Philosophie und/als Wissenschaft Proceedings der GAP.5, Bielefeld 22.–26.09.2003 Epistemische Willensschwäche und rationale Tugend Verena Mayer 1. Praktische Willensschwäche Willensschwäche wird seit Platons Protagoras als Handeln wider besseres Wissen definiert. Nach Platon glauben die meisten Menschen, dass es Willensschwäche gibt; sie glauben nämlich, dass „Viele, welche das Bessere sehr gut erkennen, es doch nicht tun wollen, obgleich sie könnten, sondern etwas anderes tun“.1 Die folk psychology erklärt das Phänomen dadurch, dass der Mensch in seinem vernünftigen Wollen durch Lust überwältigt werde, dass also ein dem eigenen Willen externer Faktor, „die Leidenschaft“, das vernünftige Überlegen zum Erliegen brächte. Sokrates jedoch überführt diese Auffassung in eine Aporie. Setzt man nämlich voraus, dass Handeln immer von Gründen motiviert ist, und zwar von denjenigen Gründen, die man jeweils für die besten hält, dann kann es Willensschwäche nicht geben. Die jeweils gewählte Handlung wäre dann immer auch gleichzeitig die subjektiv beste und also die gewollte. Sokrates argumentiert deshalb, dass akratisches Handeln auf die Unwissenheit des Akteurs verweist, der sich bezüglich des Umfangs und der Güte seiner Gründe irrt. Der Willensschwache wird von scheinbaren lokalen und kurzfristigen Vorteilen verwirrt, weshalb er nicht erkennt, in welchem Ausmaß er tatsächlich gegen seine eigenen Überlegungen, rationalen Grundsätze und Interessen handelt. Er unterliegt in gewissem Sinn einer axiologischen Täuschung, da ihm das Naheliegende als das Angenehmere erscheint, ähnlich wie in einer optischen Täuschung das Nähere größer zu sein scheint. So wie die optische Täuschung durch die „Messkunst“ relativiert wird, benötigt deshalb der praktisch Handelnde eine besondere Kunst der rationalen Bewertung. Sein Problem ist also nicht etwa psychologischer Natur, wie es die Erklärung des Von-Lust-überwältigt-Seins nahelegt, sondern epistemischer: Willensschwäche ist eine Frage der Rationalität. Auch Davidson hat in seinem Aufsatz über Willensschwäche (1969) Akrasie als ein Defizit an Rationalität beschrieben. Anders als bei Sokrates betrachtet Davidson das Problem aber nicht als eine Art epistemischer Kurzsichtigkeit, sondern als Verstoß gegen ein übergreifendes normatives Handlungsprinzip. Dieses „principle of continence“ verlangt vom Akteur, dass er diejenige Handlung auch durchführt, die er auf der Basis aller verfügbaren Gründe („all things considered“) als die beste bewertet.2 Der Willensschwache handelt nach Gründen, allerdings ohne seine Handlung in Relation zur Gesamtheit seiner Überzeugungen und Wünsche zu setzen. Er trennt sie vielmehr von dieser Gesamtheit ab, indem er sie sans phrase als wünschenswert betrachtet. Das principle of continence ist dann ein handlungstheoretischer Imperativ (analog dem kategorischen Imperativ), der intellektuelle Selbstbeherrschung verlangt insofern, als der Akteur jeweils 1 2 Platon 1991, 352d. „Perform the action judged best on the basis of all available relevant reasons.“ Davidson 1980, 41. das Handeln nach abgewogenen Gründen präferiert. Willensschwäche wird so zu einem Problem der „Tugend“ des Akteurs, allerdings nicht in demjenigen Sinne, der im aristotelischen Begriff der Akrasie – wörtlich „Nicht-Herrschaft“, also Kontrollverlust – angedeutet wird.3 Willenschwäche setzt nicht Leidenschaft voraus, sondern eine irrationale, d.h. nicht wohlbegründete Handlungspraxis. Das Kontinenzprinzip verlangt dagegen intellektuelle Kontrolle der Gründe, nach denen man handelt. Willensschwäche wird so von psychologischen Motiven abgetrennt und kann, wie Davidson glaubt, sogar darin bestehen, dass eine Handlung aus Pflicht gegen ein Vergnügen, das all things considered die bessere Wahl wäre, begangen wird.4 Nach Wolf (1985) ist Davidsons Konzept der Akrasie gegenüber der platonischen Erklärung der Willensschwäche ein Rückschritt. Während der platonische Willensschwache immerhin das tut, was unter den Vorgaben seiner epistemischen Kurzsichtigkeit das Bessere ist, kann der Akratiker Davidsons keinen Grund mehr angeben, weshalb er gerade diese und nicht eine andere Handlung wählt. Die Entscheidung sans phrase ist im Grunde willkürlich, so dass die daraus resultierende Handlung auch nicht als intentional, und also (nach dem geläufigen Begriff der Handlung) gar nicht als Handlung beschrieben werden kann. Damit geht noch ein anderes wesentliches Kennzeichen der Akrasie, die Widersprüchlichkeit des Verhaltens, verloren. Eine Handlung kann nämlich nur