Epistemische Willensschwäche und rationale Tugend

Philosophie und/als Wissenschaft
Proceedings der GAP.5, Bielefeld 22.–26.09.2003
Epistemische Willensschwäche
und rationale Tugend
Verena Mayer
1. Praktische Willensschwäche
Willensschwäche wird seit Platons Protagoras als Handeln wider besseres Wissen definiert. Nach Platon glauben die meisten Menschen, dass es Willensschwäche gibt; sie
glauben nämlich, dass „Viele, welche das Bessere sehr gut erkennen, es doch nicht tun
wollen, obgleich sie könnten, sondern etwas anderes tun“.1 Die folk psychology erklärt
das Phänomen dadurch, dass der Mensch in seinem vernünftigen Wollen durch Lust überwältigt werde, dass also ein dem eigenen Willen externer Faktor, „die Leidenschaft“,
das vernünftige Überlegen zum Erliegen brächte. Sokrates jedoch überführt diese Auffassung in eine Aporie. Setzt man nämlich voraus, dass Handeln immer von Gründen
motiviert ist, und zwar von denjenigen Gründen, die man jeweils für die besten hält,
dann kann es Willensschwäche nicht geben. Die jeweils gewählte Handlung wäre dann
immer auch gleichzeitig die subjektiv beste und also die gewollte. Sokrates argumentiert deshalb, dass akratisches Handeln auf die Unwissenheit des Akteurs verweist, der
sich bezüglich des Umfangs und der Güte seiner Gründe irrt. Der Willensschwache wird
von scheinbaren lokalen und kurzfristigen Vorteilen verwirrt, weshalb er nicht erkennt,
in welchem Ausmaß er tatsächlich gegen seine eigenen Überlegungen, rationalen
Grundsätze und Interessen handelt. Er unterliegt in gewissem Sinn einer axiologischen
Täuschung, da ihm das Naheliegende als das Angenehmere erscheint, ähnlich wie in einer
optischen Täuschung das Nähere größer zu sein scheint. So wie die optische Täuschung
durch die „Messkunst“ relativiert wird, benötigt deshalb der praktisch Handelnde eine
besondere Kunst der rationalen Bewertung. Sein Problem ist also nicht etwa psychologischer Natur, wie es die Erklärung des Von-Lust-überwältigt-Seins nahelegt, sondern
epistemischer: Willensschwäche ist eine Frage der Rationalität.
Auch Davidson hat in seinem Aufsatz über Willensschwäche (1969) Akrasie als ein
Defizit an Rationalität beschrieben. Anders als bei Sokrates betrachtet Davidson das
Problem aber nicht als eine Art epistemischer Kurzsichtigkeit, sondern als Verstoß gegen
ein übergreifendes normatives Handlungsprinzip. Dieses „principle of continence“ verlangt vom Akteur, dass er diejenige Handlung auch durchführt, die er auf der Basis aller
verfügbaren Gründe („all things considered“) als die beste bewertet.2 Der Willensschwache handelt nach Gründen, allerdings ohne seine Handlung in Relation zur Gesamtheit seiner Überzeugungen und Wünsche zu setzen. Er trennt sie vielmehr von dieser
Gesamtheit ab, indem er sie sans phrase als wünschenswert betrachtet. Das principle of
continence ist dann ein handlungstheoretischer Imperativ (analog dem kategorischen
Imperativ), der intellektuelle Selbstbeherrschung verlangt insofern, als der Akteur jeweils
1
2
Platon 1991, 352d.
„Perform the action judged best on the basis of all available relevant reasons.“ Davidson 1980, 41.
das Handeln nach abgewogenen Gründen präferiert. Willensschwäche wird so zu einem
Problem der „Tugend“ des Akteurs, allerdings nicht in demjenigen Sinne, der im aristotelischen Begriff der Akrasie – wörtlich „Nicht-Herrschaft“, also Kontrollverlust –
angedeutet wird.3 Willenschwäche setzt nicht Leidenschaft voraus, sondern eine irrationale, d.h. nicht wohlbegründete Handlungspraxis. Das Kontinenzprinzip verlangt dagegen
intellektuelle Kontrolle der Gründe, nach denen man handelt. Willensschwäche wird so
von psychologischen Motiven abgetrennt und kann, wie Davidson glaubt, sogar darin
bestehen, dass eine Handlung aus Pflicht gegen ein Vergnügen, das all things considered
die bessere Wahl wäre, begangen wird.4
Nach Wolf (1985) ist Davidsons Konzept der Akrasie gegenüber der platonischen
Erklärung der Willensschwäche ein Rückschritt. Während der platonische Willensschwache immerhin das tut, was unter den Vorgaben seiner epistemischen Kurzsichtigkeit das Bessere ist, kann der Akratiker Davidsons keinen Grund mehr angeben, weshalb er gerade diese und nicht eine andere Handlung wählt. Die Entscheidung sans
phrase ist im Grunde willkürlich, so dass die daraus resultierende Handlung auch nicht
als intentional, und also (nach dem geläufigen Begriff der Handlung) gar nicht als
Handlung beschrieben werden kann. Damit geht noch ein anderes wesentliches Kennzeichen der Akrasie, die Widersprüchlichkeit des Verhaltens, verloren. Eine Handlung
kann nämlich nur dann als akratisch im eigentlichen Sinne gelten, wenn die Relativität
der Gründe dem Akteur bewusst ist, wenn er also weiß, dass er nach den eigenen Maßgaben anders handeln sollte. Willensschwäche ist konzeptuell von einfacher Selbsttäuschung klar unterschieden. Sie enthält also als ein selbstreflexives Moment das Bewusstsein der „besseren Möglichkeit“ – ein Merkmal, das sich oft in Gefühlen von
Scham oder Schuld, oder in widerstrebenden Intuitionen äußert.5
Nach der sokratischen Erklärung der Willenschwäche handelt der Akratiker wohl auf
der Basis der scheinbar besseren Gründe, akzeptiert also das Kontinenzprinzip. Mit der
willensschwachen Handlung verstößt er jedoch gegen seine langfristigen Interessen. Es
reicht nun aber nicht aus, ihm einen solchen Verstoß nachzuweisen, vielmehr muss der
willensschwache Akteur selbst längerfristige Interessen und Handlungsrichtlinien für
sich festgelegt haben, zu denen die einzelne Handlung in Widerspruch stehen kann. Da
diese evaluativen Vorgaben die Art und Weise definieren, wie der Akteur sein will, kann
man sie als das Selbstbild des Akteurs verstehen. Nun ist ein solches Selbstbild nur soviel wert, wie es sich in konkreten Handlungen realisiert. Jede einzelne Handlung, die
3
4
5
Dies ist nicht genau richtig, da Aristoteles akrasia nicht als Laster betrachtet. (NE 1145b1) Der Willensschwache ist zumindest nach einer seiner Erklärungen nur eingeschränkt urteilsfähig ist, etwa wie der
Betrunkene. Er hat zwar den Habitus, der im Kontext erforderlich wäre, aber wendet ihn nicht an, er
macht „Worte, wie ein Schauspieler auf der Bühne“. (NE 1147a1ff.)
Austin hatte bereits darauf hingewiesen, dass Willensschwäche mit kühler Überlegung und finesse
einhergehen kann. (Austin 1961, 146)
Hookway 2001.
