Hase H. Pr.D

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„ Was hab ich dem lieben Gott getan, dass ich solche Kinder hab?“1
Hase Hase von Coline Serreau (1.Teil )
Ein Unterrichtsmodell für die 6. Klassenstufe
Mitwirkende
Mama und Papa Hase, ihre Kinder Hase, Bébert, Marie, Jeannot, Lucie sowie
Gérard, Lucies Verlobter, 2 Polizisten und der Ministerpräsident ( Fernsehansprache)
Thema
Wenn sich im Theater der Vorhang öffnet oder der Leser das Textbuch aufschlägt,
wird man in die ärmliche , jedoch recht anheimelnde Stube der Familie Hase entführt,
in der sich drei Mitglieder befinden: der Papa Hase und seine Söhne Bébert und Hase Hase. Letzterer verleiht der Szene etwas Surreales. Halbwüchsig steht er da und
plaudert mit den Außerirdischen, die ihn in diese Familie transportierten.
„Ich bin auf einem fliegenden Schiff hier angekommen und die Äther haben mein
schon befruchtetes Ei in die Gebärmutter meiner Mutter eingeführt.“(Hase) 2
Seinem Aussehen verdankt er seinen Namen.
„..und als er draußen war, mit seinem hübschen Gesicht und seinen zwei Vorderzähnen...“Mama3
„Hase Hase“ war in Deutschland meistgespieltes Theaterstück der Spielzeit
1993/94.4 1986 wurde es in Paris unter dem Titel „Lapin Lapin“ uraufgeführt, die Autorin spielte die Rolle der Mama.
Handlung: „... es geht um eine Familie, bei der die Probleme des Lebens Einzug halten. Der Vater verliert seine Arbeit, die Tochter trennt sich von ihrem Mann, der ältere
Sohn gehört einer extremen Gruppe an und der kleine Sohn hat Schulprobleme und
ist zusätzlich nicht von dieser Welt. Außerdem gibt es noch die lieben Nachbarn, Polizei und Militär... Alles in allem also reichlich Stoff für komische und ernste Situationen, die auch unser heutiges Leben kennzeichnen.“5
Die vertraute Familiensituation in einer Wohnung, die alltägliche und witzige Sprache, die überraschenden Wendungen, die übersichtliche Zahl der Mitwirkenden und
die sich furios steigernde Spannung machen vor allem den 1.Teil des Stückes auch
für jüngere Schüler interessant und verständlich und ermöglichen eine erste Begegnung mit einem zeitgenössischen Theatertext.
Intentionen
Eine veränderten Kindheit6 und das damit verbundenen frühere Heranreifen führt
dazu, dass Sechstklässer das klassische Kindertheater nicht immer zu fesseln vermag. Die Probleme und auch die Sprache der Erwachsenenwelt gewinnen zunehmend mehr Einfluss auf jüngere Schüler. Mehr und mehr mache ich die Erfahrung,
das „Hase Hase“ in besonderer Weise den Schülerbedürfnissen entgegen kommt.
Darüber hinaus erschließen sich grundlegende Merkmale modernen Theaters (Milieuschilderungen, Alltagssprache, Zeitkritik, ...) quasi nebenbei, wenn das Stück zeitlich eingeordnet wird.
Auf den ersten Seiten beinhaltet der Dialog eine Fülle von Informationen. Hier bietet
sich die Möglichkeit, in arbeitsteiliger Gruppenarbeit Rollenporträts zu erstellen und
zu diskutieren. Da die Charaktere kontinuierlich neue Facetten ihrer Persönlichkeit
offenbaren, begleiten diese Porträts die gesamte Unterrichtseinheit und werden ständig ergänzt. So werden aktuelle Lebensbezüge hergestellt, denn auch im Alltag
müssen wir Sichtweisen von Personen korrigieren oder erweitern. Die überraschenden Wendungen erhalten die Lesemotivation und bieten Gelegenheit zur Hypothesenbildung mit nachträglicher Überprüfung am Text. Da das Stück bühnenwirksam
konzipiert, der Darstellerkreis übersichtlich ist und die benötigten Requisiten leicht
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beizubringen sind, steht, zumindest einer halbszenischen Lesung, nichts im Wege.
