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Woche 48 / 20. – 26. November 2015
«Etwa 20 Prozent der Kokainsüchtigen, die wir behandeln, sind Kaderleute»
«Der durchschnittliche Kokainkonsument ist Mitte dreissig und arbeitet im Bereich Werbung,
Banken, Versicherungen oder Gastronomie.» ....................................................................................1
Seelsorgerin für Prostituierte
Das Angebot ist weltweit einzigartig ....................................................................................................4
Tiefer Einschnitt
Die Somalierin Aicha Ali schützt Mädchen in der Schweiz vor Beschneidungen und berät
Betroffene ..........................................................................................................................................6
Der Landbote - Seite 3
20. November 2015
«Etwa 20 Prozent der Kokainsüchtigen, die wir behandeln, sind Kaderleute»
«Der durchschnittliche Kokainkonsument ist Mitte dreissig und arbeitet im Bereich Werbung, Banken, Versicherungen oder Gastronomie.»
Abwassertests zeigen: In Winterthur werden pro Woche rund zwei Kilogramm Kokain
konsumiert. Das hat Folgen. In den letzten Jahren haben sich in der Stadt Hunderte Süchtige einer Kokaintherapie unterzogen.
Kokain gehört zu den harten illegalen Drogen. Beliebt ist der weisse Stoff insbesondere in der Partyszene und im Sexmilieu.
Keystone
Thomas Münzel. Seit den 90er-Jahren steigt in den europäischen Grossstädten der Kokainkonsum. Und damit auch die Zahl der Abhängigen. Winterthur hatte bereits früh auf diesen Trend reagiert. Die Integrierte Suchthilfe Winterthur (ISW) bietet in Kooperation mit der Integrierten Psychiatrie Winterthur (IPW) als eine der wenigen kokainspezifischen Anlaufstellen in der Schweiz bereits
seit 1998 eine Kokainsprechstunde an. Allein seit 2010 haben sich bei der IPW rund 1000 Kokainkonsumenten (als Haupt- oder Nebendiagnose) einer ambulanten oder stationären Behandlung unterzogen. Die jährlichen Fallzahlen schwanken allerdings teils beträchtlich. Die Zahl der registrierten Fälle mit diagnostiziertem Kokainkonsum bewegen sich zwischen rund 150 (2011) und rund
190 (2014). Im laufenden Jahr wurden bisher 150 Fälle dokumentiert.
Erfolgreiche Therapie
«Die angebotene Kokaintherapie, die neben einer ausführlichen Abklärung und Diagnostik auch
auf eine kognitive Verhaltenstherapie setzt, ist überaus erfolgreich», sagt Christopher Schuetz, Leitender Psychologe der Kokainsprechstunde. «Rund 80 Prozent der Behandelten fühlen sich nach
der Therapie deutlich besser.» Sich besser fühlen sei aber nicht in allen Fällen mit totaler Abstinenz gleichzusetzen, sagt der Psychologe. Während eine Gruppe der Patienten nach der Therapie
tatsächlich abstinent lebt, entwickelt sich die andere zu Gelegenheitskonsumenten. In der Therapie
gehe es in vielen Fällen darum, gemeinsam mit dem Kokainabhängigen eine Vermeidungsstrategie
zu entwickeln. «Eine Folge davon ist, dass beispielsweise viele Patienten bewusst auf den Konsum
von Alkohol verzichten (der Kokainkonsum steht auffallend oft in Zusammenhang mit dem Konsum
von Alkohol), mit wenig Bargeld unterwegs sind und Kokain-Hotspots meiden.»
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Euphorisierende Wirkung
«Viele probieren Kokain aus reiner Neugierde», sagt Schuetz. Angeboten wird die harte Droge in
Winterthur oft an Partys, in Clubs und im Sexmilieu. Die stimulierende, euphorisierende und leistungssteigernde Wirkung kann nicht zu einer physischen, aber relativ rasch zu einer psychischen
Abhängigkeit führen. «Die Gefahr ist gross, dass Kokain mit der Zeit nicht nur am Wochenende,
sondern auch unter der Woche konsumiert wird, um beispielsweise den Stress in Beruf oder Beziehung besser ertragen zu können», erklärt Schuetz. «Allmählich muss man jedoch immer mehr
konsumieren, um die gleiche psychische Wirkung zu erzielen. » Bei höherer Dosierung würden
dann aber oft Symptome wie Nervosität, Angstzustände und paranoide Stimmungen auftreten. Es
entstehe ein Teufelskreis, aus dem der Betroffene ohne Hilfe nicht mehr herausfindet. «Kokain ist
keine Jugenddroge », sagt Schuetz. «Der durchschnittliche Kokainkonsument ist Mitte dreissig und
arbeitet im Bereich Werbung, Banken, Versicherungen oder Gastronomie.» Viele Patienten, die um
Hilfe nachfragen, würden eine Art Doppelleben führen und seien sehr auf Diskretion bedacht,
weiss der Winterthurer Psychologe.
