graphische Sammlung im Städel Museum Meister E. S. | Paolo Caliari, genannt Veronese | Hendrick Goltzius | Adam Elsheimer | Rembrandt Harmensz. van Rijn | Carl Philipp Fohr | François Bonvin | Edgar Degas | Ernst Ludwig Kirchner | Pablo Picasso | Richard Serra CORPORATE SPONSOR FÖRDERER 262 Anhang Literaturverzeichnis Bildnachweis Impressum MEDIENPARTNER Eva Mongi-Vollmer „ … denn ein Haus nur, nicht eine Festung der Kunst will er sein.“ 1 200 JAHRE KUNST IM STÄDEL MUSEUM M it der im Titel zitierten „Festung der Kunst“ hatte der Frankfurter Künstler Johann Friedrich Hoff noch nichts im Sinn, wie man seinen 1914 erschienenen Erinnerungen entnehmen kann: „Schon von früher Jugend an war mir durch die von meinem Vater auf mich übergegangenen Traditionen das Städelsche Kunstinstitut eine geweihte Stätte.“2 Hoff stand offenbar noch stark im Bann des 19. Jahrhunderts, als Kunst und Museum in einem besonders hohen Maße zu einem sakralisierten Zentrum der Gesellschaft geworden waren. Nur zehn Jahre nach Hoffs Beschreibung war der Tenor ein gänzlich anderer. Das Museum sollte dezidiert nicht mehr erhaben, majestätisch oder überwältigend sein. Sondern, so notierte die Journalistin Lilli Fischel anlässlich der Eröffnung des neuen Gartenflügels, „der“ Städel – wie das Museum bis zum Zweiten Weltkrieg häufig bezeichnet wurde – sollte „ein Haus nur“ und keine Festung sein. Wohl nicht von ungefähr dachte sie wenige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs in Kategorien der Verteidigungsarchitektur. Als etwa 100 Jahre zuvor der Stifter Johann Friedrich Städel mit der letzten Niederschrift seines Testaments am 15. März 1815 die Basis für das Museum mit Ausbildungsstätte legte, standen ihm mit der Öffnung seiner Sammlung weder ein weihevoller Tempelgang noch die Einnahme einer Festung vor Augen. Vielmehr rückten für ihn die „Zierde“ der Stadt Frankfurt und der Nutzen der Kunst in den Fokus: „Da meine Absicht dahin gerichtet ist, daß dieses von mir gestiftete Städelsche Kunstinstitut der hiesigen Stadt zu einer wahren Zierde gereichen und zugleich deren Bürgerschaft nützlich werden möge; so will ich […], daß […] meine vorräthige Sammlung […] angehenden Künstlern und Liebhabern, an bestimmten Tagen und Stunden unter gehöriger Aufsicht zum Gebrauch und Ansicht […] geöffnet werde.“3 Städels Denken war fest in den Vorstellungen der Aufklärung verankert, in der die Beschäftigung mit Kunst als ein wesentlicher Teil der allgemeinen Erziehung und Bildung des Menschen propagiert wurde.4 1 Fischel 1924, S. 18. 2 Hoff 1914, S. 1. 3 Stiftungs-Brief, 1817, S. 5. 4 Mai 1993, S. 63; Sheehan 2002, S. 15. spricht in dieser Zeit vom sozialen Zweck der Museen; Gaehtgens 2015. Abb. 1: Johann Friedrich Städels Haus (mittig) am Frankfurter Rossmarkt, um 1870 200 Jahre Kunst im Städel Museum 13 Fra Angelico Vicchio vor 1399 – 1455 Rom 40 THRONENDE MADONNA MIT KIND UND ZWÖLF ENGELN Um 1425/30 Mischtechnik auf Pappelholz, 37,5 x 29,7 cm Städel Museum, Frankfurt am Main, Inv.-Nr. 838, erworben 1831 Fra Angelico Vicchio vor 1399 – 1455 Rom MADONNA MIT KIND, ENGELN UND DEN HEILIGEN DOMINIKUS UND KATHARINA Um 1430/35 Mischtechnik auf Pappelholz, 24,4 x 18,7 cm Vatikanische Museen, Rom, Inv.-Nr. 40253, erworben 1877 Alte Meister 41 Quentin Massys Löwen 1465/66 – 1530 Antwerpen 56 BILDNIS EINES GELEHRTEN Um 1525 / 30 Mischtechnik auf Eichenholz, 68,8 x 53,3 cm Städel Museum, Frankfurt am Main, Inv.