Exemplarisch hier eine Durchführungsmöglichkeit für den Auftakt des Stückes.
Realisierung
Die Titelfigur „Hase“ ist ein geeignetes Einstiegsmedium: ein Außerirdischer mit Hasenzähnen in einer (vermeintlichen) Durchschnittsfamilie.
Der Anfang des Stückes kann im Klassenverband gelesen werden.
Hase und Bébert sind allein im Zimmer. Bébert ist am Tisch in ein Chemiebuch vertieft. Hase steht am anderen Ende des Zimmers, er mimt
eine sehr lebhafte Unterhaltung mit fiktiven Partnern (den Außerirdischen!
Anmerkung der Autorin) in Ranghöhe.
Papa tritt ein, müde.
PAPA
N’Abend! Geht's?
BÉBERT UND HASE
Ja.
PAPA
Mama noch nicht zu Hause?
BÉBERT UND HASE
Nein.
PAPA
Wo ist sie denn?
BÉBERT
Sie ist einkaufen, glaub ich ...
HASE
Sie ist einkaufen.
PAPA
setzt sich in seinen Sessel auf der Vorderbühne.
Und euch geht's gut? Mann ist das 'ne Kälte!
BÉBERT
Ja.
Schweigen
HASE
zu Papa
Und dir geht's?
PAPA
Ja
Schweigen
PAPA
War's gut in der Schule, Hase?
HASE
Ja.
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PAPA
Ackerst du, Bébert?
BÈBERT
Ja.
Schweigen. Der Vater guckt auf seine Armbanduhr, dann auf die
Eingangstür. Bébert vertieft sich in sein Buch. Hase träumt.
PAPA
für sich
Eine Saukälte heute ...
BÉBERT
in sein Buch vertieft
Das stimmt, kalt ist es.
Der Vater steht auf und guckt zum Fenster raus.
PAPA
Hast mir nichts Besonderes zu erzählen, Hase?
HASE
noch immer träumend
Nein ... Nichts Besonderes ...
PAPA
Da, ich glaub, das ist sie.
Er geht zur Tür. Bébert und Hase spitzen die Ohren. Die Mama tritt ein,
sie ist eine sehr dicke Frau, klein. Sie trägt zwei riesige vollgestopfte
Einkaufsnetze. Von dem Moment an, in dem sie die Wohnung betritt,
kommen Bébert, Hase und Papa zu ihr und reden in aller Schnelle auf
sie ein. Alle verstauen die Einkäufe in die verschiedenen Schränke,
Kühlschrank u. s. w.7
Ein müder Vater mit seinen maulfaulen Söhnen. Die Schüler bewerten das Gespräch
und stellen fest, dass die Kommunikation stockend verläuft. Die Frage wird gestellt,
ob sich die Gesprächsituation ändern wird, wenn die Mutter hinzutritt.
Jetzt bietet sich die Arbeit in Kleingruppen an. Fünf Schüler (Hase, Bébert, Papa,
Mama und der Leser der Regieanweisungen) verteilen die Rollen untereinander und
lesen im Gruppenverband weiter.
MAMA
Puh, so eine Saukälte! Mistwetter, n’Abend, Papa, war's gut auf Arbeit,...
BÉBERT, HASE, PAPA
N’Abend, Mama ...
MAMA
Ich hab keine Steaks genommen, diese Schweine machen's jeden Tag teurer,
Bébert, wie geht's dir? Hase, hast du deine Hausaufgaben gemacht?
PAPA
Oh ja, so eine Saukälte, noch dazu haben die im Betrieb nicht geheizt,
sie behaupten, es sei jetzt Frühling, Mistbande, sie werden uns alle vor
Kälte krepieren lassen. Was können wir dafür, dass es im Frühling
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schneit? Nur weil da Frühling im Kalender steht, müssen wir uns den Tod holen ...