Bis zu 100 Franken pro Gramm
Es erstaunt Schuetz nicht, dass in Schweizer Städten wie Winterthur der Kokainkonsum im Vergleich zu anderen europäischen Städten überdurchschnittlich hoch ist. Denn Kokain sei zwar nicht
mehr die klassische Schickeria- Droge, wie in den 80er- Jahren, als ein Gramm Koks noch zwischen 500 und 600 Franken kostete. Doch selbst wenn heute «nur» noch 70 bis 100 Franken für
ein Gramm Kokain verlangt werde, gehöre das Suchtmittel nach wie vor zu den teuren Drogen, die
zwar für eine breite Bevölkerung in der Schweiz erschwinglich sei, nicht aber für viele Gesellschaftsschichten in anderen Ländern. «Zwar gehören auch zu den Kokainkonsumenten in der
Schweiz längst nicht mehr nur besser situierte Personen in gehobenen Positionen», sagt Schuetz.
«Trotzdem ist es auffällig, dass der Anteil an Konsumenten in gehobener Stellung nach wie vor relativ hoch bleibt. Etwa 20 Prozent der Kokainabhängigen, die wir ambulant oder stationär behandeln, sind Kaderleute.»
Kokainsprechstunde IPW/ISW: Telefon Mo–Fr: 052 224 35 20.
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Abwasser gibt Aufschluss über Drogenkonsum
Objektive Zahlen zum Drogenkonsum in Winterthur
Abwasser enthält Spuren von Drogen und deren Abbauprodukten. Daraus kann auf den
Konsum zurückgeschlossen werden – nicht von einzelnen Konsumenten, aber von ganzen
Städten. 2014 wurde erstmals auch das Abwasser von Winterthur untersucht.
Schon seit einigen Jahren werden in europäischen Städten Abwasserproben auf Spuren von Drogen analysiert. An den Studien nahmen jeweils auch die Schweizer Städte Basel, Bern, Genf, St.
Gallen und Zürich teil. Im vergangenen Jahr haben Forscher der Universität Lausanne in Zusammenarbeit mit dem Wasserforschungsinstitut Eawag in Dübendorf in 13 grossen Schweizer Städten während einer Woche Abwasserproben entnommen und auf Kokain, Ecstasy und Chrystal
Meth untersucht. Erstmals auch in Winterthur. Jetzt liegen die Resultate vor: Während bei Ecstasy
(14,9 Milligramm pro 1000 Einwohner und Tag) und Chrystal Meth (7,9 Milligramm pro 1000 Einwohner und Tag) verhältnismässig geringe Mengen im Abwasser von Winterthur festgestellt wurden, sieht das bei Kokain etwas anders aus. So wurden im letzten Jahr durchschnittlich 330 MilliPresseschau Weitere Themen
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gramm Benzoylecgonine (das Hauptumwandlungsprodukt nach Konsum von Kokain) pro 1000
Einwohner und Tag registriert. Das entspricht laut dem Eawag einem Konsum von durchschnittlich
gut 280 Gramm pro Tag und Stadt. Winterthur liegt damit über dem Durchschnitt von rund 50 untersuchten europäischen Städten; in der Schweiz befindet sich die Eulachstadt mit Rang sechs
aber im Mittelfeld (vor Lausanne und hinter St. Gallen). Die ersten Plätze besetzen Genf, 448 Milligramm (Rang drei), Basel, 545 Milligramm (Rang zwei), und Zürich, 598 Milligramm (Rang eins).
Die Abwassermessungen wurden in Winterthur im Frühling 2014 während «einer normalen Woche» gemacht, wie Studienautor Christoph Ort von der Eawag auf Anfrage erklärt. Man habe repräsentative Tagessammelproben aus dem Zulauf der Kläranlage Hard entnommen und analysiert.