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dem Bild widerspricht, modifiziert dieses Bild dann in einer unerwünschten Richtung.6
Dass eine Person in diesem oder jenem Fall nicht entsprechend diesem Selbstbild handelt,
müsste ihr zeigen, dass sie sich missverstanden hat, dass sie tatsächlich nicht diejenige
ist, die sie sein wollte.7 Ihre scheinbar besten Gründe werden durch die akratische
Handlung zu nur temporär gültigen, sekundären Gründen degradiert. Die Beschreibung
„der Vielen“, wonach sie von den Leidenschaften quasi hinterrücks an der Ausübung
ihrer edlen Ziele gehindert werden, versucht, diese Einsicht zu umgehen. Dadurch, dass
der Akteur seine akratische Handlung als Willensschwäche beschreibt, bleibt der Wille
selbst unangetastet. Das Phänomen der Akrasie enthält deshalb konzeptuell einen Aspekt
der Selbsttäuschung zweiter Stufe: der Täuschung über die eigenen handlungsleitenden
Prinzipien oder die eigene Person.
2. Praktische vs. epistemische Akrasie
Praktische Akrasie ist Gegenstand alltäglicher Erfahrung: Fritz hatte sich vorgenommen,
vor dem Frühstück zu joggen, er weiß, dass es im Lichte seiner Überlegungen und Pläne
das Beste wäre, aber dennoch tut er es nicht. Frieda hatte beschlossen, einen größeren
Betrag an das Rote Kreuz zu spenden, aber aus diesen und jenen Gründen kommt es
nicht dazu. Fridolin wollte seine Eifersucht bezwingen, aber schon wieder späht er seine
Frau aus etc. Minimiert man an solchen Beispielen den Anteil praktischer Handlung,
dann gehen sie mehr oder weniger in den Bereich kognitiver Überlegung über. Fritz
kann sich nicht dazu bringen, täglich ein Gedicht auswendig zu lernen, obwohl er sich
dies als Gedächtnistraining vorgenommen hatte. Frieda kann keine positive Einstellung
gegenüber Geldspenden in sich erzeugen, obwohl ihre moralischen Überzeugungen sie
dazu verpflichten. So sehr Fridolin auch Gründe für die Treue seiner Frau anführt, er
kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass sie ihn betrügt. Sind dies noch eindeutig
Fälle praktischer Willensschwäche, oder muss man annehmen, dass es darüber hinaus
auch theoretische oder epistemische Willensschwäche gibt?
Epistemische Willensschwäche müsste man strikt analog etwa so konstruieren: Fritz
hatte sich vorgenommen, eine bestimmte Proposition zu glauben; er weiß, dass dies im
Lichte seiner Überlegungen und Pläne das Beste wäre, aber dennoch glaubt er die Proposition nicht. Diese Beschreibung zeigt schon die Schwierigkeiten, auf die jede Analogie
stößt: Kann man sich vornehmen, etwas zu glauben? Macht es Sinn von „Glaubens-
6
7
Die Beobachtung, dass eine Handlungspraxis sich in gewissem Sinne nicht selbst widersprechen kann,
hat auch Wittgenstein in seinen Überlegungen über das Regelfolgenproblem formuliert. So schreibt er
in § 201 der Philosophischen Untersuchungen nach der Darstellung des sog. Regelparadoxes, dass „es
eine Auffassung der Regel gibt, die nicht eine Deutung ist; sondern sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir „der Regel folgen“, und was wir „ihr entgegenhandeln“ nennen.
Wolf 1985.
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schwäche“ zu reden?8 Sind Überzeugungen Willensakte oder überhaupt willentlichem
Einfluss zugänglich? Obwohl in den letzten Jahren eine Reihe von Ansätzen zu einer
dianoetischen Ethik entwickelt wurden9, ist das Phänomen der epistemischen Akrasie
immer noch umstritten und solche Fragen werden häufig gerade im Kontrast zum Phänomen praktischer Willensschwäche verneint. So gewinnt Davidson sein Kontinenzprinzip aus einem Prinzip induktiver Überlegung (requirement of total evidence for inductive reasoning), das Carnap und Hempel gefordert hatten. Das Prinzip verlangt, diejenige Hypothese für wahr zu halten, die von allen verfügbaren und relevanten Belegen
gestützt ist.10 Obwohl Davidson sein Kontinenzprinzip für praktisches Handeln für
sinnvoll hält, bezweifelt er im selben Zusammenhang, dass die eigenen Überzeugungen
willentlich derart gesteuert werden können, dass man nur die am besten belegten Überzeugungen für wahr hält, dass also das Carnap-Hempel-Prinzip anwendbar ist.
Gibt es nun epistemische Willensschwäche? Die oben genannten Fälle werden im
allgemeinen der praktischen Willensschwäche zugeschlagen, weil die Person sich hier
nicht dazu bringen kann, einen bestimmten Zustand in sich zu erzeugen.11 Diese Einschränkung macht den Spielraum für epistemisch-akratische Handlungen sehr klein. Wie
steht es aber etwa mit dem folgenden Fall: Ein Richter hat hinreichende Evidenz dafür,
dass ein Angeklagter, den er schon auf dem besten Weg glaubte, wieder gestohlen hat,
aber er glaubt es trotzdem nicht; vielmehr ist er, entgegen der überwältigenden Evidenz
für das Gegenteil, von der Unschuld des Angeklagten überzeugt. Wie bei der praktischen
Akrasie mögen auch hier psychologische Gründe („die Leidenschaften“) eine Rolle
spielen, etwa das Vertrauen in die Person, die Weigerung, sich selbst als fehlbar zu betrachten, die mögliche Beeinträchtigung der eigenen Reputation etc. Aber ebenso wie
im Fall praktischer Akrasie sind solche Fälle nicht Beispiele von Willensschwäche sondern von einfacher Selbsttäuschung. Lässt sich das Beispiel aber so konstruieren, dass der
Richter ohne (einfache) Selbsttäuschung glaubt, dass der Angeklagte unschuldig ist, oder
allgemeiner: gibt es Fälle, in denen ein epistemisches Subjekt, ohne unter irgendeinem
psychologischen Zwang zu stehen und im Besitz p widersprechender Informationen,
dennoch p glaubt?
Damit dies möglich ist, scheint es notwendig, zwischen einer Information und dem
Urteilen, dass die Information wahr ist, zu unterscheiden. Das bloße Verfügen über Information darf nicht schon konzeptuell das Urteil über deren Wahrheit enthalten, sonst
8
9
10
11
Vgl. das Konzept religiöser Glaubensstärke, beschrieben etwa von Paulus in Bezug auf Abraham: „Und
nicht schwach im Glauben, sah er seinen eigenen, schon erstorbenen Leib an, da er fast hundert Jahre
alt war, und das Absterben des Mutterleibes der Sara und zweifelte nicht durch Unglauben an der Verheißung Gottes ….“ (Römerbriefe 4.19f.). Dazu auch Cottingham 2002.
Sosa 1991, Fairweather/Zagzebski 2001, Montmarquet 1993, Zagzebski 1996.
Davidson 1969, 41.
Owens 2002 betrachtet z.B. nur „judgements about what it would be reasonible for me to believe, not
[…] judgements about which beliefs it would be reasonable for me to cause or induce in myself.”
(395, Fußnote 1)
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scheint epistemische Willensschwäche in der Tat unmöglich. Nur wenn sich eine Schere
zwischen Überzeugungen verschiedener Typen öffnen lässt, kann man bestimmte Urteile
von sich selbst fordern und dann auch bezüglich dieser Urteile „schwach“ werden.12
Die Frage, wie eine solche Unterscheidung sinnvoll ausbuchstabiert werden könnte, wird
uns im Folgenden etwas ausführlicher beschäftigen.