HASE
Mama, meine Französischlehrerin will dich sprechen, sie sagt, dass es so
nicht weitergeht, aber in Wirklichkeit geht es sehr gut. In Mathe hatte
ich'ne 1, Bébert sagt, ich mache nichts im Gymnasium, aber das ist nicht
wahr, in Mathe habe ich immer 'ne1, selbst ohne zu lernen, Semana ,der
Schwarze, hat Charlotte auf den Mund geküsst, Robert, der war eifersüchtig, Charlotte, die war einverstanden.
BÉBERT
Es geht ganz gut Mami, aber sie haben mich in ein anderes Kranken
haus gesteckt, ich werde Nachtwachen machen müssen, einerseits
ärgert's mich, aber andererseits ist es ein sehr interessantes Gebiet, die
Reanimation, weißt du, die Typen mit Schläuchen überall, es gibt ungefähr zwei Tote pro Nacht...
PAPA
Morgen müsste ich meinen dicken Pullover anziehen, aber ich finde ihn
nicht. Weißt du nicht, wo er sein könnte, und dann muss ich dir noch was
Wichtiges sagen ...
HASE
Ich habe das Buch, das du mir zum Geburtstag gekauft hast, gegen ein
Mathebuch der nächsthöheren Klasse getauscht, aber mach dir keine
Sorgen, wenn es dir nicht passt, verlang ich's wieder zurück. Mama, ich
hab Hunger, kannst du mir nicht 'ne Stulle machen?
BÉBERT
Für diesen Dienst werde ich besser bezahlt, aber ich muss ein paar
Bücher kaufen. Ich bräuchte drei Blaue. Ich geb sie dir zurück, im nächsten
Monat mach ich Ersparnisse ...
Die Mama hat die Einkäufe alle weggepackt, sie deckt den Tisch und bereitet
das Essen vor. Die drei umschwirren sie wie Fliegen.
MAMA
Hase, stell Pfeffer und Salz hin, aber der Pullover ist mit deinen Wintersachen zusammen weggelegt, Papa, ich leg ihn dir morgen raus, das
fehlte nur noch, dass du dir den Tod holst, Bébert, bring das Brot, Hase,
ich weiß, warum deine Französischlehrerin mich sprechen will, du
lernst nicht Französisch ,du liest während des Unterrichts Mathebücher,
ich weiß das und bin da ihrer Meinung, du sollst während ihres Unterrichts nicht andere Sachen lesen, Papa, wird es denn diesen Monat was
mit deiner Lohnerhöhung? Nein, Bébert, nicht dieses Brot da, nimm das
von heute morgen ...
BÉBERT
Ich möchte lieber das frische ...
MAMA
Ja, aber das von heute morgen muss vor dem frischen gegessen werden, was
willst du draufhaben, Hase?
HASE
Käse.
MAMA
Nimm ein Glas Milch.
BÈBERT
Warum machst du ihm seine Stulle mit frischem Brot? Wir können
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uns beim Abendbrot mit dem harten rumschlagen ...
MAMA
Bébert, es ist dein kleiner Bruder ... Hase, gib die Butter her, zum Teufel
...
HASE
Also mir ist es egal, ich nehme auch das Brot von heute morgen ...
MAMA
Na, dann gib's schon her, was musst du mir denn Wichtiges sagen,
Papa? Hase, ein Messer ... Aber wenn du Nachtwachen machst, wie
schaffst du es dann tagsüber mit deinen Vorlesungen? Du wirst dich
völlig fertig machen ... Hase, lass die Schokolade, die brauch ich für den
Nachtisch!
PAPA
Na ja, ich wollte dir sagen, dass wir eine Mitteilung von der Direktion
bekommen haben, wir haben nichts davon kapiert, ich hab's den Kollegen von
der Gewerkschaft gezeigt, die werden's heute Abend durcharbeiten, es kann
gut sein, dass Kurzarbeit auf uns zukommt und sogar...