Ort weist darauf hin, dass die Messungen einer einzelnen Woche eine Momentaufnahme darstellt.
Inwieweit diese den generellen Drogenkonsum (zum Beispiel Jahreskonsum) abbilden, müsse man
mit mehreren, über das Jahr verteilte Messungen zeigen. «Dazu haben wir aber die Mittel momentan nicht.
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Neue Luzerner Zeitung - Seite 10
20. November 2015
Seelsorgerin für Prostituierte
Das Angebot ist weltweit einzigartig
Die Römischkatholische Kirche beider Basel stellt eine Seelsorgerin für Sexarbeiterinnenan – mit dem Segen von Bischof Felix Gmür.
Die 38-jährige Theo login Anne Burgmer.PD
Kari Kälin. Papst Franziskus verurteilt Prostituierte nicht, sondern geht auf sie zu. Im letzten Jahr
sprach er im Vatikan persönlich mit vier Opfern von Menschenhandel. Franziskus ist ohnehin der
Papst der Armen und Randständigen. «Besser eine Kirche mit Beulen, die auf der Strasse unterwegs ist, als eine Kirche, die krank ist, weil sie sich eingeschlossen hat», twitterte er neulich.
Büro im Rotlichtviertel
Die Römisch-katholische Kirche beider Basel nimmt sich die Maxime des Oberhaupts der katholischen Kirche zu Herzen – und schafft die Stelle Seelsorge im Tabubereich (Sita). Ab Anfang Jahr
wird die deutsche Theologin Anne Burgmer (38) als erste Prostituierten- Seelsorgerin amten. Das
Angebot sei in seiner Art weltweit einzigartig, sagten gestern Kirchenvertreter vor den Medien.
Burgmers Büro befindet sich im Rotlichtviertel der Stadt Basel, direkt neben der städtischen Prostituiertenberatung. Sexarbeiterinnen-Seelsorgerin Burgmer ist in einem 40-Prozent-Pensum angestellt, die Stelle ist auf drei Jahre befristet. «Die Sita soll für Menschen da sein, die sich in einem
gesellschaftlichen Tabubereich aufhalten», sagt Burgmer, die in Bonn und Luzern Theologie studiert hat.
In Basel-Stadt sind rund 3000 Prostituierte tätig, viele von ihnen stammen aus katholischen Ländern. Die Sita will deren Bedürfnisse nach Seelsorge und Spiritua lität befriedigen. Einen moralischen Ansatz verfolgt sie nicht. Man wolle die Prostituierten nicht dazu überreden, sich einen anderen Beruf zu suchen, sagt Thierry Moosbrugger, Sprecher der Kirche beider Basel. Und: «Die Prostituierten sollen jemandem ihre Geschichte erzählen können, ohne dass sie dafür stigmatisiert werden.» Wie viele Frauen das Angebot nutzen werden, ist völlig offen. Im Jahresbericht wird Seelsorgerin Burgmer Statistik führen.
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Jesus als Vorbild
Anne Burgmer verrichtet ihre neue Aufgabe mit dem Segen des Bischofs von Basel. Felix Gmür
hat ihr die kirchliche Beauftragung Missio Canonica erteilt. «Ich wünsche eine Kirche, die rausgeht
zu den Menschen. Unsere Aufgabe ist es, auch zu denjenigen zu gehen, die keine Lobby haben»,
sagt Gmür. Deshalb gebe es Seelsorge im Tabubereich. Dass die katholische Kirche auf Prostituierte zugeht, liegt eigentlich auf der Hand. So liess sich Jesus seine Füsse durch eine Hure salben
– und vergab ihr ihre Sünden. Überhaupt zeigt sich Jesus konziliant im Umgang mit sexuell fehlbaren Frauen. Als die Pharisäer eine Ehebrecherin steinigen wollten, sagte er: «Wer von euch ohne
Sünde ist, der werfe den ersten Stein.»
«Unsere Aufgabe ist es auch, zu denjenigen zu gehen, die keine Lobby haben.»
Bischof Felix Gmür
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Aargauer Zeitung - Seite 6
25. November 2015
Tiefer Einschnitt
Die Somalierin Aicha Ali schützt Mädchen in der Schweiz vor Beschneidungen und berät
Betroffene
Sie ist selber eine von ihnen
Somalierin Aicha Ali engagiert sich in der Schweiz. Chris Iseli
Annika Bangerter. Ein Model hat das Schweigen gebrochen. In ihrem Bestseller «Wüstenblume»
erzählt Waris Diries, wie sie als Fünfjährige beschnitten wurde: ohne Narkose, mit einem Stück
Wurzeln zwischen den Zähnen. Ihre Mutter hielt sie von hinten an den Schultern fest, während die
Beschneiderin mit einer Rasierklinge ihr die Klitoris, innere und äussere Schamlippen abschnitt.