-Nr. 766, erworben 1829 Willem van Haecht Antwerpen 1593 – 1637 Antwerpen (?) APELLES MALT KAMPASPE Um 1630 Öl auf Holz, 104,9 x 148,7 cm Mauritshuis, Den Haag, Inv.-Nr. 266, erworben 1822 Alte Meister 57 Pablo Picasso Fernande Olivier, Horta de Ebro und der Triumph des Kubismus 20 Im Jahr 1967 erwarb der Städelsche Museums-Verein Pablo Picassos Bildnis Fernande Olivier, 1909. Im Zusammenhang mit dem 150-Jahr-Jubiläum des Hauses wurde der Bestand des Städel Museums damit um ein Schlüsselwerk des frühen analytischen Kubismus bereichert. Der Ankauf des Gemäldes für eine beträchtliche Summe entsprach der Sammelpolitik des damaligen Direktors Ernst Holzinger, die bewusst darauf abzielte, Bestandslücken in der historischen Abfolge der klassischen Moderne zu schließen.1 Die besser unter ihrem Künstlernamen Fernande Olivier bekannte Amélie Lang (Abb. 42) hatte Picasso bereits 1904 kennengelernt. Kurz nach einer zufälligen Begegnung auf der Rue Ravignan im Pariser Künstlerviertel Montmartre zog die exotische Schönheit dort in das Studio-Atelier des Malers im sogenannten Bateau-Lavoir. Bis 1912 blieben die beiden in einer festen Beziehung, deren oft stürmischen Lebensalltag Fernande in ihren späteren Erinnerungen festhielt.2 Zahlreiche Porträts, die Picasso in diesem Zeitraum anfertigte, belegen Fernandes zentrale Rolle als die erste Muse des spanischen Künstlers. Mehr als 60 Porträts seiner Geliebten vollendete Picasso allein 122 zwischen Frühjahr und Herbst 1909 und zeigte damit eine in der Kunst der Moderne bis dato unbekannte Fokussierung auf ein einziges Modell.3 Das Frankfurter Bild gehört zu einer Gruppe von über 20 Ölgemälden, die während eines viermonatigen Aufenthalts im spanischen Horta de Ebro entstanden. Im Sommer 1909 hatten sich Picasso und Fernande gemeinsam in das malerische Bergdorf zurückgezogen, das in der kargen Felslandschaft der katalanischen Terra Alta gelegen ist. Weitab von dem Stress und Lärm der Pariser Metropole konnte sich Picasso hier voll und ganz auf sein Kunstschaffen konzentrieren. Zugleich bot der Anblick der imposanten Muntanya de Santa Bàrbara mit ihren eckig-rauen Kalksteinwänden und kargen Felsvorsprüngen eine ideale Inspirationsquelle für seine Experimente mit der neuen Kunstrichtung des Kubismus. Am 10. Juli schrieb der Maler begeistert an seine Sammler, das Geschwisterpaar Leo und Gertrude Stein: „Die Landschaft hier ist herrlich. Ich liebe sie, und der Weg, der hierherführt, gleicht genau der Überlandroute im Wilden Westen.“4 Eines der Landschaftsgemälde, die Picasso zu diesem Zeitpunkt anfertigte, ist unter dem Titel Das Reservoir bekannt und muss als eine stilistische und formale Vorläuferarbeit zum Bildnis Fernande Olivier angesehen werden (Abb. 40). Sowohl farblich als auch kompositorisch orientiert sich das Werk deutlich an Paul Cézannes zahlreichen Darstellungen des Mont Sainte-Victoire, die die kubistische Aufteilung des Bildraums in weitgehend selbstständige Formflächen maßgeblich beeinflussten (Abb. 41). Durch die Zergliederung der Bergwand in geometrisch stark abstrahierte Einzelfacetten und deren konsequente Verschachtelung umgeht Picasso die traditionelle Bildeinteilung in Hinter-, Mittel- und Vordergrund. Zugleich erlaubt die Zersplitterung des Bildgegenstands auch eine optische Verschmelzung der rauen Felslandschaft mit der Architektur des in den Berg hineinwachsenden Dorfes. Zusammen