Am Bett eines Sterbenden

Am Bett eines Sterbenden
Ich stehe vor der Krankenzimmertür. Ein bisschen mulmig ist mir schon. Was wird mich erwarten. Wie wird man
mich erwarten. Nach einem kurzen Blick auf meinen Einsatzplan klopfe ich an. Eine laute Stimme sagt, ich könne herein kommen. Als ich eintrete, werde ich von der alten Dame im Bett streng gemustert. Bevor sie noch
Fragen kann, stelle ich mich vor. So, also einen Krankenhaus-Seelsorger habe sie da vor sich. Sie möchte wissen,
was ich von ihr wolle. Ich antworte wahrheitsgemäß, dass ich sie besuche, weil sie auf meiner Liste stehe. Es
entwickelt sich ein kurzes Gespräch über das Wetter – das für diese Jahreszeit doch viel zu kalt sei -, über das
eher mittelmäßige Essen, die gestressten Schwestern und, und, und. Lauter Belanglosigkeiten.
Doch mit einemmal wird sie still. Ich teile ihr meine Beobachtung mit. So, still sei sie geworden. Mmmh. Sie
teilt mir recht lapidar mit, dass ihr die Ärztin heute gesagt hätte, dass sie wohl sterben muss. Schon bald. Die
Metastasen hätten schon einen Großteil des Lungengewebes in Beschlag genommen. Die alte Frau redet sich
langsam in Rage. Die Ärztin hätte sich bestimmt geirrt und außerdem wisse doch jedes Kind, wie schnell in so
einem großen Krankenhaus mit so wenigen Mitarbeitern die Krankenakten durcheinander kommen können.
Sie erzählt weiter. Von ihren Kindern, die sie nicht besuchen kommen, weil sie arbeiten müssen. Von ihren Enkeln, die sie nicht besuchen kommen, weil sie in die Schule und in den Sportverein gehen. Nach einer Zeit merke ich, dass die alte Dame sehr müde wirkt. Als ich sie darauf anspreche, gibt sie mir Recht und wir verabschieden uns für diesen Tag.
Nach zwei Tagen schaue ich wieder vorbei. Die alte Dame lächelt zuerst, dann wird ihr Gesicht finster. Sie wirft
mir an den Kopf, warum ich eigentlich zu ihr käme. Ich mit meiner Kirche. Sie sei jeden Sonntag in die Kirche
gegangen und was habe sie nun davon? Außerdem seien sowieso alle hier gegen sie. Die Ärztin, die an ihrem
Tod Schuld ist. Schließlich hätte diese sie heilen müssen. Die Schwestern seien auch nicht mehr zuverlässig und
überhaupt ist alles nur so weit gekommen, weil sie so lange in der Stadt wohnen musste und die Abgase eingeatmet habe. Ich teile der alten Dame mit, dass sie wohl sehr zornig über ihr Schicksal sei. Sie gibt mir Recht,
schließlich könne sie nicht verstehen, warum gerade sie bald sterben muss. Das Gespräch dauert noch fast eine
ganze Stunde.
Bei meinem nächsten Besuch treffe ich neben der Patientin auf die Ärztin. Beide haben nichts dagegen, dass ich
herein komme. Vor der Türe schnappte ich einige Satzfetzen auf. Die alte Dame versprach der Ärztin, sie in ihr
Testament aufzunehmen, wenn sie doch noch etwas tun könne. Der Ärztin war es denkbar unangenehm. Als die
Ärztin das Zimmer verlässt, bittet mich die alte Dame, mit ihr zu beten. Nach dem Gebet sieht sie mich fragend
an. Ob Gott ihr wohl noch helfen könne? Sie würde auch eine größere Summe an die Kirche spenden. Da ich ihr
diesbezüglich keine Hoffnungen machen kann, läuft das Gespräch in eine andere Richtung. Die alte Dame erzählt, welche Ideen sie zur Heilung ihrer Krankheit habe. Sie deutet auf eine esoterisch angehauchte Zeitschrift
auf ihrem Nachttisch. Einige Annoncen sind markiert. Die nächsten Wochen berichtet sie mir immer wieder von
erfolglosen Therapieversuchen.
Kurz vor Weihnachten besuche ich die alte Dame wieder. Das Zimmer ist dunkel. Nur eine Nachtlampe brennt,
aber die Dame ist wach. Ich frage sie, ob sie Schmerzen hätte. Sie verneint. Ich sitze noch etwa sieben Minuten
wortlos am Bett. Dann erzählt die alte Dame leise von ihrem neuen Enkel. In dieser Woche geboren. Sie bezweifelt, dass sie ihn noch sehen wird. Schließlich besucht sie ihre Tochter doch jetzt schon kaum. Sie fragt mich, ob
ich ihre Tochter nicht anrufen könnte. Damit sie ihren Enkel wenigstens noch einmal sehen könnte. Ich verspreche es ihr. Nach langem Schweigen merke ich, dass die Frau eingeschlafen ist. Ich notiere noch Grüße und einen Psalm auf ein Notizblatt, lege es ihr auf den Nachttisch und gehe. Noch am Abend telefoniere ich mit der
Tochter der Frau. Sie verspricht, in dieser Woche einen Besuch mit ihrem Sohn einzurichten.
Mittlerweile sind einige Wochen vergangen. Draußen ist es weiß und die alte Dame sieht fast ausschließlich
dem Treiben auf der Straße zu. Sie erzählt mir in kurzen Sätzen, was sie heute beeindruckt hätte. Die Müllmänner, deren Arbeit auch bei Minusgraden gemacht werden müsse. Ja, die arbeiten hart und ordentlich für ihr
Geld. Aber auch die Mutter mit den Zwillingskinderwagen, die sich sichtlich abmühte, den Kinderwagen durch
den Schnee zu schieben. Was wohl nach dem Tod komme, fragt sie mich unerwartet. Ich gebe die Frage zurück.
Was sie sich vorstelle, will ich wissen. Und ihre Vorstellung macht mir Mut.
© S. Bernoth