Die Wunde nähte sie zu einem winzigen Loch zusammen. Davon berichtete sie vor rund zwanzig
Jahren erstmals in einem Interview. Heute gilt sie als die berühmteste Aktivistin gegen weibliche
Genitalverstümmelung: Sie hält Vorträge, initiiert Aufklärungsprogramme, hilft Betroffenen.
Bundesrat wird aktiv
Im kleineren Rahmen leistet Aicha Ali aus dem bernischen Lyss ähnliches. Als interkulturelle Vermittlerin arbeitet sie für das Präventions- und Beratungsprogramm von Caritas, das Mädchenbeschneidung in der Schweiz bekämpft. Es ist ein Thema, das durch die Migration auch in der
Schweiz an Aktualität gewonnen hat. Schätzungen gehen davon aus, dass hierzulande rund 14
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700 betroffene oder gefährdete Frauen und Mädchen leben. Sie kommen vor allem aus Somalia,
Eritrea, Äthiopien und dem Sudan. Ende Oktober hat deshalb der Bundesrat beschlossen, die
Massnahmen gegen weibliche Genitalverstümmelung zu verstärken. In den nächsten Jahren will er
ein Netzwerk mit verschiedenen, bereits aktiven Organisation finanziell unterstützen. Für Aicha Ali
ist das ein wichtiges Signal: «In der Schweiz braucht es ein grösseres Engagement.» Die gross
gewachsene Frau mit dem modisch geknüpften Kopftuch beschreibt ihre Arbeit als Herzensangelegenheit. Sie spricht ruhig, aber bestimmt darüber. Mit ihren schlanken Fingern unterstreicht sie
ihre Worte. Wie Waris Dirie stammt sie aus Somalia. Wie das Model wurde auch Aicha Ali in ihrem
Herkunftsland beschnitten. Sechs Jahre alt war sie. Mehr möchte sie dazu nicht sagen, nur: «Ich
hatte grosse Schmerzen als Mädchen, als verheiratete, als schwangere, als gebärende Frau. Das
will ich anderen ersparen.» Deshalb besucht die fünffache Mutter Somalierinnen in Asylheimen, in
Kulturvereinen und zu Hause. Sie lebt seit 18 Jahren in der Schweiz. Um Vertrauen zu schaffen,
beantwortet die Präventionsarbeiterin bei den ersten Besuchen Alltagsfragen, zeigt günstige Einkaufsmöglichkeiten, dolmetscht. «Erst wenn wir uns besser kennen, spreche ich mit den Menschen
über Beschneidungen. Ich erkläre ihnen, dass das Ritual in der Schweiz streng verboten ist, dass
die Eltern dafür im Gefängnis landen können. Zudem zeige ich auf, wie die Beschneidungen mit
Krankheiten oder gar Todesfällen zusammenhängen. Das wissen viele nicht, das Thema ist ein
grosses Tabu.» Väter wie Mütter informiert sie: Es gelte auch das Denken der Männer zu ändern.
«Viele wissen gar nicht, was für Schmerzen eine Frau durchmacht», sagt Aicha Ali.
