Protokoll 9 (b)(Fertig) Fortsetzung zu 3. Demokratie und Marktwirtschaft (a) zu den Wahlen (S.96f): Wer ist Subjekt, wer ist Objekt bei der demokratischen Herrschaftsbestellung? Der demokratische Staat setzt „nach festen Verfahrensregeln periodisch“ (S.96)die Wahlen an, er ist das Subjekt des Wahlprozesses. Es sind nicht die Bürger, die ein dringendes Bedürfnis nach Wahlen haben. Die Bürger dürfen wählen, in vielen Staaten gibt es sogar Wahlpflicht, ist Gleichgültigkeit gegen das Wahlprocedere nicht gestattet. 1 Und die Funktionen und Aufgaben der Ämter, um deren Besetzung die wahlwerbenden Parteien konkurrieren, stehen im Dienst der Erfüllung der Staatsräson im Wesentlichen fest. Stimmt deshalb – weil alles Wesentliche feststeht - die Behauptung, die Wähler seien (bloß) Objekt der Wahl, hätten nichts zu entscheiden? Die Wähler sind Subjekt der Entscheidung, von welchen Figuren und Parteien sie regiert werden wollen, denen gegenüber sie Objekte von Herrschaft sind. Das ist die politische Freiheit in der Demokratie: die Bürger dürfen als Wähler Einfluss auf das Personal der Herrschaft nehmen. Damit treffen sie aber eine grundsätzlichere Entscheidung. Denn mit dieser ihrer Entscheidung darüber, wer denn die Macht übernehmen soll, geben sie zugleich ihre Zustimmung dazu ab, dass sie selbst nicht zuständig sind für Ausgestaltung ihrer eigenen Lebensverhältnisse. Diese Zustimmung geben sie in einem Freiheitsakt ab. Sie bekennen, dass sie überhaupt eine Herrschaft über sich wollen und brauchen. Worin täuschen sich Demokratieidealisten? Kritische Freiheitsidealisten bezweifeln, dass es sich beim Wählen um „echte“ Freiheit handelt. Sie meinen, die Wahl sei eigentlich dafür da, dass das Volk festlegt, was seine Führung zu tun und zu lassen hätte; in der Wahl würde das Volk eigentlich die Führung auf seine Interessen festlegen; die Führung exekutiere eigentlich nichts als Volksinteressen. Diese Vorstellung ist sehr widersprüchlich: Bei so viel Harmonie im Verhältnis von Volk und Führung, wo die Herrschaft nichts als der Auftragnehmer von Volksinteressen ist, ist dann aber schon die Frage, wozu es Herrschaft braucht: wenn die Führung exekutiert, was das Volk bei ihr in Auftrag gibt, warum muss dann der Auftraggeber darauf gewaltsam (mit Polizei und Justiz) verpflichtet werden, was ihm angeschafft wird? Und: wenn die Führung ausführt, was das Volk ihr aufgibt, ist vollkommen unerklärlich, wozu es dann die Wahlen als Daueraufgabe der Politik gibt. Denn wozu sollten die beauftragten Ausführungsorgane regelmäßig abgelöst werden? Diese idealistische Demokratievorstellung will nicht wahr haben, dass es eine Herrschaft ist, die durch freie Wahlen durch das Volk zum Durchsetzen staatlicher Zwecke ermächtigt wird, die dem Volk großteils nicht wohl bekommt. Und dass das Volk dieser Herrschaft willentlich zustimmt, weil es sie für sein Leben unter lauter gegensätzlichen Verhältnissen braucht. Was passiert mit der Unzufriedenheit des Volks im Wahlakt? Mit dem Wahlakt hat das Volk seine Unzufriedenheit an die neue Mannschaft abgetreten. Die neu gewählte Regierung ist der Adressat der Unzufriedenheit und insofern für die Unzufriedenheit zuständig. Ob sie sich dieser annimmt hängt ganz davon ab, ob das in ihr nationales Konzept passt. Die Beseitigung der materiellen Unzufriedenheit der einzelnen Bürger ist dabei nicht ihre Sache. So bleiben die Verhältnisse, die dem Volk das Leben schwer machen, als Gründe ihrer Unzufriedenheit 1 Zahlreiche Staaten haben eine allgemeine Wahlpflicht, die alle Wahlberechtigten automatisch zu Wahlpflichtigen macht. Das Grundgesetz (GG) in Deutschland dagegen setzt auf ein freies Wahlrecht, was jeder und jede Wahlberechtigte ausüben kann, aber keinesfalls muss. erhalten. Daher ist das periodische Wählen institutionalisiert, hält es die Demokratie für geboten, alle paar Jahre dem Volk neue Personalangebote zu präsentieren, damit es sich neu die Figuren aussuchen kann, von denen es sich kommandieren lässt. Darauf beruft sich die Mannschaft, die sich zur Herrschaft ermächtigen lassen will, wenn sie den Auftrag zum künftig guten Regieren übernimmt. Zwischenzeitlich ist es dem Volk erlaubt zu meckern, d.h. seine Unzufriedenheit als abweichende Meinung zu Protokoll zu geben. Was erwartet das Volk von der Wahl? Seitens des betroffenen Volkes wird vermeldet „Immerhin können und dürfen wir hier wählen.“ Was heißt das? Das „Immerhin“ drückt aus, dass das Ergebnis der Wahl die materielle Lage des Volks nicht verbessert. Zugegeben wird, dass das Leben in der Marktwirtschaft vor wie nach der Wahl ziemlich ungemütlich ist, reichlich Anlass zur Unzufriedenheit bietet, sein Schaden ist. Diesen Verhältnissen wird dann durch die Art und Weise der Herrschaftsbestellung der Segen erteilt und gegen die eigene Unzufriedenheit mit den Verhältnissen hochgehalten: „Immerhin dürfen wir wählen“. Die Form der demokratischen Wahl adelt das Ergebnis, wo man doch am Ergebnis sehen könnte, wozu die Wahl taugt. Warum ist dem Volk die Freiheit, wählen zu dürfen, wichtiger als das, was es sich mit der Wahrnehmung seiner Freiheit zur Wahl regelmäßig einhandelt? Die Volksgenossen äußern sich als Patrioten, Liebhaber der hiesigen Verhältnisse, wenn sie an Deutschland loben, dass sie hier etwas dürfen, was nicht überall auf der Welt dem Volk als staatliches Recht eingeräumt wird. Sie verwandeln das politische Verfahren der Herrschaftsbestellung in einen Wert, halten ihr Dürfen, ihre Freiheit, als Gütesiegel der hiesigen Verhältnisse hoch.
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