BÈBERT
Aber nein, ich mach mich nicht fertig, außerdem ist es nicht jeden Abend,
da mach ich mir nicht solche Sorgen, letztens habe ich einen Typen gesehen,
der lief mit offener Luftröhre herum, am Hals voller Schläuche, sie verständigen sich in solchen Fällen durch Zeichen, die Krankenschwestern gewöhnen sich sehr schnell daran ...
MAMA
Hier, Hase, zeig mal deine Hausaufgaben ... Was ist denn das nun wieder für
eine Geschichte mit der Mitteilung der Direktion? Sie werden uns doch nicht
noch Scherereien machen? Auch du wirst dich daran gewöhnen, Leute zu sehen,
die überall Schläuche haben, und wenn du erst mal selbständig bist, in einer schönen kleinen Praxis, siehst du Leute mit Schläuchen nie wieder, und
du wirst schön dein Geld verdienen, und das ist alles, was man von einem
Arzt verlangt, schön sein Geld zu verdienen, seit neun Jahren rackern wir
uns dafür ab und werden uns doch jetzt nicht von einem Kerl mit Schläuchen
im Hals beeindrucken lassen, Hase, mach den Fernseher an ...
Hase schaltet den Fernseher an. Der Nachrichtensprecher wird von einem
Schauspieler im Apparat gespielt.
HASE
Mama, die Französischlehrerin, die müsstest du möglichst bald sprechen,
weil sonst könnt's Ärger geben, letztens habe ich einen Vortrag über Rousseau gehalten, aber es wurde überhaupt nichts, obwohl ich ihn sehr gut vorbereitet hatte, aber jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte, kamen andere
Wörter raus, ich hab ihnen vom letzten Buch erzählt, das ich über den Fall
Adamski gelesen habe, und ich war völlig entnervt, und die Lehrerin hat gesagt, ich solle mich wieder hinsetzen, aber da redete ich immer lauter, und
dann weiß ich nicht mehr was passiert ist...
MAMA
Was ist denn das, der Fall Adamski? Gut, Essen, ich hab nichts Großartiges
gekocht ... es ist alles kalt, wir essen morgen Abend besser, aber man kann
diese gottverdammten Steaks nicht mehr kaufen jeden Tag werden sie teurer,
was stecken sie in ihr Fleisch, Goldklumpen oder was? Bébert, mit deinen
drei Blauen wird es schwierig werden, bist du sicher, dass du die Bücher
brauchst? Aber natürlich, wenn dein Vater diesen Monat Lohnerhöhung bekommt, könnte es vielleicht gehen, aber was erzählst du, Papa, was ist das
für eine Geschichte mit der Mitteilung der Direktion? Haben sie dich nun
erhöht ja oder was? Hase, ich will nicht, dass du die Bücher, die ich dir
schenke, gegen irgendwas tauschst ... Du wirst mir den Gefallen tun, das
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Buch zurückzugeben ... und was ist bei deinem Vortrag über Rousseau denn
genau passiert?
HASE
Na ja, ich war dabei zu reden ...
MAMA
Warte, sei ruhig, der Ministerpräsident spricht ...8
Zunächst sollten sich die Schüler spontan über das veränderte Gesprächsverhalten
äußern. Sie werden feststellen, dass jetzt „Stimmung“ aufgekommen ist, von einer
Unterhaltung, die Gesprächsregeln beachtet, allerdings nicht die Rede sein kann.
Jetzt wissen wir beträchtlich mehr über die Akteure. Um die Inhalte dieses komplexen Textes zu sichern stellen die Schüler ihr Wissen schriftlich in einem Rollenportrait dar. Dabei kann die Ich-Form, beispielsweise „Ich bin Mama !“, oder der neutralere Impuls „Wer ist Mama?“ gewählt werden.
Jeder Schüler kann sich entweder seiner Leserolle zuwenden und sein Ergebnis erst
der Gruppe und dann der Klasse vorstellen, oder aber die Gruppen entscheiden sich
für jeweils für eine Person, markieren und diskutieren die entsprechenden Textpassagen und wählen einen Gruppensprecher, der das Rollenporträt vorstellt.