dann als akratisch im eigentlichen Sinne gelten, wenn die Relativität der Gründe dem Akteur bewusst ist, wenn er also weiß, dass er nach den eigenen Maßgaben anders handeln sollte. Willensschwäche ist konzeptuell von einfacher Selbsttäuschung klar unterschieden. Sie enthält also als ein selbstreflexives Moment das Bewusstsein der „besseren Möglichkeit“ – ein Merkmal, das sich oft in Gefühlen von Scham oder Schuld, oder in widerstrebenden Intuitionen äußert.5 Nach der sokratischen Erklärung der Willenschwäche handelt der Akratiker wohl auf der Basis der scheinbar besseren Gründe, akzeptiert also das Kontinenzprinzip. Mit der willensschwachen Handlung verstößt er jedoch gegen seine langfristigen Interessen. Es reicht nun aber nicht aus, ihm einen solchen Verstoß nachzuweisen, vielmehr muss der willensschwache Akteur selbst längerfristige Interessen und Handlungsrichtlinien für sich festgelegt haben, zu denen die einzelne Handlung in Widerspruch stehen kann. Da diese evaluativen Vorgaben die Art und Weise definieren, wie der Akteur sein will, kann man sie als das Selbstbild des Akteurs verstehen. Nun ist ein solches Selbstbild nur soviel wert, wie es sich in konkreten Handlungen realisiert. Jede einzelne Handlung, die 3 4 5 Dies ist nicht genau richtig, da Aristoteles akrasia nicht als Laster betrachtet. (NE 1145b1) Der Willensschwache ist zumindest nach einer seiner Erklärungen nur eingeschränkt urteilsfähig ist, etwa wie der Betrunkene. Er hat zwar den Habitus, der im Kontext erforderlich wäre, aber wendet ihn nicht an, er macht „Worte, wie ein Schauspieler auf der Bühne“. (NE 1147a1ff.) Austin hatte bereits darauf hingewiesen, dass Willensschwäche mit kühler Überlegung und finesse einhergehen kann. (Austin 1961, 146) Hookway 2001. 716 dem Bild widerspricht, modifiziert dieses Bild dann in einer unerwünschten Richtung.6 Dass eine Person in diesem oder jenem Fall nicht entsprechend diesem Selbstbild handelt, müsste ihr zeigen, dass sie sich missverstanden hat, dass sie tatsächlich nicht diejenige ist, die sie sein wollte.7 Ihre scheinbar besten Gründe werden durch die akratische Handlung zu nur temporär gültigen, sekundären Gründen degradiert. Die Beschreibung „der Vielen“, wonach sie von den Leidenschaften quasi hinterrücks an der Ausübung ihrer edlen Ziele gehindert werden, versucht, diese Einsicht zu umgehen. Dadurch, dass der Akteur seine akratische Handlung als Willensschwäche beschreibt, bleibt der Wille selbst unangetastet. Das Phänomen der Akrasie enthält deshalb konzeptuell einen Aspekt der Selbsttäuschung zweiter Stufe: der Täuschung über die eigenen handlungsleitenden Prinzipien oder die eigene Person. 2. Praktische vs. epistemische Akrasie Praktische Akrasie ist Gegenstand alltäglicher Erfahrung: Fritz hatte sich vorgenommen, vor dem Frühstück zu joggen, er weiß, dass es im Lichte seiner Überlegungen und Pläne das Beste wäre, aber dennoch tut er es nicht. Frieda hatte beschlossen, einen größeren Betrag an das Rote Kreuz zu spenden, aber aus diesen und jenen Gründen kommt es nicht dazu. Fridolin wollte seine Eifersucht bezwingen, aber schon wieder späht er seine Frau aus etc. Minimiert man an solchen Beispielen den Anteil praktischer Handlung, dann gehen sie mehr oder weniger in den Bereich kognitiver Überlegung über. Fritz kann sich nicht dazu bringen, täglich ein Gedicht auswendig zu lernen, obwohl er sich dies als Gedächtnistraining vorgenommen hatte. Frieda kann keine positive Einstellung gegenüber Geldspenden in sich erzeugen, obwohl ihre moralischen Überzeugungen sie dazu verpflichten. So sehr Fridolin auch Gründe für die Treue seiner Frau anführt, er kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass sie ihn betrügt. Sind dies noch eindeutig Fälle praktischer Willensschwäche, oder muss man annehmen, dass es darüber hinaus auch theoretische oder epistemische Willensschwäche gibt? Epistemische Willensschwäche müsste man strikt analog etwa so konstruieren: Fritz hatte sich vorgenommen, eine bestimmte Proposition zu glauben; er weiß, dass dies im Lichte seiner Überlegungen und Pläne das Beste wäre, aber dennoch glaubt er die Proposition nicht. Diese Beschreibung zeigt schon die Schwierigkeiten, auf die jede Analogie stößt: Kann man sich vornehmen, etwas zu glauben? Macht es Sinn von „Glaubens- 6 7 Die Beobachtung, dass eine Handlungspraxis sich in gewissem Sinne nicht selbst widersprechen kann, hat auch Wittgenstein in seinen Überlegungen über das Regelfolgenproblem formuliert. So schreibt er in § 201 der Philosophischen Untersuchungen nach der Darstellung des sog. Regelparadoxes, dass „es eine Auffassung der Regel gibt, die nicht eine Deutung ist; sondern sich, von Fall zu Fall der Anwendung, in dem äußert, was wir „der Regel folgen“, und was wir „ihr entgegenhandeln“ nennen. Wolf 1985. 