Ein Hinweis, wie eine solche Unterscheidung aussehen könnte, findet sich schon im
praktischen Syllogismus des Aristoteles. Hier heißt es:
Man kann sich die Ursache der Erscheinung, die uns beschäftigt, auch in folgender Weise klarmachen. Die eine das Handeln bestimmende Meinung ist allgemein, die andere geht auf das einzelne, das als solches der sinnlichen Wahrnehmung untersteht. Wird nun aus den beiden Meinungen
durch logische Verknüpfung eine, so muss die Folgerung da, wo es sich bloß um die Erkenntnis
handelt, von der Seele bejaht, dagegen im Praktischen sogleich in die Handlung übersetzt werden.13
Obgleich Aristoteles im Anschluss an diese Stelle nur den praktischen Fall diskutiert,
lässt sich auch der theoretische, das „Bejahen“ der Folgerung, als Handlung verstehen,
die der Willenschwäche unterliegen könnte.14 Eine solche Trennung zwischen dem bloßen hypothetischen Erwägen und einem ausdrücklichen Urteil kennt etwa auch Frege,
der das Urteil deshalb explizit durch den Urteilsstrich auszeichnet.15 Dabei ist hier nicht
die Rede davon, dass das Subjekt einen Schluss aus gegebenen Prämissen nicht zieht,
sondern die Folgerung nicht bejaht und das Gegenteil glaubt. Um die Analogie zum
praktischen Fall vollständig zu machen, muss der Akratiker zudem die nicht bejahte
Meinung nicht nur erwägen, sondern wissen, dass er sie für wahr halten sollte. Er müsste, wie Hookway (2001) betont, aufrichtig sein in seiner Überzeugung, dass es bessere
Gründe für nicht-p anstatt für p gibt. Hier aber kehrt der Zweifel an der Möglichkeit
epistemischer Akrasie in voller Schärfe zurück: Es galt ja schon für praktische Maxi-
12
13
14
15
Zur Möglichkeit willentlicher Kontrolle von Überzeugungen (doxastic voluntarism) vgl. die Beiträge
in The Monist 85 (2002).
Aristoteles NE, 1147a20ff.
Die einfachste Antwort auf die Frage, ob es epistemischer Willensschwäche gibt, lautet entsprechend,
dass Überzeugungen auf Überlegungsprozesse zurückgehen, die selbst Handlungen sind. (Hookway
2001)
Den Urteilsstrich führt Frege zuerst in „Über Funktion und Begriff“ ein. Er soll die „behauptende
Kraft“ ausdrücken, mit der ein Urteil gefällt wird. Als Frege von Philip Jourdain gefragt wird, ob er
das Behaupten als bloß psychologisch betrachte, antwortet er: „Gewiß ist ein Urteilen (das als wahr
Anerkennen) ein innerer seelischer Vorgang; aber daß etwas wahr ist, ist unabhängig vom Erkennenden, ist objektiv. Wenn ich etwas als wahr behaupte, will ich nicht von mir sprechen, von einem Vorgang in meiner Seele. Und um es zu verstehen, braucht man nicht zu wissen, wer es behauptet. … Ein
Satz, der ohne behauptende Kraft ausgesprochen wird, kann logisch brauchbar sein, obwohl er einen
falschen Gedanken ausdrückt, z.B. als Teil (Bedingungssatz) eines anderen Satzes.“ (Frege 1976,
Brief XXI/12 an Jourdain (Januar 1914)). Es geht hier also nicht nur um einen psychologischen, sondern um einen logischen Unterschied.
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men, dass sie sich in Handlungen realisieren müssen. Was zeichnet aber eine aufrichtige
Überzeugung aus, wenn sie sich nicht in Urteilshandlungen manifestiert?
3. Was ist epistemische Willensschwäche?
Unterscheidet man nicht zwischen verschiedenen Urteilsarten, dann zeigt sich die Aporie epistemischer Akrasie unmittelbar in der Analogie zur praktischen Willensschwäche.
Definiert man nämlich praktische Akrasie wie in
(A) Eine Person handelt praktisch akratisch, wenn sie bewusst und überlegt eine
Handlung wählt, die sie für die schlechtere hält. (= Handeln wider bessere Überzeugung),
dann wäre epistemische Akrasie wie in (E) zu konstruieren:
(E)
Eine Person denkt epistemisch akratisch, wenn sie bewusst und überlegt eine Proposition glaubt, die sie für falsch hält. (= Glauben wider bessere Überzeugung)
Die Formulierung (E) ist dann paradox, insofern Glauben mindestens Für-wahr-Halten
impliziert. (E) lässt sich deshalb als Standardeinwand gegen den Begriff epistemischer
Akrasie lesen: man kann nicht etwas glauben, das man für falsch hält. Man beachte jedoch, dass dieser Einwand ebenfalls in strikter Analogie zum sokratischen Paradox der
praktischen Willensschwäche erwidert werden kann. Das sokratische Paradox in Bezug
auf praktische Handlung zeigte ja nicht, dass es Willensschwäche nicht gibt, sondern
dass das Phänomen anders zu beschreiben ist, als es die folk psychology vorgibt. Analog
muss (E) zu einer Neubeschreibung epistemischer Willensschwäche führen. Sie kann
z.B. einen Unterschied zwischen verschiedenen Bewertungsebenen einführen, etwa in
der folgenden Weise:
(H) Eine Person A handelt epistemisch akratisch, wenn A eine Proposition p akzeptiert und wenn A gleichzeitig akzeptiert, dass es falsch ist, p zu akzeptieren.16
Hier steht nicht mehr der Glaube, dass p wahr ist, dem Glauben, dass p falsch ist gegenüber; vielmehr steht der Glaube, dass p wahr ist unter einem Meta-Urteil, das, wie Frege
sagen würde, „die Berechtigung zur Urteilsfällung“ bestreitet. Dies kann auf verschiedene
Weisen geschehen.17 Die vielleicht einleuchtendsten Fälle sind solche, die gleichzeitig
nicht als rein epistemisch-akratisch gelten können. Wer Lotto spielt oder das Zeitungs16
17
Hookway 2001.
Obwohl die Phänomene epistemischer Akrasie zahlreich und vielfältig sind, und häufig in solche
praktischer Akrasie übergehen, soll im Folgenden versucht werden einen Kern rein epistemischer Willensschwäche zu isolieren. Dies wird oft versäumt (s. etwa Zagzebski 1996, 154ff.) mit der Folge,
dass die besondere Rolle dianoetischer gegenüber ethischer Tugend verloren geht.
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horoskop überfliegt, erlaubt sich oft nur ein temporäres Urteil, das er auf einer rationalen Metaebene gleichzeitig verwirft. Solche Beispiele sind nicht rein akratisch insofern,
als entweder der Metabewertung nicht ein wirkliches Fürwahrhalten gegenübersteht
(„Ich glaube ja nicht wirklich an Horoskope“) oder dem Fürwahrhalten („Ich glaube,
dass ich gute Chancen habe, zu gewinnen“) keine wirkliche Metakritik. Reine Fälle
epistemischer Akrasie müssten aber beide Aspekte enthalten.
Schwieriger zu beurteilen sind Fälle, in denen eine Proposition als wahr akzeptiert
wird, während gleichzeitig die Urteilsgenese verworfen wird. Obwohl Frieda weiß, dass
Gerüchte unzuverlässig sind, glaubt sie dennoch auf Grund eines Gerüchts, dass Fritz
ein Betrüger ist. Es ist nicht ganz einfach, diesen Fall als echt akratisch zu konstruieren.
Frieda mag etwa eher „unbewusst“ an Fritzens Schuld glauben, aber nach gründlicher
Überlegung erkennen, dass der Glaube unbegründet ist. Oder aber Frieda glaubt wirklich, dass Fritz ein Betrüger ist, täuscht sich aber über ihre Gründe. Wirklich akratisch
wäre die Überzeugung nur, wenn sie gleichzeitig mit dem Verwerfen ihrer Genese vorkommt. Aber selbst dann ließe sich noch eine Versöhnung herstellen, indem Frieda etwa
das Gerücht, wenn es auch als solches unzuverlässig ist, als Hinweis auf die Wahrheit
betrachtet, der mit korrekteren Informationswegen einigermaßen konkurrieren kann.