Hier Auszüge aus Schülerbeispielen:
„Ich bin Mama. Ich bin eine kleine, eher dicke Frau und schätzungsweise 47 Jahre
alt. Ohne mich läuft hier nichts. Ohne mich öden sie sich an. Wer würde einkaufen,
wenn ich nicht da wäre? Wer würde mit allen reden? Allerdings bin ich etwas hektisch. Aber noch einmal klipp und klar: Ohne mich wären alle aufgeschmissen. ...“
(Claudia)
In der Ich-Form trifft die Schülerin den Charakter der Mama sehr gut. Weniger geeignet ist diese Form, um kritische Anmerkungen zu machen. Das wiederum gelingt in
der neutraleren Version besser:
„...Leider ist die Mama etwas oberflächlich. Sie sagt, ein Arzt muss nur ‚schön sein
Geld verdienen.’ Ich dachte immer, Ärzte müssen Ihre Arbeit gut machen und den
Leuten richtig helfen.“ (Gamze)
Hier bietet sich die Gelegenheit, auf das Gestaltungselement der Ironie hinzuweisen.
„Der Vater ist zunächst ein einsilbiger Mensch. Am Anfang ist er müde und träge,
aber wenn seine Frau kommt, wird er aufgeregt. Er arbeitet in einem Betrieb und dort
wird nicht geheizt. Er ist traurig, weil ihm Kurzarbeit bevorsteht. Vielleicht wird er sogar arbeitslos...“ (Özgür, Jania, Robert, Ahmed und Mehtap)
In diesem Auszug wird deutlich, dass sich die Schülergruppe bemüht hat, den Text
zu deuten, denn die bevorstehende Arbeitslosigkeit wird vom Vater nicht explizit erwähnt.
„Ich bin BÉBERT. Ich bin ca.22 Jahre alt und wurde kürzlich in ein anderes Krankenhaus gesteckt. Jetzt habe ich Nachtwache in der Reanimationsabteilung.
Von der Arbeit lasse ich mich aber nicht fertig machen. Bald werde ich meine eigene
Praxis haben und die Typen mit den Schläuchen im Hals sehe ich nie wieder. Hoffentlich bekommt Papa die Lohnerhöhung, denn ich bräuchte drei Blaue, um mir Bücher zu kaufen.“ ( Caroline)
Diese Schülerarbeit ist in besonderem Maße zur Weiterarbeit geeignet, denn die Akteure werden noch ihr wahres Gesicht zeigen und Bébert weiß, dass sein Vater keine
Lohnerhöhung bekommen wird.
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„Hase geht aufs Gymnasium. Er hat eine nette und rücksichtsvolle Art, denn er
nimmt auch das alte Brot. In der Schule redet er gegen seinen Willen über andere
Sachen, wahrscheinlich weil ihn die Außerirdischen ablenken. Er ist verträumt und
sympathisch.“( Tanja, Alex, Gül und Güler )
Da Hase schon als Einstiegsmedium fungierte, geht das Schülerwissen über den
aktuellen Text hinaus.
Nach dieser Sicherung erwartet uns nun die Rede des Ministerpräsidenten. Interessant ist im Vorfeld die kurze Erörterung der Frage, ob der Ministerpräsident zu den
Problemen, die ja nicht nur die Familie Hase betreffen werden, Stellung nehmen
wird.
Das Spektrum der Antworten reichte von „Politiker sagen immer, dass es keine Probleme gibt!“ bis „Er wird einen Plan haben, damit es den Leuten besser geht!“.