717 schwäche“ zu reden?8 Sind Überzeugungen Willensakte oder überhaupt willentlichem Einfluss zugänglich? Obwohl in den letzten Jahren eine Reihe von Ansätzen zu einer dianoetischen Ethik entwickelt wurden9, ist das Phänomen der epistemischen Akrasie immer noch umstritten und solche Fragen werden häufig gerade im Kontrast zum Phänomen praktischer Willensschwäche verneint. So gewinnt Davidson sein Kontinenzprinzip aus einem Prinzip induktiver Überlegung (requirement of total evidence for inductive reasoning), das Carnap und Hempel gefordert hatten. Das Prinzip verlangt, diejenige Hypothese für wahr zu halten, die von allen verfügbaren und relevanten Belegen gestützt ist.10 Obwohl Davidson sein Kontinenzprinzip für praktisches Handeln für sinnvoll hält, bezweifelt er im selben Zusammenhang, dass die eigenen Überzeugungen willentlich derart gesteuert werden können, dass man nur die am besten belegten Überzeugungen für wahr hält, dass also das Carnap-Hempel-Prinzip anwendbar ist. Gibt es nun epistemische Willensschwäche? Die oben genannten Fälle werden im allgemeinen der praktischen Willensschwäche zugeschlagen, weil die Person sich hier nicht dazu bringen kann, einen bestimmten Zustand in sich zu erzeugen.11 Diese Einschränkung macht den Spielraum für epistemisch-akratische Handlungen sehr klein. Wie steht es aber etwa mit dem folgenden Fall: Ein Richter hat hinreichende Evidenz dafür, dass ein Angeklagter, den er schon auf dem besten Weg glaubte, wieder gestohlen hat, aber er glaubt es trotzdem nicht; vielmehr ist er, entgegen der überwältigenden Evidenz für das Gegenteil, von der Unschuld des Angeklagten überzeugt. Wie bei der praktischen Akrasie mögen auch hier psychologische Gründe („die Leidenschaften“) eine Rolle spielen, etwa das Vertrauen in die Person, die Weigerung, sich selbst als fehlbar zu betrachten, die mögliche Beeinträchtigung der eigenen Reputation etc. Aber ebenso wie im Fall praktischer Akrasie sind solche Fälle nicht Beispiele von Willensschwäche sondern von einfacher Selbsttäuschung. Lässt sich das Beispiel aber so konstruieren, dass der Richter ohne (einfache) Selbsttäuschung glaubt, dass der Angeklagte unschuldig ist, oder allgemeiner: gibt es Fälle, in denen ein epistemisches Subjekt, ohne unter irgendeinem psychologischen Zwang zu stehen und im Besitz p widersprechender Informationen, dennoch p glaubt? Damit dies möglich ist, scheint es notwendig, zwischen einer Information und dem Urteilen, dass die Information wahr ist, zu unterscheiden. Das bloße Verfügen über Information darf nicht schon konzeptuell das Urteil über deren Wahrheit enthalten, sonst 8 9 10 11 Vgl. das Konzept religiöser Glaubensstärke, beschrieben etwa von Paulus in Bezug auf Abraham: „Und nicht schwach im Glauben, sah er seinen eigenen, schon erstorbenen Leib an, da er fast hundert Jahre alt war, und das Absterben des Mutterleibes der Sara und zweifelte nicht durch Unglauben an der Verheißung Gottes ….“ (Römerbriefe 4.19f.). Dazu auch Cottingham 2002. Sosa 1991, Fairweather/Zagzebski 2001, Montmarquet 1993, Zagzebski 1996. Davidson 1969, 41. Owens 2002 betrachtet z.B. nur „judgements about what it would be reasonible for me to believe, not […] judgements about which beliefs it would be reasonable for me to cause or induce in myself.” (395, Fußnote 1) 718 scheint epistemische Willensschwäche in der Tat unmöglich. Nur wenn sich eine Schere zwischen Überzeugungen verschiedener Typen öffnen lässt, kann man bestimmte Urteile von sich selbst fordern und dann auch bezüglich dieser Urteile „schwach“ werden.12 Die Frage, wie eine solche Unterscheidung sinnvoll ausbuchstabiert werden könnte, wird uns im Folgenden etwas ausführlicher beschäftigen. Ein Hinweis, wie eine solche Unterscheidung aussehen könnte, findet sich schon im praktischen Syllogismus des Aristoteles. Hier heißt es: Man kann sich die Ursache der Erscheinung, die uns beschäftigt, auch in folgender Weise klarmachen. Die eine das Handeln bestimmende Meinung ist allgemein, die andere geht auf das einzelne, das als solches der sinnlichen Wahrnehmung untersteht. Wird nun aus den beiden Meinungen durch logische Verknüpfung eine, so muss die Folgerung da, wo es sich bloß um die Erkenntnis handelt, von der Seele bejaht, dagegen im Praktischen sogleich in die