mit zwei weiteren Landschaftsdarstellungen, die ebenfalls in Horta de Ebro entstanden, wurde Das Reservoir unmittelbar nach Picassos Rückkehr nach Paris von der Schriftstellerin Gertrude Stein erworben, die zu seinen bedeutendsten frühen Mäzenen zählte und zur engen Vertrauten wurde. In ihrem 1933 erschienen Werk Die Autobiographie von Alice B. Toklas hob die gebürtige Amerikanerin die optische Verzahnung zwischen Landschafts- und Architekturformen treffend hervor und beschrieb die Sommermonate in Horta de Ebro als die Geburtsstunde des Kubismus, den sie als eine durch und durch spanische Kunstrichtung verstanden wissen wollte: „In jenem Sommer fuhren sie [Picasso und Fernande] wieder nach Spanien und er kam mit einigen Landschaften zurück und man kann sagen […], daß diese den Anfang des Kubismus darstellen […]. Der Einfluß Cézannes war sehr deutlich sichtbar […]. Doch das Wesentliche war die Behandlung der Häuser, da es wesentlich spanisch und deshalb wesentlich für Picasso war. In diesen Gemälden betonte er zum erstenmal die Bauart in spanischen Dörfern, wo die Linie der Häuser nicht der Landschaft folgt, sondern diese durchkreuzt und in sie hineinschneidet und deshalb ununterscheidbar von der Landschaft wird […].“5 Im Bildnis Fernande Olivier verknüpft Picasso die angulare Bergstruktur mit einem stark abstrahierten Porträt der Geliebten. Stärker noch als in Das Reservoir verwischt der Maler die einzelnen Bildebenen durch eine simultane Perspektive und die Auflösung der geschlossenen Gesichtsform in rechteckige und rautenförmige Flächenelemente. Geradezu skulptural tritt Fernandes Kopf aus der Felslandschaft hervor; wie aus dem Berg herausgemeißelt erscheint das steinerne Gesicht. Wie der Kunsthistoriker Christopher Green feststellt, handelt es sich bei dieser kompositorisch raffinierten Vernetzung von Landschaft und Porträt tatsächlich weniger um eine metaphorische „Humanisierung“ der Muntanya de Santa Bàrbara als vielmehr um eine bildhafte Versteinerung Fernandes. Dezidiert maskenhaft und jeglicher Individualität beraubt, wird ihr Abbild symbolisch mit der „anorganischen, übermenschlichen Stärke und Widerstandskraft des Berges“ assoziiert.6 Bedenkt man die extrem haptische Raum- und Flächengestaltung in dieser malerischen Auseinandersetzung mit Fernandes Bildnis, so muss es kaum verwundern, dass Picasso das Werk nur wenig später zum formalen Ausgangspunkt für seine erste kubistische Skulptur machte. Direkt nach seiner Rückkehr von Horta de Ebro modellierte er Fernandes Kopf und fertigte daraufhin zwei Gipsabgüsse an, die als Grundlage für zahlreiche spätere Bronzeversionen dienten. Elemente wie die rhomboid gestalteten, stark tief liegenden Augen werden hier ebenso beibehalten wie die leichte Neigung des Kopfes und die Auffächerung des Haars in schuppenähnliche Formen. Überraschend direkt ist somit der künstlerische Transfer zwischen flächigem Malgrund und dreidimensionaler Modellierung, bezeichnend eng der Dialog zwischen Malerei und Skulptur. Die bereits im Gemälde angedeutete maskenhafte Note tritt hier noch eindringlicher hervor, während die dunkel glänzende Patina den ästhetischen Reiz der Plastik zusätzlich erhöht. Diese für den Kubismus so kennzeichnende Deformierung des menschlichen Körpers spiegelt sich auch in der thematisch verwandten Komposition Sitzender weiblicher Akt, 1909/10, wider, in der Picasso die formellen Neuerungen der