Die Schwierigkeiten, überhaupt eindeutige Fälle epistemischer Akrasie zu beschreiben, haben dazu geführt, die Kriterien aufzuweichen und Fälle von Selbsttäuschung
zuzulassen.18 Die Phänomenologie epistemischer Willensschwäche umfasst dann eine
große Familie unterschiedlicher Erscheinungsformen kognitiver „Schwächen“, in denen
kein eindeutiger Fall mehr identifizierbar ist. Es ist deshalb sinnvoll, hier wie im Fall
der praktischen Akrasie Selbsttäuschung erster und zweiter Stufe zu unterscheiden.
Selbsttäuschung erster Stufe (hier „einfache Selbsttäuschung“) betrifft die Handlung
oder Überzeugung, die der Akteur entgegen seiner besseren Überzeugung präferiert.
Der Handelnde weiß dabei nicht, was er tut oder denkt, ist sich also der Bedeutung seiner
Handlung oder Überzeugung nicht bewusst. Das Bewusstsein kann sich auch in Intuitionen oder Gefühlen manifestieren. Solche Fälle fallen nicht unter das lebensweltliche
Konzept der Willensschwäche, denn der Willensschwache ahnt wenigstens, was er nicht
tun sollte, während der Selbstbetrüger an die Richtigkeit seiner Überzeugung glaubt.
Dagegen ist Selbsttäuschung zweiter Stufe geradezu kennzeichnend für Akrasie. In der
akratischen Überzeugung verstößt der Willensschwache gegen die Prinzipien und Intentionen, die sein Handeln leiten, täuscht sich also über sich selbst im eigentlichen Sinne.
Wer etwa nur gut belegten Aussagen glauben möchte, dann aber auf Gerüchte hört oder
Vorurteilen folgt, will nicht wirklich der verbürgten Evidenz folgen. Es gilt ja, im Sinne
Kants, dass, wer den Zweck will, ihn will unter „Aufbietung aller Mittel, so weit sie in
unserer Gewalt sind“.19 Der willensschwache Akt ist dann Kennzeichen dafür, dass der
Zweck nicht gewollt ist. Eben im Vermeiden dieser Erkenntnis durch Abspaltung des
willensschwachen Gedankens besteht dann die eigentliche Selbsttäuschung des epistemischen Akteurs.
18
19
Zagzebski 1996, 154.
Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 394, s.a. IV 419.
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Noch eine andere Abgrenzung ist wesentlich, damit die Idee der epistemischen Akrasie Kontur gewinnt. Es gibt übergeordnete praktische Lebensziele oder Prinzipien, die
epistemische Form annehmen können, etwa das Prinzip, von niemandem Schlechtes zu
glauben oder religiöse Dogmen nicht rational zu prüfen. Im Licht solcher Selbstverpflichtungen ist es dann willensschwach, von jemandem, der offenbar ein Übeltäter ist,
schlecht zu denken oder eine Überzeugung zu prüfen. Im Folgenden betrachte ich solche
Überzeugungen nicht als epistemisch, sondern als praktisch akratisch, indem ich den
Bereich, in dem epistemische Willensschwäche überhaupt vorkommen kann, eng begrenze: er soll nämlich nur solche kognitiven Akte umfassen, in denen es um die Wahrheit der Überzeugungen geht oder in denen Wahrheit konstitutives Ziel der Überlegung
ist.20 Die übergeordneten Überzeugungen, mit denen ein Glaube-dass-p dann in Widerspruch tritt, müssen gleichfalls wahrheitsintendierende Überzeugungen sein, also Strategien, mit denen das Subjekt zwischen wahr und falsch unterscheiden will. Epistemische
Akrasie betrifft dann nur solche Fälle, in denen ein Bruch zwischen Überzeugungen
einerseits und solchen auf Wahrheit abzielenden Strategien eintritt. Gesucht sind also
Beispiele, in denen folgende Bedingungen erfüllt sind:
(W) Eine Person denkt epistemisch akratisch, wenn sie (i) glaubt, dass p wahr ist, und
(ii) gleichzeitig glaubt, dass p ihren eigenen wahrheitsintendierenden Standards
nicht genügt, und (iii) damit einer Selbsttäuschung zweiter Stufe unterliegt.
4. Zwei Arten des Glaubens
Man könnte versucht sein, eine Unterscheidung zwischen Urteilstypen nicht durch Einführung einer Metaebene wie in (W), sondern durch einen qualitativen Unterschied zu
begründen. Es scheint ja zunächst, dass das Konzept epistemischer Akrasie eine Variante
von Moore’s Paradox („p, aber ich glaube es nicht“) fordert, die dennoch eine psychologische Möglichkeit sein müsste, damit sie dem Phänomen der Willensschwäche gerecht wird. Nun ist es allerdings so, dass Moore’s Paradox sinnvolle Anwendungsfälle
hat, etwa
(L)
Ich habe eine Million im Lotto gewonnen, aber ich kann es nicht glauben.
Dies ist eine sinnvolle Aussage, die etwas über den epistemischen Zustand des Sprechers
in Bezug auf die Tatsachen verrät. Man könnte den Sinn von (L) als Kollision zweier
verschiedener propositionaler Einstellungen beschreiben. In diesem Sinne haben Lehrer
u.a. etwa zwischen „belief“ (Glaube) und „acceptance“ (Akzeptanz) unterschieden, ähnlich wie ja auch die oben angeführte Beschreibung (H) zwischen einem Akzeptieren im
Sinne des Fürwahrhaltens und einem ausdrücklichen Akzeptieren der Urteilsgenese
trennt.21 Die Unterscheidung zwischen belief und acceptance bezieht sich allerdings
20
21
Hookway 2001, Velleman, „On the Aim of Belief“, in Velleman 2000, 244-282.
Zu den im folgenden dargestellten qualitativen Unterscheidungen vgl. Church 2002.
722
nicht auf die logische Urteilsstruktur, sondern auf die Urteilsqualität, und zwar im folgenden Sinne. Man kann eine Aussage als gut begründet oder als Prämisse von Schlussfolgerungen annehmen, ohne auch schon mit ihr ein Erlebnis fester Überzeugung zu
verbinden. Glauben-dass-p ließe sich als ein solches qualitatives Erlebnis beschreiben,
das der bloßen „acceptance“ einer Proposition fehlt. In diesem Sinne erklärt sich, weshalb das Lottobeispiel (L) nicht paradox ist: Ich weiß zwar, dass ich im Lotto gewonnen
habe, weil ich die entsprechende Evidenz vor mir habe (der Mann mit dem Geldkoffer
steht vor mir, ich akzeptiere die Fakten), aber mir fehlt das entsprechende Glaubensquale, das die Proposition erst zu einer wirklichen Überzeugung macht.
Auch andere Beispiele epistemischer Akrasie ließen sich so erklären: der Richter, der
an die Unschuld des Angeklagten trotz überzeugender Beweise für das Gegenteil
glaubt, erlebt ein Glaubensgefühl in bezug auf die Unschuldsvermutung, obwohl er die
Beweise für die Schuld des Angeklagten akzeptiert. Eine solche Beschreibung im Sinne
verschiedener Erlebnisse lässt aber gleichzeitig das gesuchte Phänomen verschwinden.