Handlung übersetzt werden.13 Obgleich Aristoteles im Anschluss an diese Stelle nur den praktischen Fall diskutiert, lässt sich auch der theoretische, das „Bejahen“ der Folgerung, als Handlung verstehen, die der Willenschwäche unterliegen könnte.14 Eine solche Trennung zwischen dem bloßen hypothetischen Erwägen und einem ausdrücklichen Urteil kennt etwa auch Frege, der das Urteil deshalb explizit durch den Urteilsstrich auszeichnet.15 Dabei ist hier nicht die Rede davon, dass das Subjekt einen Schluss aus gegebenen Prämissen nicht zieht, sondern die Folgerung nicht bejaht und das Gegenteil glaubt. Um die Analogie zum praktischen Fall vollständig zu machen, muss der Akratiker zudem die nicht bejahte Meinung nicht nur erwägen, sondern wissen, dass er sie für wahr halten sollte. Er müsste, wie Hookway (2001) betont, aufrichtig sein in seiner Überzeugung, dass es bessere Gründe für nicht-p anstatt für p gibt. Hier aber kehrt der Zweifel an der Möglichkeit epistemischer Akrasie in voller Schärfe zurück: Es galt ja schon für praktische Maxi- 12 13 14 15 Zur Möglichkeit willentlicher Kontrolle von Überzeugungen (doxastic voluntarism) vgl. die Beiträge in The Monist 85 (2002). Aristoteles NE, 1147a20ff. Die einfachste Antwort auf die Frage, ob es epistemischer Willensschwäche gibt, lautet entsprechend, dass Überzeugungen auf Überlegungsprozesse zurückgehen, die selbst Handlungen sind. (Hookway 2001) Den Urteilsstrich führt Frege zuerst in „Über Funktion und Begriff“ ein. Er soll die „behauptende Kraft“ ausdrücken, mit der ein Urteil gefällt wird. Als Frege von Philip Jourdain gefragt wird, ob er das Behaupten als bloß psychologisch betrachte, antwortet er: „Gewiß ist ein Urteilen (das als wahr Anerkennen) ein innerer seelischer Vorgang; aber daß etwas wahr ist, ist unabhängig vom Erkennenden, ist objektiv. Wenn ich etwas als wahr behaupte, will ich nicht von mir sprechen, von einem Vorgang in meiner Seele. Und um es zu verstehen, braucht man nicht zu wissen, wer es behauptet. … Ein Satz, der ohne behauptende Kraft ausgesprochen wird, kann logisch brauchbar sein, obwohl er einen falschen Gedanken ausdrückt, z.B. als Teil (Bedingungssatz) eines anderen Satzes.“ (Frege 1976, Brief XXI/12 an Jourdain (Januar 1914)). Es geht hier also nicht nur um einen psychologischen, sondern um einen logischen Unterschied. 719 men, dass sie sich in Handlungen realisieren müssen. Was zeichnet aber eine aufrichtige Überzeugung aus, wenn sie sich nicht in Urteilshandlungen manifestiert? 3. Was ist epistemische Willensschwäche? Unterscheidet man nicht zwischen verschiedenen Urteilsarten, dann zeigt sich die Aporie epistemischer Akrasie unmittelbar in der Analogie zur praktischen Willensschwäche. Definiert man nämlich praktische Akrasie wie in (A) Eine Person handelt praktisch akratisch, wenn sie bewusst und überlegt eine Handlung wählt, die sie für die schlechtere hält. (= Handeln wider bessere Überzeugung), dann wäre epistemische Akrasie wie in (E) zu konstruieren: (E) Eine Person denkt epistemisch akratisch, wenn sie bewusst und überlegt eine Proposition glaubt, die sie für falsch hält. (= Glauben wider bessere Überzeugung) Die Formulierung (E) ist dann paradox, insofern Glauben mindestens Für-wahr-Halten impliziert. (E) lässt sich deshalb als Standardeinwand gegen den Begriff epistemischer Akrasie lesen: man kann nicht etwas glauben, das man für falsch hält. Man beachte jedoch, dass dieser Einwand ebenfalls in strikter Analogie zum sokratischen Paradox der praktischen Willensschwäche erwidert werden kann. Das sokratische Paradox in Bezug auf praktische Handlung zeigte ja nicht, dass es Willensschwäche nicht gibt, sondern dass das Phänomen anders zu beschreiben ist, als es die folk psychology vorgibt. Analog muss (E) zu einer Neubeschreibung epistemischer Willensschwäche führen. Sie kann z.B. einen Unterschied zwischen verschiedenen Bewertungsebenen einführen, etwa in der folgenden Weise: (H) Eine Person A handelt epistemisch akratisch, wenn A eine Proposition p akzeptiert und wenn A gleichzeitig akzeptiert, dass es falsch ist, p zu akzeptieren.16 Hier steht nicht mehr der Glaube, dass p wahr ist, dem Glauben, dass p falsch ist gegenüber; vielmehr steht der Glaube, dass p wahr ist unter einem Meta-Urteil, das, wie Frege sagen würde, „die Berechtigung zur Urteilsfällung“ bestreitet. Dies kann auf verschiedene Weisen geschehen.17 Die vielleicht einleuchtendsten Fälle sind solche, die gleichzeitig nicht als rein epistemisch-akratisch gelten können. Wer Lotto spielt oder das Zeitungs16 