in Horta entstandenen Porträts fortführt und radikalisiert..Die im Bildnis Fernande Olivier noch erkennbare Gestaltung des Hintergrundes als schematisierte Berglandschaft wird nun von einem komplett abstrakt gehaltenen Hintergrund abgelöst, das maskenhafte Gesicht Fernandes durch eine mechanisch wirkende, kristalline Körperstruktur ersetzt. Auch die Verschachtelung der Bild- Abb. 40: Pablo Picasso, Das Reservoir, Horta de Ebro, 1909, The Museum of Modern Art, New York Abb. 41 : Paul Cézanne, Mont Sainte-Victoire, um 1885, The Barnes Foundation, Philadelphia ebenen ist weiter fortgeschritten: Körperteile wie die rechte Schulterpartie oder der linke Oberarm scheinen aufgrund der Anwendung der sogenannten „Passagentechnik“ beinahe nahtlos in den Hintergrund überzugehen. Nur undeutlich hebt sich die aus splitterhaft-eckigen Einzelfacetten bestehende Figur aus dem chromatisch reduzierten Raum hervor, der von kalten Tönen in Braun, Grau, Blau und Schwarz dominiert wird. Die wirklichkeitsgetreue Darstellung des menschlichen Körpers, von der sich Picasso bereits im Frankfurter Gemälde weitgehend entfernt hat, weicht hier vollkommen dem Triumph einer internen kubistischen Bildlogik. Aus kunsthistorischer Sicht wird der Kubismus häufig als die bedeutendste Avantgardeströmung des 20. Jahrhunderts eingestuft. Wie keine Bewegung vor ihr hat sie die Darstellung der Realität vom Diktat des Gegenständlichen befreit. Ausgehend von einer zunächst zögerlichen Schematisierung des Objekts durch geometrische Facetten, radikalisierte sich Picassos malerischer Ansatz zunehmend: Der Künstler betonte nicht nur bewusst die Autonomie der Form an sich, sondern propagierte zugleich immer mehr die grundsätzliche Eigenständigkeit des Kunstwerks, in dem natürliche Objekte aus mehreren Perspektiven simultan abgebildet und dem Betrachter wie analytisch zergliedert präsentiert werden sollten. In seiner bahnbrechenden Abhandlung Der Weg zum Kubismus (1920) schrieb Picassos Händler Daniel-Henry Kahnweiler: „Eine unerhörte Freiheit schenkt diese neue Sprache der Malerei. Sie ist nicht mehr an das mehr oder weniger ,naturähnliche‘ optische Bild gebunden, das ein einziger Standpunkt von einem Gegenstand gewährt. Sie kann, um Moderne 123 Max Pechstein Zwickau 1881 – 1955 Berlin 138 SZENE IM WALD Um 1909 Öl auf Leinwand, 68 x 79,5 cm Privatbesitz Erich Heckel Döbeln 1883 – 1970 Radolfzell am Bodensee GRUPPE IM FREIEN Um 1909 Öl auf Leinwand, 80 x 94 cm Merzbacher Kunststiftung Moderne 139 Thomas Struth Geldern 1954 176 ART INSTITUTE OF CHICAGO 1, CHICAGO 1990 1990 Farbfotografie, 129 x 161,5 cm Atelier Thomas Struth Thomas Struth Geldern 1954 ART INSTITUTE OF CHICAGO 2, CHICAGO 1990 1990 Farbfotografie, 138 x 175 cm Atelier Thomas Struth Gegenwart 177 Pablo Picasso Málaga 1881 – 1973 Mougins 256 MINOTAURE CARESSANT UNE DORMEUSE / MINOTAURUS, EINE SCHLAFENDE FRAU LIEBKOSEND 1933 Kaltnadel auf geripptem Bütten (Wasserzeichen: Vollard), 299 x 365 mm / 339 x 450 mm Privatsammlung Pablo Picasso Málaga 1881 – 1973 Mougins MINOTAURE AVEUGLE GUIDÉ PAR UNE FILLETTE DANS LA NUIT / BLINDER MINOTAURUS, VON EINEM MÄDCHEN DURCH DIE NACHT GEFÜHRT 1934 Aquatinta, Polierstahl, Kaltnadel, Grabstichel auf geripptem Bütten (Wasserzeichen: Picasso), 247 x 348 mm / 336 x 441 mm Städel Museum, Graphische Sammlung, Frankfurt am Main, Inv.-Nr. SG 4175, erworben 1980 Graphische Sammlung 257
© Copyright 2024 ExpyDoc