Denn man könnte nur dann von Willensschwäche sprechen, wenn das Glaubensgefühl
nicht lediglich die Proposition begleitet, sondern handlungsmotivierend wäre, also zu
einem entsprechenden Urteil führen würde.22 Der Richter kann ungeachtet seiner Gefühle die Beweise gegeneinander abwägen und zu einem ausgewogenen Urteil gelangen, oder aber „der Leidenschaft“ (hier dem Glauben) folgen – damit wären wir aber
wieder bei der Meinung „der Vielen“, die sich als unhaltbar erwiesen hatte. Weshalb
nämlich sollte der Richter dem Glaubensgefühl folgen, wenn nicht deshalb, weil er dies
für das Beste hält? Dann aber akzeptiert er die Schuldbeweise der Gegenseite nicht, so
dass von Willensschwäche keine Rede sein kann. Die Unterscheidung zwischen acceptance (sozusagen als einem Hirnzustand) und belief (sozusagen als dem Urteil des Herzens) erscheint also für die Erklärung epistemischer Akrasie ebenso wenig hilfreich wie
die Unterscheidung von Wille und Leidenschaft im Bereich praktischen Handelns.23
Anstatt zwei Qualitäten des Glaubens zu postulieren, scheint es deshalb eine vielversprechendere Strategie, wie in (W) zwischen Überzeugungen erster und Überzeugungen
zweiter Stufe zu unterscheiden, analog etwa zu Frankfurts Unterscheidung zwischen
Wünschen und Werten.24 Gewöhnliche Überzeugungen sind von der Art, dass wir etwas
für wahr halten, und zwar in dem Sinne, dass wir glauben, dass die Dinge im wesentlichen so und so sind. Dagegen handeln Überzeugungen zweiter Ordnung von unseren
Standards, die Überzeugungen erster Ordnung erfüllen sollten oder von den Weisen wie
wir richtige Überzeugungen gewinnen. Epistemische Willensschwäche besteht dann
darin, dass zwischen beiden Arten von Überzeugungen ein Bruch auftritt, dass wir also
22
23
24
Das Gefühl der Begierde begleitet ja regelmäßig Versuche, einer Sucht Herr zu werden, ohne dass das
Vorkommen der Gefühle allein schon dazu berechtigen würde, Willensschwäche zu attribuieren.
Ein anderes, im praktischen Fall vorgebrachtes Argument, würde auch für den epistemischen gelten:
Ist die mögliche Handlung (Überzeugung) dem Willen (der Akzeptanz), die tatsächlich vollzogene
Handlung (Überzeugung) aber der Leidenschaft (dem Glauben) zuzuschreiben, und sind beides verschiedene intentionale Zustände, dann kann kein echter Konflikt statthaben.
Frankfurt 1971. Wie Cottingham 2002 zeigt, hat diese Unterscheidung eine lange Tradition.
723
etwas für wahr halten, das unseren Standards zweiter Ordnung nicht gerecht wird.
5. Ist epistemische Willensschwäche möglich?
Dass epistemische Willensschwäche im bisher eingegrenzten Sinne möglich ist, hat vor
allem Williams (1973) bestritten.25 Sofern nämlich gegen interne wahrheitsintendierende
Standards verstoßen werden kann, scheint belief eine Sache der Entscheidung und der
freien Willkür zu sein. Auch praktische Akrasie setzte ja Autonomie des Akteurs voraus. Sind wir aber bezüglich unserer Überzeugungen tatsächlich autonom? Bernard Williams glaubt, dass das Konzept des Glaubens selbst einen epistemischen Dezisionismus
ausschließt. Könnten wir uns nämlich entscheiden, etwas zu glauben, dann könnten wir
uns dazu unabhängig davon entscheiden, ob es wahr ist oder nicht. Aber das Konzept
des Glaubens enthält eine externalistische Bedingung – das konstitutive Ziel von Wahrheit-als-Korrespondenz – so dass wir nicht glauben könnten, dass wir p glauben, wenn
wir versuchen würden, p willentlich zu glauben.
If I could acquire a belief at will, I could acquire it whether it was true or not; moreover, I would
know that I could acquire it whether it was true or not. If, in full consciousness I could will to acquire a “belief” irrespective of its truth, it is unclear that before the event I could seriously think of
it as a belief, i.e. as something purporting to represent reality.26
Gerade in diesem Punkt scheint also der Unterschied zwischen epistemischen und praktischen Handlungen begründet zu sein. Wohl können wir willentlich alles mögliche tun,
aber nicht willentlich alles mögliche glauben, weil wir bezüglich unserer praktischen
Handlungen autonom sind, bezüglich unserer Überzeugungen aber nicht. Ist es also widersinnig anzunehmen, dass eine Person auch anderes hätte glauben können oder, wie
im Fall der epistemischen Akrasie, nach ihrem eigenen Urteil sogar hätte glauben sollen, als sie tatsächlich glaubt?
Einige Tatsachen unseres kognitiven Umgangs sprechen gegen eine solche starke
Asymmetrie zwischen praktischem Handeln und Überlegung. So kritisieren wir Andere
wegen ihrer Überzeugungen, und zwar auch im moralischen Sinne. Wir halten ihnen
etwa vor, dass ihre Glaubensinhalte rassistisch oder blauäugig, naiv oder abergläubisch
seien, behandeln also Überzeugungen gerade so wie Handlungen als etwas, das der
Kontrolle epistemischer Subjekte unterliegt und für das sie verantwortlich sind. 27
Zum Zweiten sind Mittel und Wege, die eigene Meinungsbildung zu manipulieren,
hinreichend bekannt. Selbst Williams diskutiert einige eher fernliegende „roundabout
routes“ wie die Möglichkeit, sich mittels Hypnose von einer Meinung zu überzeugen,
die man ablehnt. „Er verschließt die Augen vor den Tatsachen“, „Sie weigert sich, den
letzten Schluss zu ziehen“, „Du willst einfach nicht in die Einzelheiten gehen“, sind
25
26
27
Siehe vor allem Kap. 9, „Deciding to believe“.
Williams 1973, 148.
Heil 1984.
724
Vorwürfe, die gewisse kognitive Strategien benennen, die dazu dienen, Erkenntnissen
aus dem Weg zu gehen. Dass das konstitutive Ziel der Wahrheit erreicht wird, hängt
davon ab, wie man auf die Tatsachen zugreift, wie man sie gegeneinander abwägt und
welchen von ihnen man im Zweifelsfalle Priorität zumisst. Der Erwerb einer Überzeugung hat also mit komplexen Prozessen der Aufmerksamkeit, des Interesses und der Bewertung von Fakten zu tun, die zumindest teilweise unter der Kontrolle des epistemischen
Subjekts stehen.
Das führt allerdings zurück zur Unterscheidung zwischen Genese und Inhalt von Überzeugungen. Williams’ Argument würde sich zurückweisen lassen in Bezug auf die Genese von Überzeugungen, während deren Inhalt selbst externalistisch bestimmt und deshalb
nicht dem Zugriff des Subjekts zugänglich wäre. Wie schon gezeigt wurde, lässt sich
aber epistemische Akrasie in Bezug auf den Überzeugungserwerb zwanglos als praktische Akrasie beschreiben, der Begriff epistemischer Willensschwäche hätte also keinen
Umfang. Das Argument gilt jedoch nur, insofern man Überzeugungen als durch Tatsachen bestimmt betrachtet, und dies ist abhängig davon, welche Form des Externalismus
zugrunde gelegt wird. Die Unterschiede zwischen physikalischem und sozialem, zwischen starkem und schwachem, und zwischen Type- und Token-Externalismus lassen
jedoch genügend Raum für die Annahme, dass Inhalte nicht durchweg extern bestimmt
sind.