17 Hookway 2001. Obwohl die Phänomene epistemischer Akrasie zahlreich und vielfältig sind, und häufig in solche praktischer Akrasie übergehen, soll im Folgenden versucht werden einen Kern rein epistemischer Willensschwäche zu isolieren. Dies wird oft versäumt (s. etwa Zagzebski 1996, 154ff.) mit der Folge, dass die besondere Rolle dianoetischer gegenüber ethischer Tugend verloren geht. 720 horoskop überfliegt, erlaubt sich oft nur ein temporäres Urteil, das er auf einer rationalen Metaebene gleichzeitig verwirft. Solche Beispiele sind nicht rein akratisch insofern, als entweder der Metabewertung nicht ein wirkliches Fürwahrhalten gegenübersteht („Ich glaube ja nicht wirklich an Horoskope“) oder dem Fürwahrhalten („Ich glaube, dass ich gute Chancen habe, zu gewinnen“) keine wirkliche Metakritik. Reine Fälle epistemischer Akrasie müssten aber beide Aspekte enthalten. Schwieriger zu beurteilen sind Fälle, in denen eine Proposition als wahr akzeptiert wird, während gleichzeitig die Urteilsgenese verworfen wird. Obwohl Frieda weiß, dass Gerüchte unzuverlässig sind, glaubt sie dennoch auf Grund eines Gerüchts, dass Fritz ein Betrüger ist. Es ist nicht ganz einfach, diesen Fall als echt akratisch zu konstruieren. Frieda mag etwa eher „unbewusst“ an Fritzens Schuld glauben, aber nach gründlicher Überlegung erkennen, dass der Glaube unbegründet ist. Oder aber Frieda glaubt wirklich, dass Fritz ein Betrüger ist, täuscht sich aber über ihre Gründe. Wirklich akratisch wäre die Überzeugung nur, wenn sie gleichzeitig mit dem Verwerfen ihrer Genese vorkommt. Aber selbst dann ließe sich noch eine Versöhnung herstellen, indem Frieda etwa das Gerücht, wenn es auch als solches unzuverlässig ist, als Hinweis auf die Wahrheit betrachtet, der mit korrekteren Informationswegen einigermaßen konkurrieren kann. Die Schwierigkeiten, überhaupt eindeutige Fälle epistemischer Akrasie zu beschreiben, haben dazu geführt, die Kriterien aufzuweichen und Fälle von Selbsttäuschung zuzulassen.18 Die Phänomenologie epistemischer Willensschwäche umfasst dann eine große Familie unterschiedlicher Erscheinungsformen kognitiver „Schwächen“, in denen kein eindeutiger Fall mehr identifizierbar ist. Es ist deshalb sinnvoll, hier wie im Fall der praktischen Akrasie Selbsttäuschung erster und zweiter Stufe zu unterscheiden. Selbsttäuschung erster Stufe (hier „einfache Selbsttäuschung“) betrifft die Handlung oder Überzeugung, die der Akteur entgegen seiner besseren Überzeugung präferiert. Der Handelnde weiß dabei nicht, was er tut oder denkt, ist sich also der Bedeutung seiner Handlung oder Überzeugung nicht bewusst. Das Bewusstsein kann sich auch in Intuitionen oder Gefühlen manifestieren. Solche Fälle fallen nicht unter das lebensweltliche Konzept der Willensschwäche, denn der Willensschwache ahnt wenigstens, was er nicht tun sollte, während der Selbstbetrüger an die Richtigkeit seiner Überzeugung glaubt. Dagegen ist Selbsttäuschung zweiter Stufe geradezu kennzeichnend für Akrasie. In der akratischen Überzeugung verstößt der Willensschwache gegen die Prinzipien und Intentionen, die sein Handeln leiten, täuscht sich also über sich selbst im eigentlichen Sinne. Wer etwa nur gut belegten Aussagen glauben möchte, dann aber auf Gerüchte hört oder Vorurteilen folgt, will nicht wirklich der verbürgten Evidenz folgen. Es gilt ja, im Sinne Kants, dass, wer den Zweck will, ihn will unter „Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind“.19 Der willensschwache Akt ist dann Kennzeichen dafür, dass der Zweck nicht gewollt ist. Eben im Vermeiden dieser Erkenntnis durch Abspaltung des willensschwachen Gedankens besteht dann die eigentliche Selbsttäuschung des epistemischen Akteurs. 18 19 Zagzebski 1996, 154. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV 394, s.a. IV 419. 721 Noch eine andere Abgrenzung ist wesentlich, damit die Idee der epistemischen Akrasie Kontur gewinnt. Es gibt übergeordnete praktische Lebensziele oder Prinzipien, die epistemische Form annehmen können, etwa das Prinzip, von niemandem Schlechtes zu glauben oder religiöse Dogmen nicht rational zu prüfen. Im Licht solcher Selbstverpflichtungen ist es dann willensschwach, von jemandem, der offenbar ein Übeltäter ist, schlecht zu denken oder eine Überzeugung zu prüfen. Im Folgenden betrachte ich solche Überzeugungen nicht als epistemisch, sondern als praktisch akratisch, indem ich den Bereich, in dem epistemische Willensschwäche überhaupt vorkommen kann, eng begrenze: er soll nämlich nur solche kognitiven Akte umfassen, in denen es