Angst und Scham
Bereits beschnittene Frauen oder Mädchen versucht sie, zu einem Arztbesuch zu motivieren. Viele
liessen sich noch nie untersuchen. Zu gross ist die Angst und Scham. Diese Hürde kennt auch Annette Kuhn. Die Gynäkologin bietet am Inselspital Bern spezielle Sprechstunden für beschnittene
Frauen an. Es brauche eine sensible Annäherung an die Patientin. Eine Untersuchung sei häufig
erst bei der zweiten Sprechstunde möglich, sagt sie. Pro Jahr behandelt Annette Kuhn um die 30
neue Patientinnen. «Ihre Probleme sind vielfältig: Einige möchten Kinder, haben aber grosse
Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, andere leiden bereits beim Urinieren», sagt sie. In ihren
Sprechstunden rät die Gynäkologin den Frauen zur Defibulation. Dabei öffnet sie mit einem Laser
die verwachsenen Genitalien. «Das Ziel des Eingriffes ist, eine möglichst normale Anatomie wiederherzustellen. Das funktioniert natürlich nicht, wenn die Genitalien abgeschnitten sind. Durch die
Öffnung können die Frauen aber immerhin wieder normal Wasser lösen und den Geschlechtsverkehr schmerzfrei erleben», sagt Kuhn. Um die 90 Prozent ihrer Patientinnen entscheiden sich dazu. Die Rückmeldungen seien überwiegend positiv. Regelmässig berät die Ärztin auch schwangere
Frauen, die beschnitten sind. «Geburten sind in der Schweiz ohne erhöhtes Gesundheitsrisiko für
die Mütter und Kinder möglich», sagt Annette Kuhn. Allerdings komme es häufiger zu Kaiserschnitten, weil die Untersuchungen während der Schwangerschaft schwierig durchführbar sind. Und was
passiert nach der Geburt? «Auch wenn es eine Frau wünscht, wir nähen ihre Genitalien nicht wieder zusammen. Wir versorgen nur die Geburtsverletzungen», sagt Annette Kuhn. Ihre Patientinnen
sind Migrantinnen, die erst seit kurzem oder bereits mehrere Jahre in der Schweiz leben. Frauen,
die in der Schweiz beschnitten wurden, hat sie bislang keine getroffen.
Im Denken tief verankert
Das erstaunt Aicha Ali nicht: «Beschneidungen geschehen im Verborgenen. Sie werden aber auch
in Europa durchgeführt.» Das Ritual sei tief im Denken ihrer Landsleute verankert. Sie umzustimmen, brauche Zeit und Geduld, sagt sie. Für ihre Arbeit erhält sie viel Kritik und muss so manche
Anfeindung wegstecken. «In Somalia haben die Menschen keinen Respekt vor unbeschnittenen
Frauen. Sie finden dort kaum einen Ehemann.» Diese Sorge teilen auch Familien in der Schweiz.
Erfährt sie von diesen Ängsten, zückt Aicha Ali ihre wichtigsten Joker: Sie erzählt von ihren vier
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Töchtern. Alle körperlich unversehrt, selbstbewusst, gut integriert. Wie viele Mädchen in der
Schweiz tatsächlich gefährdet sind, ist unklar. Verlässliche Zahlen fehlen. Organisationen, die sich
gegen weibliche Genitalverstümmelung engagieren, fordern deshalb ein schweizweites Monitoring,
wobei Ärzte und Spitäler Fallzahlen erheben. «Wir müssen die Faktenlage klären. Dafür braucht es
eine nationale Strategie», sagt Marisa Birri von «terre des femmes». Für sie gibt es in der Schweiz
in Bezug auf die weibliche Beschneidung noch einiges zu tun: Beratungsstellen für Betroffene, die
Ausund Weiterbildung von Fachpersonen wie Kinderärzten oder Gynäkologen, Richtlinien für die
Spitäler im Umgang mit den Betroffenen und ein Ausbau der Präventionsarbeit, wie sie Aicha Ali
macht. Sie, die in Somalia davon träumte, als Anwältin zu arbeiten, wurde dies in der Schweiz für
zahlreiche Mädchen und Frauen.
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Beschneidung
125 Millionen Frauen betroffen
Weltweit sind nach Schätzungen von Unicef rund 125 Millionen Mädchen und Frauen Opfer von
Genitalverstümmelungen. Davon gibt es verschiedene Formen: die Vorhaut der Klitoris kann eingestochen, geritzt oder weggeschnitten werden. Bei der drastischen Form werden zudem die
äusseren Genitalien entfernt und die Vaginalöffnung auf Himbeergrösse zugenäht. Die meisten
Staaten verbieten die Beschneidung von Mädchen. Seit über 22 Jahren gilt das Ritual als Menschenrechtsverletzung. Trotzdem ist es besonders im westlichen und nordöstlichen Afrika immer
noch weit verbreitet wie etwa in Ägypten, Somalia, Äthiopien oder Mali. Bis ins 19. Jahrhundert
wurde die genitale Verstümmelung auch in Europa praktiziert. Es galt als Therapie von Hysterie,
Melancholie oder Homosexualität.
Heute startet die Aktion «16 Tage gegen Gewalt an Frauen».
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«Betroffene brauchen Medizin und Aufklärung»
Warum Frauen in Europa zusätzlich unter einer Genitalbeschneidung leiden, erklärt Ärztin Fana
Asefaw.