Es scheint jedoch, dass Williams’ Argument von einer externalistischen Bedeutungstheorie unabhängig ist, da es sich auf einen rein formalen, konstitutiven Aspekt des
Glaubensbegriffs stützt. Glauben-dass-p heißt immer auch schon Glauben-dass-p-wahrist, und zwar in einem aristotelischen Sinne: wer glaubt, dass p wahr ist, glaubt, dass es
sich tatsächlich so verhält, wie p sagt. Dann aber verliert Williams’ Argument seinen
Biss, denn nun müssen zwei Lesarten unterschieden werden. Angenommen, Frieda will
glauben, dass Fritz unschuldig ist, dann will sie (1) dass es wahr ist, dass sich die Dinge
also so verhalten, dass er unschuldig ist. Sie will es also nicht glauben unabhängig davon,
ob es wahr ist oder nicht. Den Glauben an Fritzens Unschuld kann sie mit Hilfe geeigneter Strategien vielleicht in sich erzeugen, vorausgesetzt dass einige der involvierten Propositionen wahr und gleichzeitig extern bestimmt sind. Glauben-Wollen heißt dann soviel wie, nach geeigneten Rechtfertigungsstrategien suchen. Dies ist nicht aporetisch.
Williams’ Einwand scheint dagegen eine andere, und zwar die qualitative Auffassung des Glaubens vorauszusetzen. Wenn Frieda in diesem Sinne (2) glauben will, dass
Fritz unschuldig ist, dann versucht sie, ein gewisses Glaubensgefühl in sich zu erzeugen,
unabhängig davon, ob Fritz unschuldig ist oder nicht. Daran, so müsste man Williams
verstehen, muss sie notwendig scheitern, da der Versuch, das Glaubensgefühl unabhängig
von der Wahrheit der Proposition zu erzeugen, schon eine Art „Entfremdung“ von der
Proposition impliziert, die einem Zweifel an ihr gleichkommt. Es ist aber schon gezeigt
worden, dass die Unterscheidung zwischen Glaubensqualitäten für das Phänomen der
epistemischen Akrasie irrelevant ist. Um die Natur epistemischer Akrasie zu verstehen,
müssen wir uns also dem ersten Fall des willentlichen Glaubens und damit den wahrheitsintendierenden Strategien der Überzeugungsgewinnung zuwenden.
725
6. Wahrheitsintendierende Strategien
In seiner Kritik der Urteilskraft formuliert Kant einige „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ oder des sensus communis, die zum reflexiven Urteilsvermögen gehören und dem kategorischen Imperativ im praktischen Bereich übergeordnet sind.28 Sie
lauten:
1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.29
Kant spricht hier auch von „Denkungsarten“ und stellt die aufgeklärten Maximen einem
gewissen „Hang“ zur passiven Vernunft und der naturbedingten subjektiven Perspektive
des epistemischen Akteurs gegenüber. Insbesondere die zweite Maxime, die Kant auch
im vorausgehenden Text eigens anführt, lässt sich als eine epistemische Variante des
kategorischen Imperativs lesen.30 Schon aus diesem Zusammenhang ergibt sich der
normative Charakter der epistemischen Maximen, womit auch gleichzeitig ihre autonome Anwendbarkeit impliziert ist. Die Maximen des Gemeinsinnes zielen dabei auf
Wahrheit nicht im Sinne von Korrespondenz – die Korrespondenztheorie ist nur die
„Namenerklärung“ von Wahrheit31 – sondern in dem Sinne, dass ihre Anwendung
Wahrheit im Sinne objektiver Gültigkeit erst aktiv erzeugt. Insofern sind die extern bestimmten Erkenntnisse etwa durch Wahrnehmungsurteile, die der Verstand passiv und
beschränkt von seiner subjektiven Perspektive aufnimmt, nicht im objektiven Sinne
wahr. Trotz dieser besonderen Kantischen Wahrheitstheorie gehören solche Urteile aber
dennoch in den Kern dessen, was hier Gegenstand epistemischer Akrasie werden kann.
28
29
30
31
Dies ergibt sich daraus, dass die Anwendung des kategorischen Imperativs Urteilsvermögen und damit die genannten Maximen voraussetzt.
Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V 294.
Zur Beziehung zwischen Imperativ und Maxime s.u. Der ganze Textzusammenhang lautet: „Unter
dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurtheilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu
halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für
objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde. Dieses
geschieht nun dadurch, daß man sein Urtheil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß
mögliche Urtheile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den
Beschränkungen, die unserer eigenen Beurtheilung zufälliger Weise anhängen, abstrahirt: welches
wiederum dadurch bewirkt wird, daß man das, was in dem Vorstellungszustande Materie, d.i. Empfindung ist, so viel möglich wegläßt und lediglich auf die formalen Eigenthümlichkeiten seiner Vorstellung oder seines Vorstellungszustandes Acht hat. Nun scheint diese Operation der Reflexion
vielleicht allzu künstlich zu sein, um sie dem Vermögen, welches wir den gemeinen Sinn nennen,
beizulegen; allein sie sieht auch nur so aus, wenn man sie in abstracten Formeln ausdrückt; an sich ist
nichts natürlicher, als von Reiz und Rührung zu abstrahiren, wenn man ein Urtheil sucht, welches zur
allgemeinen Regel dienen soll.“ AA V 293f.
Kritik der reinen Vernunft, B 82.
726
Zwar sind nicht Wahrnehmungsurteile selbst schon akratisch; hat sich das Subjekt aber
einmal die Maximen des aufgeklärten sensus communis zu eigen gemacht, dann sind
„Verstöße“ gegen diese Denkungsart nach dem Muster von Wahrnehmungsurteilen
möglich, die sich als zugehörig zu anderen Denkstrategien qualifizieren. Kant nennt
etwa als negativen Gegenpol der ersten Maxime Vorurteil und Aberglaube, Gegenpol der
zweiten ist die Borniertheit oder geistige Beschränkung auf den subjektiven Standpunkt.
Verstöße gegen die dritte Maxime, die Fertigkeit in den beiden ersten voraussetzt, führen
zu Inkonsistenzen im Überzeugungssystem.
Anhand der Kantischen Beschreibung zeigt sich dann, wie epistemische Willensschwäche möglich ist. Hat ein Subjekt zwei Überzeugungen p und q durch autonomes
(Maxime 1) und generalisiertes Denken (Maxime 2), gewonnen, dann muss es deren
Übereinstimmung untereinander sowie mit dem übrigen Überzeugungssystem prüfen,
und gegebenenfalls (sofern p → ¬q) eine der beiden Überzeugungen aufgeben. Kant
weist darauf hin, dass Selbstkonsistenz eine der schwierigsten Aufgaben des sensus
communis und nur nach langer Übung zu erreichen ist; entsprechend wird es häufig genug vorkommen, dass Konsistenzprüfungen nicht nur trotz Anerkennung ihrer Notwendigkeit unterlassen werden (was ein Fall praktischer Akrasie wäre), sondern auch der
Nachweis der Inkonsistenz von p und q nicht zur Aufgabe einer beiden Überzeugungen
führt. Dies wäre also eine Instanz von (H): Der epistemische Akteur akzeptiert p, anerkennt aber gleichzeitig, dass er p entsprechend der selbstgestellten Konsistenzforderung
zurückweisen sollte.