um die Wahrheit der Überzeugungen geht oder in denen Wahrheit konstitutives Ziel der Überlegung ist.20 Die übergeordneten Überzeugungen, mit denen ein Glaube-dass-p dann in Widerspruch tritt, müssen gleichfalls wahrheitsintendierende Überzeugungen sein, also Strategien, mit denen das Subjekt zwischen wahr und falsch unterscheiden will. Epistemische Akrasie betrifft dann nur solche Fälle, in denen ein Bruch zwischen Überzeugungen einerseits und solchen auf Wahrheit abzielenden Strategien eintritt. Gesucht sind also Beispiele, in denen folgende Bedingungen erfüllt sind: (W) Eine Person denkt epistemisch akratisch, wenn sie (i) glaubt, dass p wahr ist, und (ii) gleichzeitig glaubt, dass p ihren eigenen wahrheitsintendierenden Standards nicht genügt, und (iii) damit einer Selbsttäuschung zweiter Stufe unterliegt. 4. Zwei Arten des Glaubens Man könnte versucht sein, eine Unterscheidung zwischen Urteilstypen nicht durch Einführung einer Metaebene wie in (W), sondern durch einen qualitativen Unterschied zu begründen. Es scheint ja zunächst, dass das Konzept epistemischer Akrasie eine Variante von Moore’s Paradox („p, aber ich glaube es nicht“) fordert, die dennoch eine psychologische Möglichkeit sein müsste, damit sie dem Phänomen der Willensschwäche gerecht wird. Nun ist es allerdings so, dass Moore’s Paradox sinnvolle Anwendungsfälle hat, etwa (L) Ich habe eine Million im Lotto gewonnen, aber ich kann es nicht glauben. Dies ist eine sinnvolle Aussage, die etwas über den epistemischen Zustand des Sprechers in Bezug auf die Tatsachen verrät. Man könnte den Sinn von (L) als Kollision zweier verschiedener propositionaler Einstellungen beschreiben. In diesem Sinne haben Lehrer u.a. etwa zwischen „belief“ (Glaube) und „acceptance“ (Akzeptanz) unterschieden, ähnlich wie ja auch die oben angeführte Beschreibung (H) zwischen einem Akzeptieren im Sinne des Fürwahrhaltens und einem ausdrücklichen Akzeptieren der Urteilsgenese trennt.21 Die Unterscheidung zwischen belief und acceptance bezieht sich allerdings 20 21 Hookway 2001, Velleman, „On the Aim of Belief“, in Velleman 2000, 244-282. Zu den im folgenden dargestellten qualitativen Unterscheidungen vgl. Church 2002. 722 nicht auf die logische Urteilsstruktur, sondern auf die Urteilsqualität, und zwar im folgenden Sinne. Man kann eine Aussage als gut begründet oder als Prämisse von Schlussfolgerungen annehmen, ohne auch schon mit ihr ein Erlebnis fester Überzeugung zu verbinden. Glauben-dass-p ließe sich als ein solches qualitatives Erlebnis beschreiben, das der bloßen „acceptance“ einer Proposition fehlt. In diesem Sinne erklärt sich, weshalb das Lottobeispiel (L) nicht paradox ist: Ich weiß zwar, dass ich im Lotto gewonnen habe, weil ich die entsprechende Evidenz vor mir habe (der Mann mit dem Geldkoffer steht vor mir, ich akzeptiere die Fakten), aber mir fehlt das entsprechende Glaubensquale, das die Proposition erst zu einer wirklichen Überzeugung macht. Auch andere Beispiele epistemischer Akrasie ließen sich so erklären: der Richter, der an die Unschuld des Angeklagten trotz überzeugender Beweise für das Gegenteil glaubt, erlebt ein Glaubensgefühl in bezug auf die Unschuldsvermutung, obwohl er die Beweise für die Schuld des Angeklagten akzeptiert. Eine solche Beschreibung im Sinne verschiedener Erlebnisse lässt aber gleichzeitig das gesuchte Phänomen verschwinden. Denn man könnte nur dann von Willensschwäche sprechen, wenn das Glaubensgefühl nicht lediglich die Proposition begleitet, sondern handlungsmotivierend wäre, also zu einem entsprechenden Urteil führen würde.22 Der Richter kann ungeachtet seiner Gefühle die Beweise gegeneinander abwägen und zu einem ausgewogenen Urteil gelangen, oder aber „der Leidenschaft“ (hier dem Glauben) folgen – damit wären wir aber wieder bei der Meinung „der Vielen“, die sich als unhaltbar erwiesen hatte. Weshalb nämlich sollte der Richter dem Glaubensgefühl folgen, wenn nicht deshalb, weil er dies für das Beste hält? Dann aber akzeptiert er die Schuldbeweise der Gegenseite nicht, so dass von Willensschwäche keine Rede sein kann. Die Unterscheidung zwischen acceptance (sozusagen als einem Hirnzustand) und belief (sozusagen als dem Urteil des Herzens) erscheint also für die Erklärung epistemischer Akrasie ebenso wenig hilfreich wie die Unterscheidung von Wille und Leidenschaft im Bereich praktischen Handelns.23 Anstatt zwei Qualitäten des Glaubens zu postulieren, scheint es deshalb eine vielversprechendere Strategie, wie in (W) zwischen Überzeugungen erster und Überzeugungen zweiter