MINISTERPRÄSIDENT
Wir sind stolz, ihnen mitteilen zu können, dass alles gut geht, es geht
alles gut, wir sind reich, wir sind stark ,wir sind intelligent, alles geht
gut, wir verdienen viel Geld, wir sind überall sehr gut platziert, wir lieben unser Land, die ganze Welt liebt uns, wir helfen den Armen, und wir
sind völlig unabhängig von denen, die reicher sind als wir, wir haben
pünktliche Züge, unsere Kinder sind glücklich in der Schule, wir sind sauber, unsere Polizei ist korrekt und schützt die alten Leute, unser Camembert verkauft sich gut, alles geht gut, wir haben viel Wein, und er ist
gut, alles geht gut, die Jugend kann Reisen machen, wir haben das Vergnügen, Ihnen mitzuteilen, dass bei uns alles gut geht, von einigen vorübergehenden, aber sehr vorübergehenden Problemen abgesehen, geht alles gut ...9
(leicht gekürzt, Anmerkung der Autorin)
C.Serreau bietet uns hier die Karikatur einer politischen Rede, im sozialkundlichen
Unterricht sollten sich die Schüler mit Gehaltvollerem auseinandersetzen.
Nachdem die Schüler die Rede einmal gehört, bzw. gelesen haben, ist folgende Aufgabenstellung geeignet, um für ein genaueres Nachlesen zu motivieren:
„Die Familie verfolgt die Rede. Markiere die Abschnitte, in denen sich bei den einzelnen Mitgliedern Wiederspruch regen könnte. Begründe deine Auswahl.“
„Ich glaube, dass sich Papa darüber ärgert, dass der Ministerpräsident sagt: ’Wir
verdienen viel Geld, wir helfen den Armen’, weil auf ihn selber doch Kurzarbeit zukommt“.(Carlos)
„Bébert wird sich darüber ärgern, das die Jugend angeblich Reisen machen kann. Er
schuftet doch nachts in der Reanimationsabteilung“.(Caroline)
„Eigentlich müsste sich Hase über die ganze Rede ärgern und nicht nur darüber,
dass die Kinder glücklich sind in der Schule, weil er doch gerade anfangen wollte zu
reden.“(Fabian)
Und wie reagiert Familie Hase auf die Rede?
Bébert steht auf ,rot vor Wut, er brüllt.
BÉBERT
Macht sofort diesen gottverdammten Scheißfernseher aus, oder ich
schlag alles kurz und klein, es passiert ein Unglück, ich schlag alles kurz
und klein, sie erzählen nur Schwachsinn, Schwachsinn, nichts als
Schwachsinn, macht sofort diesen Fernseher aus, oder es passiert ein
Unglück.. .
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MAMA
steht auf. Sie schreit auch.
Bébert, fang nicht wieder an, ja! Setz dich hin und iss, was du auf deinem
Teller hast. Wir hören die Nachrichten.
BÉBERT
Unerschütterlich, stehend, schreit.
Macht sofort den Scheißfernseher aus, oder ich schlag alles kurz und
klein, in zwei Minuten kann mich keiner mehr zurückhalten, ich hau diesen Fernseher in Stücke ...
MAMA
immer noch stehend, schreit.
Hase, mach den Fernseher aus, dein Bruder Bébert fängt wieder mit seinen
Geschichten an.
Sie sagt das, indem sie Bébert fixiert.
Hase steht auf und schaltet den Fernseher aus. Bébert setzt sich ruhig wieder hin und isst.
Schweigen. Plötzlich steht Mama auf und schreit:
MAMA
Bébert, zur Strafe wäschst du heute ab.
Sie setzt sich wieder hin.
BÉBERT
schreit
Ja, Mama.
PAPA
brüllend
Könnt ihr das nicht sagen, ohne zu brüllen?
MAMA
blitzartig, immer schreiend im Ton des Vorwurfes zum Vater
Ein Saustall ist das hier.
Alle essen schweigend.
BÉBERT
Hier ist überhaupt kein Saustall. Ich brülle, weil sie in diesem Fernseher
nur Schwachsinn erzählen.
MAMA
Was heißt denn hier >nur Schwachsinn<? Ist das Schwachsinn, zu sagen , dass
wir bei uns gute Sachen haben? Dass wir Sachen herstellen, die sich gut
verkaufen?
BÉBERT
Mama, du weißt sehr gut, dass es Schwachsinn ist. Du weißt sehr gut,
dass alles schlecht geht
MAMA
Gut, dass stimmt, alles geht verquer, aber ist das ein Grund, es im Fernseher zu sagen?