7. Maximen und second-order desires
Es ist auffallend, dass Kant in seiner Exkursion in der Kritik der Urteilskraft von Maximen und nicht von einem kategorischen Imperativ der Vernunft spricht. Die genannten Maximen des sensus communis sind ja einem natürlichen „Hang“ entgegengesetzt
und müssten daher Ergebnis der Anwendung eines epistemischen Prinzips sein. Kant
kennt jedoch nur den kategorischen Imperativ der praktischen Vernunft (diesen allerdings in zahlreichen Formulierungen), den er zudem gerade als Kriterium der Abgrenzung praktischer von theoretischer Erkenntnis betrachtet.32 Inwiefern und unter welchen
Formulierungen der praktische Imperativ auch für Überzeugungen einsetzbar ist, kann
hier nicht weiter verfolgt werden; interessant ist aber ein zweites Merkmal der Exkursion, das auch von einer naheliegenden Kritik an der bisher dargestellten Auffassung epistemischer Akrasie berührt wird. Indem Kant die Maximen des Gemeinsinnes auch als
„Denkungsarten“ bezeichnet, unterscheidet er sie von bloßen Vorsätzen, selbst auferlegten Regeln oder externen Normen, die sich das epistemische Subjekt zu eigen macht.
32
Vgl. Logik, AA IX 86.
727
Sie sind eher als Denkstrukturen oder -strategien zu verstehen, die sich in den konkreten
epistemischen Prozessen realisieren.33
Dies erweist sich als hilfreich, wenn man Argumente vermeiden will, wie sie gegen
eine zweistufige Erklärung der praktischen Überlegung z.B. bei Frankfurt vorgebracht
wurden.34 Nach Frankfurt hat ein Akteur einen Wunsch zweiter Stufe, „either when he
wants simply to have a certain desire or when he wants a certain desire to be his will.“35
Ersichtlich ist Hookways Erklärung von epistemischer Akrasie in
(H) A akzeptiert eine Proposition p und A akzeptiert (gleichzeitig) dass es falsch ist, p
zu akzeptieren
an das Modell der second-order desires angelehnt. A denkt demnach (Symmetrie zwischen Akrasie und Selbstbeherrschung vorausgesetzt) nicht-akratisch oder kontinent,
wenn sie eine Proposition p akzeptiert und gleichzeitig akzeptiert, dass es richtig ist, p
zu akzeptieren. Gegen Frankfurt ist nun argumentiert worden, dass es kontinentes Verhalten ohne Wünsche zweiter Stufe gibt, ebenso wie der Akratiker „ohne Umschweife“,
d.h. ohne solchen Wünschen Widerstand zu leisten, sich willensschwach verhalten
kann.36 Das liegt daran, dass Wünsche als qualitative Zustände gegenüber der bloßen
Handlung überflüssig scheinen. Im Gegenteil scheint derjenige, der autonom seinen
Vorgaben gemäß handelt, ohne von einem Wunsch zweiter Stufe getrieben zu sein, sogar besonders willensstark.
Nun besteht nur schwache Analogie zwischen einem Wunsch zweiter Stufe und dem
theoretischen Akzeptieren, dass p richtig oder falsch ist. Letzteres ist, wie die Argumente
gegen Lehrer u.a. (s.o.) gezeigt haben, kein qualitativer Zustand, und selbst wenn er es
wäre, hätte die Erlebnisqualität keinen Einfluss auf das akratische Denken. Gleichzeitig
muss jede akratische Handlung oder Überlegung das Bewusstsein ihrer Falschheit in der
einen oder anderen Form enthalten. Dieses wird durch (H) im minimalen Sinne ausgedrückt. Der Einwand der Redundanz scheint also gegen (H) nicht vorgebracht werden
zu können.
33
34
35
36
Entgegen einer in der Literatur verbreiteten und von Kants Sprachgebrauch geförderten Auffassung
entspricht dieser Gebrauch von „Maxime“ dem in der praktischen Philosophie Kants. Maximen sind
dort als Handlungsstrukturen zu verstehen. Nur so erklären sich die Beispiele, die Kant für subjektive
Maximen nennt, „etwa die Maxime der Verwahrlosung der Naturgaben“ (AA IV 423); dies wird ausführlicher dargestellt in Verena Mayer, „Das Paradox des Regelfolgens in Kants Moralphilosophie“,
erscheint in Kantstudien 2005.
Frankfurt 1971, zur Kritik Mele 1992.
Frankfurt 1971, 10.
Mele 1992, 283ff.
728
Ein zweites Argument gegen second-order desires macht geltend, dass diese selbst
motiviert sein müssten, so dass ein Regress von höherstufigen Wünschen entstünde.37
Dieser Einwand gilt auch für (H). Wenn Frieda auf Grund von Gerüchten glaubt, dass
Fritz ein Betrüger ist und gleichzeitig akzeptiert, dass es falsch ist, eine Person auf
Grund von Gerüchten zu verurteilen, dann ist dies nur dann akratisch, wenn sie als Prinzip dritter Stufe akzeptiert, dass man in seinen Überlegungen immer den Prinzipien
zweiter Stufe folgen sollte. Frieda könnte ja kognitiv so strukturiert sein, dass ihre Überlegungen und ihre Prinzipien nicht zueinander passen oder voneinander „entfremdet“
sind. Gilt aber dies für Prinzipien zweiter Stufe, weshalb nicht auch für das Prinzip dritter
Stufe, so dass ein Regress von Überlegungsmaximen entstünde, die allesamt wirkungslos blieben, wenn es um tatsächliche Überzeugungen ginge.
An dieser Stelle erweist es sich als sinnvoll, epistemische Maximen nicht als Regeln
zu betrachten, mit denen ein davon noch zu unterscheidender Akteur seine Überlegungen in Übereinstimmung bringt, sondern als Überlegungsstrukturen. Der vorurteilsfreie,
autonome und selbstkonsistente Akteur mag zwar auf diese Strukturen reflektieren und
sie sich als Maximen ins Bewusstsein rufen, seine aufgeklärte Denkungsart besteht aber
darin, dass er faktisch eben so denkt, wie es die Maximen beschreiben. Er realisiert den
sensus communis in seinem epistemischen Verhalten, ohne dass er noch einmal zwischen
Regel und Anwendung vermitteln müsste. Deshalb ist, wie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen sagt, „der Regel folgen“ eine Praxis.38 Dies ergibt sich auch
aus der Tatsache, dass eine Regel, die sich überhaupt nicht im Verhalten manifestiert,
nicht sinnvoll als Regel beschrieben werden kann. Sie wäre, mit den Worten Kants,
bestenfalls „ein leerer Wunsch“. Nur so erklärt sich, dass Kant Selbstkonsistenz nicht
etwa der Anwendung der Logik zuschreibt, sondern zu einer Sache der Übung erklärt,
die Autonomie und die Einnahme eines universellen Standpunktes voraussetzt.
8. Das Selbstbild des epistemischen Akteurs
Betrachtet man die epistemischen Maximen in dieser Weise als Überlegungsstrukturen,
dann scheint zunächst die Beschreibung epistemischer Akrasie im Sinne von (H) paradox
zu werden. A würde nun eine Proposition p glauben, gleichzeitig aber eine Überlegungsstruktur aufweisen, die p widerspricht, oder p wenigstens, wie im oben beschriebenen
Fall von Selbstinkonsistenz, nicht integrieren kann. Man hätte, mit anderen Worten, den
Fall einer Person, die dem kognitiven Verhalten, das sie grosso modo verfolgt, in einzelnen Überzeugungen widerspricht. Dies würde aber unmittelbar dazu führen, dass A’s
Überlegungsstruktur sich entsprechend ändert. Mit anderen Worten: jeder Fall von
scheinbarer Akrasie wäre tatsächlich eine Modifikation der Struktur, so dass das epistemische Subjekt immer als einheitlich erscheinen würde, und von Willensschwäche nicht
die Rede sein könnte. Es war dann also nicht so, dass der Wille des Akratikers schwach
37
38
Velleman 1992 diskutiert Frankfurts Modell unter der Frage, wo im Modell praktischer Handlungsrationalität der Handelnde steckt.
Wittgenstein 1984, § 202.