Stufe zu unterscheiden, analog etwa zu Frankfurts Unterscheidung zwischen Wünschen und Werten.24 Gewöhnliche Überzeugungen sind von der Art, dass wir etwas für wahr halten, und zwar in dem Sinne, dass wir glauben, dass die Dinge im wesentlichen so und so sind. Dagegen handeln Überzeugungen zweiter Ordnung von unseren Standards, die Überzeugungen erster Ordnung erfüllen sollten oder von den Weisen wie wir richtige Überzeugungen gewinnen. Epistemische Willensschwäche besteht dann darin, dass zwischen beiden Arten von Überzeugungen ein Bruch auftritt, dass wir also 22 23 24 Das Gefühl der Begierde begleitet ja regelmäßig Versuche, einer Sucht Herr zu werden, ohne dass das Vorkommen der Gefühle allein schon dazu berechtigen würde, Willensschwäche zu attribuieren. Ein anderes, im praktischen Fall vorgebrachtes Argument, würde auch für den epistemischen gelten: Ist die mögliche Handlung (Überzeugung) dem Willen (der Akzeptanz), die tatsächlich vollzogene Handlung (Überzeugung) aber der Leidenschaft (dem Glauben) zuzuschreiben, und sind beides verschiedene intentionale Zustände, dann kann kein echter Konflikt statthaben. Frankfurt 1971. Wie Cottingham 2002 zeigt, hat diese Unterscheidung eine lange Tradition. 723 etwas für wahr halten, das unseren Standards zweiter Ordnung nicht gerecht wird. 5. Ist epistemische Willensschwäche möglich? Dass epistemische Willensschwäche im bisher eingegrenzten Sinne möglich ist, hat vor allem Williams (1973) bestritten.25 Sofern nämlich gegen interne wahrheitsintendierende Standards verstoßen werden kann, scheint belief eine Sache der Entscheidung und der freien Willkür zu sein. Auch praktische Akrasie setzte ja Autonomie des Akteurs voraus. Sind wir aber bezüglich unserer Überzeugungen tatsächlich autonom? Bernard Williams glaubt, dass das Konzept des Glaubens selbst einen epistemischen Dezisionismus ausschließt. Könnten wir uns nämlich entscheiden, etwas zu glauben, dann könnten wir uns dazu unabhängig davon entscheiden, ob es wahr ist oder nicht. Aber das Konzept des Glaubens enthält eine externalistische Bedingung – das konstitutive Ziel von Wahrheit-als-Korrespondenz – so dass wir nicht glauben könnten, dass wir p glauben, wenn wir versuchen würden, p willentlich zu glauben. If I could acquire a belief at will, I could acquire it whether it was true or not; moreover, I would know that I could acquire it whether it was true or not. If, in full consciousness I could will to acquire a “belief” irrespective of its truth, it is unclear that before the event I could seriously think of it as a belief, i.e. as something purporting to represent reality.26 Gerade in diesem Punkt scheint also der Unterschied zwischen epistemischen und praktischen Handlungen begründet zu sein. Wohl können wir willentlich alles mögliche tun, aber nicht willentlich alles mögliche glauben, weil wir bezüglich unserer praktischen Handlungen autonom sind, bezüglich unserer Überzeugungen aber nicht. Ist es also widersinnig anzunehmen, dass eine Person auch anderes hätte glauben können oder, wie im Fall der epistemischen Akrasie, nach ihrem eigenen Urteil sogar hätte glauben sollen, als sie tatsächlich glaubt? Einige Tatsachen unseres kognitiven Umgangs sprechen gegen eine solche starke Asymmetrie zwischen praktischem Handeln und Überlegung. So kritisieren wir Andere wegen ihrer Überzeugungen, und zwar auch im moralischen Sinne. Wir halten ihnen etwa vor, dass ihre Glaubensinhalte rassistisch oder blauäugig, naiv oder abergläubisch seien, behandeln also Überzeugungen gerade so wie Handlungen als etwas, das der Kontrolle epistemischer Subjekte unterliegt und für das sie verantwortlich sind. 27 Zum Zweiten sind Mittel und Wege, die eigene Meinungsbildung zu manipulieren, hinreichend bekannt. Selbst Williams diskutiert einige eher fernliegende „roundabout routes“ wie die Möglichkeit, sich mittels Hypnose von einer Meinung zu überzeugen, die man ablehnt. „Er verschließt die Augen vor den Tatsachen“, „Sie weigert sich, den letzten Schluss zu ziehen“, „Du willst einfach nicht in die Einzelheiten gehen“, sind 25 26 27 Siehe vor allem Kap. 9, „Deciding to believe“. Williams 1973, 148. Heil 1984. 