BÉBERT
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[email protected]
Mama, du bist wieder einmal völlig unlogisch.
MAMA
Oh Bébert, bloß weil du studierst, hast du noch lange kein Recht, mich zu
beschimpfen.
BÉBERT
Also da haben wir's, ich beschimpfe sie!
MAMA
Ja Bébert, du beschimpfst deine Mutter. Ich bin unlogisch, einverstanden,
aber in der Scheiße, da steck ich den lieben langen Tag bis zum Hals, seit
dem Tag, an dem du, mein Altester, geboren wurdest, und da hab ich es am
Abend, wenn ich mit meiner kleinen Familie in Ruhe Abendbrot esse, gern,
fröhliche Dinge im Fernsehen zu hören. Das ist alles. Außerdem stecken wir
denn doch nicht so tief in der Scheiße. Dein Vater hat Arbeit, du, du wirst
Arzt, dein Bruder Jeannot hat eine gute Stellung im Ausland, er ist verlobt, deine Schwester Marie ist gut verheiratet, Hase ist auf dem Gymnasium, er hat die Realschule geschafft, deine Schwester Lucie heiratet einen
ernsthaften Jungen, und ich bin bei bester Gesundheit, was willst du mehr?
Denk an die kleinen Chinesen, die kein Brot haben!
BÉBERT
Aber sie essen kein Brot, die Chinesen, sie essen Reis, Mama.
MAMA
Ein Grund mehr.
BÉBERT
Ein Grund mehr was?
MAMA
Ein Grund mehr, das ist alles. Iss Bébert, es wird kalt.
BÉBERT
Wie soll es denn kalt werden, es ist ja ein kaltes Essen.
MAMA
Bébert, das sagst du aus reinem Widerspruchsgeist.
Bébert gibt den Kampf auf. Er isst. Schweigen. Es klingelt.10
Die Meinung der Schülerin Gamze (s.O), die Mama sei etwas oberflächlich, findet in
diesem Textausschnitt Bestätigung.
Es klingelt. Welch ein bewährtes und nie versagendes Spannungsmittel!
Wer könnte das sein? Die Schüler überlegen in Gruppen. Sie entscheiden, ob es ein
Familienmitglied ist ( vgl. Mitwirkende ) oder jemand anderes. Mit dieser Aufgabe
können wir das Leseverständnis der Schüler prüfen. Sie entwerfen eine kurze Fortsetzung. Als Schreibhilfe kann der Originalsatz der Mama vorgegeben werden:
MAMA
Hase, geh aufmachen, frag aber wer da ist, falls es die Gerichtsvollzieher
sind.
Hase geht zur Eingangstür raus, er kommt einen Moment später wieder.
Hase
- - -
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Hier zwei Beispiele:
1.
Hase: Der Pizzaservice ist da. Was soll ich machen?
Mama geht zur Tür.
Pizzaservice: 7.90 € bitte!
Mama: Hase, tritt ihn gegen das Schienenbein, Bébert, fang die Pizza!
Mama schmeißt die Tür.
Papa: Warum habt ihr die Pizza nicht einfach bezahlt?
Mama: Na, wenn du eine Lohnerhöhung bekommen hättest, dann hätten wir sie auch
einfach bezahlen können.
Papa: Wie soll ich denn eine Lohnerhöhung bekommen in diesem Scheißbetrieb?
2.
Hase: Es ist Marie!
Mama: Marie!!!
Marie: Es ist so schrecklich!
Mama: Setz dich hin, iss und erzähl!!
Marie: Es ist so schrecklich, mein Alter betrügt mich!
Mama: Daran wirst du dich gewöhnen. Iss.
Papa: Nu mal ruhig. Was ist denn genau passiert?
Marie (schluchzt): Also, neulich kam er aus dem Swinger-Club und gestern erwischte
ich ihn mit unserer Nachbarin. In meinem Ehebett!!
Bébert: Hab’ ich’s dir nicht gleich gesagt? Er ist nicht der Richtige!