729
war; er war vielmehr gar nicht vorhanden, denn wie anders als in Handlungen hätte er
sich erweisen sollen? In gewisser Weise wiederholt sich hier das Sokratische Paradox,
wonach auch die willensschwache Handlung eine solche ist, in der der Akteur das jeweils
Beste tut.
Erneut stellt sich damit die Frage, wie es unter diesen Umständen zu den unleugbaren
Phänomenen kommt, die die folk psychology als Willensschwäche darstellt. Die Erklärung der praktischen Akrasie durch Wolf (1985) hilft auch hier weiter. Die Phänomene
zeichnen sich ja dadurch aus, dass die akratische Person das Bewusstsein einer Abweichung von gewissen Standards erlebt, zu denen sie sich durch ihr bisheriges Verhalten
verpflichtet hat. Das Gefühl von Scham oder Schuld, das mit akratischen Handlungen
oder Überlegungen verknüpft ist, zeigt dabei, dass die Person sich mit diesen Verpflichtungen identifiziert, dass sie ihnen die Funktion eines positiven Selbstbildes zumisst.
Mit ihrer akratischen Handlung gibt die Person dann zu erkennen, dass das Selbstbild
nicht zutrifft: die heldenhafte Nichtraucherin entpuppt sich als gewöhnliche Süchtige,
der Aufrichtige als Lügner, die Rationalistin als abergläubisch etc. Nur indem die Handlung oder Überlegung als willensschwach abgespalten und aus dem Korpus von Handlungs- und Rechtfertigungsstrukturen herausgelöst wird, kann das ursprüngliche Selbstbild aufrecht erhalten werden; dies aber zu dem Preis, dass der Akt selbst zu einem Rätsel
wird.
9. Rationale Tugend
Seit Davidson ist es üblich geworden, die Debatte über Willensschwäche aus dem moralischen Diskurs herauszuhalten, da das Phänomen (á la Davidson) offensichtlich so beschrieben werden kann, dass selbst moralische Akte als willenschwach gelten können.
Der Folterer, der einen Akt der Menschlichkeit begeht, handelt akratisch, wenn er gegen
seine „besseren Überzeugungen“ verstößt; ähnlich ist die Abergläubische epistemisch
willensschwach, wenn sie sich einem wissenschaftlichen Gegenbeweis beugt. Es ist
aber nicht einmal notwendig, dass eine langfristige Handlungsmaxime einer akratischen
Handlung entgegentritt, sondern es genügt, dass das Subjekt von zwei möglichen Gründen den wählt, den es als schlechter bewertet. So kann eine Handlung aus Pflicht gegen
den momentanen Wunsch, sich zu entspannen, akratisch sein.39 Diese Trennung von
Akrasie und Moral ist aber nicht mehr so eindeutig, wenn Akrasie als Modifikation eines
Selbstbildes beschrieben wird. Es scheint nämlich, dass im Sinne der folk psychology
nur dann von Willensschwäche die Rede ist, wenn sich ein „Wille“ in deutlichen Strukturen manifestiert. Die Rede von Willensschwäche im Zusammenhang mit Urteilen, die
der Handlung lediglich eine mögliche bessere gegenüberstellen, wäre dann ein philosophisches Kunstprodukt. Das „Bessere“, dem die akratische Handlung zu widersprechen
scheint, ist nicht ein atomares Urteil, sondern eine Lebensform, mit der sich der Akteur
identifiziert. Lebensformen allerdings sind nicht beliebig, sondern unterliegen sachlichen
und konzeptuellen Bedingungen, die sich z.B. in Begründungsstrukturen niederschlagen.
39
Davidson 1980, 30.
730
So lässt sich der kategorische Imperativ als der formale Rahmen begreifen, innerhalb
dessen sich eine Praxis autonomen Handelns aus der Idee der Freiheit heraus entwickeln
kann. In diesem Sinne unterliegen aber auch Überlegungsstrukturen, die sich als epistemische Maximen darstellen lassen, typischen konzeptuellen constraints. Der der Freiheit
entsprechende epistemische Grundbegriff ist dabei sicherlich die Wahrheit. Normative
Forderungen an epistemische Maximen oder an Überlegungsstrategien werden sinnvollerweise auf die Maximierung von Wahrheit abzielen, wie immer dies wahrheitstheoretisch dann realisiert werden mag.
Kants epistemische Maximen sind normativer Natur, indem sie einen bestimmten
Anspruch an die Rationalität des epistemischen Subjekts formulieren. Und zwar soll
dieses Subjekt nach Kant so denken, dass objektive Wahrheit im Sinne von Autonomie,
Universalität und Konsistenz hergestellt wird. Ist es aber richtig, dass sich Maximen als
Strukturen komplexer Handlungs- oder Überlegungsprozesse realisieren müssen, dann
ist die epistemische Ethik, die sich aus einem solchen Anspruch ergibt, eine personale
oder Tugendethik: sie verlangt vom Subjekt nicht, gewisse Prinzipien zu vertreten, sondern in einer gewissen Weise zu sein, und zwar deshalb, weil die geforderten Überlegungsstrukturen sich aus dem Begriff der Überzeugung selbst als wahrheitsintendierend
ergeben. Hätte Kant einen epistemischen Imperativ formuliert, dann wohl in der folgenden Form:
(W) Denke nach Maximen, die die Wahrheit deiner Überzeugung maximieren.
Diese Maximen müssten durch eine Rationalitätstheorie spezifiziert werden, die ganz
andere Aufgaben hätte, als die formale Theorie der Rationalität. Während diese einen
bestimmten Standard, die formale Logik und die Entscheidungstheorie, als rational ansetzt, müsste die hier geforderte Rationalitätstheorie die epistemischen Prozesse des Subjekts überhaupt zum Thema haben und ihnen entsprechende rationale Tugenden, d.h.
kontextsensitiv beste Überlegungsstrukturen, begründen. So ist z.B. die Menge der Evidenz, die für eine Aussage benötigt wird, abhängig von externen Parametern: Fällt ein
Kind ins Wasser, wird der Überlegungsprozess kurz sein und auf empirische Bestätigung verzichten können; geht es um die Verurteilung eines Angeklagten kann die Beweisaufnahme nicht ausführlich genug sein; ein mathematischer Beweis erfordert den
Einsatz einer formalen Sprache etc. Der epistemische Zweck der Wahrheitsfindung ist
in diesem Sinne mit praktischen Zwecken gekoppelt, die auf die Auswahl der wahrheitsintendierenden Strategien Einfluss nehmen. Hookway hat darauf aufmerksam gemacht,
dass epistemische Werte sich ebenso wie praktische Werte emotional manifestieren können, so dass z.B. ein Gefühl von Unruhe bei einer Schlussfolgerung darauf hinweisen
kann, dass gegen den Standard der Konsistenz verstoßen wurde. Intuitionen sind häufig
solche implementierten Werte; sie beanspruchen Rationalität in diesem Sinne und sind
deshalb ebenfalls Gegenstand einer Tugendlehre der Rationalität.
731
Obwohl dies eine Theorie des epistemischen Subjekts wäre, ist es keine Tugendethik
im Sinne der Neoaristoteliker.40 Die neoaristotelische Tugendethik zeichnet sich durch
eine bestimmte Position im moralischen Begründungsdiskurs aus, indem sie Moral in
der Person des idealen moralischen Akteurs, des aristotelischen Phronimos, verankert.
Moralisch gut nach Auffassung der Tugendethiker ist das, was der ideale Akteur tun
würde; analog müsste man hier sagen: epistemisch gut ist, was der ideale Denker glaubt.
Dagegen wurde nun ein deontologisches Kriterium für epistemische Tugend geltend
gemacht: epistemisch gut, müsste man sagen, ist nicht was der kluge Mann tun würde,
sondern was der Wahrheitsfindung dient.
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