Annika Bangerter. Die weibliche Beschneidung ist in den meisten Ländern verboten. Wieso
wirkt das Verbot nicht?
Fana Asefaw: In Gesellschaften, die das Ritual praktizieren, ist die Beschneidung positiv bewertet.
Beschnittene Mädchen gelten als jungfräulich, sauber und anständig. Alles Eigenschaften, die es
braucht, um einen Ehemann zu finden. In Europa sorgen sich Eltern, dass ihre Töchter hier enthemmt leben könnten, wenn sie nichts unternehmen. Ich erkläre ihnen dann stets, dass die Lösung
nicht in der Beschneidung, sondern in der Erziehung liegt.
Sie sind Ärztin und Psychiaterin. Was sind die Spätfolgen einer Beschneidung?
Die körperlichen Beschwerden hängen von der Form der Beschneidung ab. Je enger die Frau zugenäht ist, umso stärker sind ihre Schmerzen. Das Entleeren der Blase kann 30 bis 60 Minuten
dauern. Bei den Monatsblutungen staut sich das Blut bis zu 14 Tage. Das begünstigt Infektionen,
was im schlimmsten Fall zur Sterilität führt.
Und was sind die psychischen Folgen?
Frauen, die ihr traditionelles Umfeld nie verlassen haben, bringen ihre psychischen Leiden nicht mit
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der Beschneidung in Zusammenhang – auch nicht, wenn sie schwerste körperliche Beschwerden
haben. Das ergab eine Studie, die ich in Eritrea durchführte. Ein anderes Bild zeigte dieselbe Umfrage unter Migrantinnen. Subjektiv gesehen leiden sie psychisch viel stärker.
Wie lässt sich das erklären?
In Europa ist die Haltung gegenüber der weiblichen Beschneidung negativ geprägt. In den Herkunftsländern war das Ritual sinn- und identitätsstiftend: Die Frauen gehörten dadurch zur Gemeinschaft. Anders erleben sie dies in Europa: Hier führt die Beschneidung zu Mitleid und Empörung. Die Betroffenen fühlen sich dadurch ausgegrenzt und stigmatisiert. Das ist besonders für jugendliche Mädchen in der Schule schwierig. Ich betreue Patientinnen, die erst durch die Reaktion
der Leiterin eines Asylheimes oder von Ärzten traumatisiert wurden.
Wie soll man diese Betroffenen denn ansprechen oder behandeln?
Zwangsuntersuchungen müssen unbedingt vermieden werden. Es ist gefährlich, wenn Behörden
eine gynäkologische Untersuchung eines Mädchens anordnen. Die Eltern müssen einbezogen
werden. Bei erwachsenen Frauen ist es wichtig, dass Gynäkologen oder Hebammen sich nicht von
Emotionen leiten lassen. Dafür hilft ein kurzes Vorgespräch. Eine gute Einstiegsfrage ist, ob im
Herkunftsland der Patientin die genitale Beschneidung praktiziert wird. Bejaht sie, kann die nächste
Frage lauten: Sind sie auch betroffen? So findet eine respektvolle Annäherung statt.
Der Bund will die Massnahmen gegen die Beschneidungen von Frauen verstärken. Was
braucht es?
Es benötigt einen Paradigmenwechsel. Ich erlebe bei diesem Thema eine stark eurozentristische
Haltung: Beschnittene Afrikanerinnen werden als bemitleidenswerte, primitive Frauen behandelt.
Damit können sich die Frauen nicht identifizieren und wenden sich ab. Meiner Meinung nach sind
kaum eritreische Mädchen in der Schweiz gefährdet – kritischer ist die Situation für Mädchen aus
Somalia und dem Sudan. Was aber für alle betroffene Frauen gilt: Sie brauchen medizinische Versorgung. Deshalb braucht es auch eine verstärkte Aufklärung. Diese können Kulturvermittler aus
den Herkunftsländern am besten leisten. Sie kennen die Tabus, die kulturellen Feinheiten. Es geht
schliesslich darum, die Menschen zu erreichen und nicht zu schockieren. Dafür ist das Thema viel
zu ernst.
Fana Asefaw ist in Eritrea geboren und arbeitet in der Privatklinik Clienia in Littenheid TG als
Oberärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zum Thema weibliche Genitalbeschneidung promovierte sie und schrieb ein Sachbuch
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