In den Beispielen wird deutlich, dass die Schüler ein adäquates Textverständnis erworben haben. Ebenso passen sie sich stilistisch der Sprache der literarischen Vorlage an. Die erste Gruppe betont den lebenstüchtig-raffinierten Charakter der Mama
und erinnert die Arbeitsplatzprobleme des Papas. Intuitiv werden im 2. Beispiel die
Eheprobleme der Schwester Marie antizipiert, diese wird tatsächlich ihren Mann verlassen.
Schlussbetrachtung und Ausblick
Der Auftakt des Stückes war anregend und forderte Leseverständnis und -fertigkeit
auf hohem Niveau. Die Schüler bündelten den komplexen Sprechtext der einzelnen
Figuren, indem sie Rollenporträts verfassten, sie hatten die Gelegenheit, eigene Vorstellungen, Bilder und Interpretationsansätze mündlich und schriftlich zu verbalisieren. Sie reflektierten über familiäre Gesprächsstrategien und wurden am Ende des
beschriebenen Ausschnittes zu Autoren, die eine mögliche Fortsetzung erdachten.
Die Motivation für die Weiterarbeit dürfte gewährleistet sein und der Fortgang der
Handlung wird die jungen Leser nicht enttäuschen. Der Bruder Jeanot taucht mit
zwei Koffern auf, die Sprengmaterial enthielten. Er ist Mitglied einer terroristischen
Vereinigung, die Mutter wähnt ihn in Belgien, als Dolmetscher bei der EG. Papa ist
längst arbeitslos, Hase ist vom Gymnasium geflogen, die Schwester Lucie hat bei
der Eheschließung „nein“ gesagt und Bébert betreibt Waffenhandel. Marie kommt
und teilt allen mit, dass sie ihren Mann verlassen hat, weil er zu ihr sagte: „Reich mir
das Salz.“ 11Alle bevölkern die enge Wohnung.
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Das Rollenporträt Hase kann nach der Lektüre seines Monologes 12 vervollständigt
werden .
„ Ich weiß jetzt, dass Hase ein Heilmittel für alle unsere Probleme hätte und dass er
Katastrophen voraussieht. Auf seinem Planeten interessiert man sich nicht so fürs
Geld, das haben sie schon. Wenn wir nicht so viel ans Geld denken würden, hätten
wir weniger Probleme.“ (Fabian)
Auch werden wir unsere Sichtweise bezüglich der Mama korrigieren müssen.
Diese haben wir bis jetzt für eher oberflächlich und raffiniert gehalten. Ihr Monolog,
den sie hält, nachdem ihre Scheinwelt zusammengebrochen ist, zeigt Tiefe und seelische Wahrhaftigkeit. Spätestens jetzt erhebt sich das Stück aus der Genrezeichnung und rechtfertigt seinen Bühnenerfolg .
MAMA
Die Tage meiner Jugend, ich weiß, dass sie vergangen sind.. aber wann? Wie?
Ich will Ihnen sagen, was mich traurig macht, nicht Maries Scheidung, Lucies verpatzte Heirat, dass Hase rausgeschmissen, Papa arbeitslos und Jeannot ein Terrorist...Was mich traurig macht, ist diese graue Gipsschicht,
die mir den Körper und das Leben ganz bedeckt hat, so dass mich niemand
mehr sieht.13
Anmerkungen:
1
Mama in „Hase Hase“ von Coline Serreau S.35f
Alle Textzitate beziehen sich auf: Hrsg.: Staatliche Schauspielbühnen Berlin, Programmbuch 31,
Mai 1992
2
aaO S.21
3
aaO S.64
4
http://www.guckkasten.de/Stücke/Hase.html
5
ebenda
6
vgl.:http://www.uni-wuerzburg.de/sopaed1/koch/kindheit/litvor.htm
7
aaO S.9f
8
aaO S.10ff
9
aaO S.14
10
aaO S.14ff
11
aaO S.35
12
aaO S.21f
13
aaO S.49
11