724 Vorwürfe, die gewisse kognitive Strategien benennen, die dazu dienen, Erkenntnissen aus dem Weg zu gehen. Dass das konstitutive Ziel der Wahrheit erreicht wird, hängt davon ab, wie man auf die Tatsachen zugreift, wie man sie gegeneinander abwägt und welchen von ihnen man im Zweifelsfalle Priorität zumisst. Der Erwerb einer Überzeugung hat also mit komplexen Prozessen der Aufmerksamkeit, des Interesses und der Bewertung von Fakten zu tun, die zumindest teilweise unter der Kontrolle des epistemischen Subjekts stehen. Das führt allerdings zurück zur Unterscheidung zwischen Genese und Inhalt von Überzeugungen. Williams’ Argument würde sich zurückweisen lassen in Bezug auf die Genese von Überzeugungen, während deren Inhalt selbst externalistisch bestimmt und deshalb nicht dem Zugriff des Subjekts zugänglich wäre. Wie schon gezeigt wurde, lässt sich aber epistemische Akrasie in Bezug auf den Überzeugungserwerb zwanglos als praktische Akrasie beschreiben, der Begriff epistemischer Willensschwäche hätte also keinen Umfang. Das Argument gilt jedoch nur, insofern man Überzeugungen als durch Tatsachen bestimmt betrachtet, und dies ist abhängig davon, welche Form des Externalismus zugrunde gelegt wird. Die Unterschiede zwischen physikalischem und sozialem, zwischen starkem und schwachem, und zwischen Type- und Token-Externalismus lassen jedoch genügend Raum für die Annahme, dass Inhalte nicht durchweg extern bestimmt sind. Es scheint jedoch, dass Williams’ Argument von einer externalistischen Bedeutungstheorie unabhängig ist, da es sich auf einen rein formalen, konstitutiven Aspekt des Glaubensbegriffs stützt. Glauben-dass-p heißt immer auch schon Glauben-dass-p-wahrist, und zwar in einem aristotelischen Sinne: wer glaubt, dass p wahr ist, glaubt, dass es sich tatsächlich so verhält, wie p sagt. Dann aber verliert Williams’ Argument seinen Biss, denn nun müssen zwei Lesarten unterschieden werden. Angenommen, Frieda will glauben, dass Fritz unschuldig ist, dann will sie (1) dass es wahr ist, dass sich die Dinge also so verhalten, dass er unschuldig ist. Sie will es also nicht glauben unabhängig davon, ob es wahr ist oder nicht. Den Glauben an Fritzens Unschuld kann sie mit Hilfe geeigneter Strategien vielleicht in sich erzeugen, vorausgesetzt dass einige der involvierten Propositionen wahr und gleichzeitig extern bestimmt sind. Glauben-Wollen heißt dann soviel wie, nach geeigneten Rechtfertigungsstrategien suchen. Dies ist nicht aporetisch. Williams’ Einwand scheint dagegen eine andere, und zwar die qualitative Auffassung des Glaubens vorauszusetzen. Wenn Frieda in diesem Sinne (2) glauben will, dass Fritz unschuldig ist, dann versucht sie, ein gewisses Glaubensgefühl in sich zu erzeugen, unabhängig davon, ob Fritz unschuldig ist oder nicht. Daran, so müsste man Williams verstehen, muss sie notwendig scheitern, da der Versuch, das Glaubensgefühl unabhängig von der Wahrheit der Proposition zu erzeugen, schon eine Art „Entfremdung“ von der Proposition impliziert, die einem Zweifel an ihr gleichkommt. Es ist aber schon gezeigt worden, dass die Unterscheidung zwischen Glaubensqualitäten für das Phänomen der epistemischen Akrasie irrelevant ist. Um die Natur epistemischer Akrasie zu verstehen, müssen wir uns also dem ersten Fall des willentlichen Glaubens und damit den wahrheitsintendierenden Strategien der Überzeugungsgewinnung zuwenden. 725 6. Wahrheitsintendierende Strategien In seiner Kritik der Urteilskraft formuliert Kant einige „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“ oder des sensus communis, die zum reflexiven Urteilsvermögen gehören und dem kategorischen Imperativ im praktischen Bereich übergeordnet sind.28 Sie lauten: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.29 Kant spricht hier auch von „Denkungsarten“ und stellt die aufgeklärten Maximen einem gewissen „Hang“ zur passiven Vernunft und der naturbedingten subjektiven Perspektive des epistemischen Akteurs gegenüber. Insbesondere die zweite Maxime, die Kant auch im vorausgehenden Text eigens anführt, lässt sich als eine epistemische Variante des kategorischen Imperativs lesen.30 Schon aus diesem Zusammenhang ergibt sich der normative Charakter der epistemischen Maximen, womit auch gleichzeitig ihre autonome Anwendbarkeit impliziert ist. Die Maximen des Gemeinsinnes zielen dabei auf Wahrheit nicht im Sinne von Korrespondenz – die Korrespondenztheorie ist nur die „Namenerklärung“ von Wahrheit31 – sondern in dem Sinne, dass ihre Anwendung Wahrheit im Sinne objektiver Gültigkeit erst aktiv erzeugt. Insofern sind die extern bestimmten Erkenntnisse etwa durch Wahrnehmungsurteile, die der Verstand passiv und beschränkt von seiner subjektiven Perspektive aufnimmt, nicht im objektiven Sinne wahr. Trotz dieser besonderen Kantischen Wahrheitstheorie gehören solche Urteile aber dennoch in den Kern dessen, was hier Gegenstand epistemischer Akrasie werden kann. 28 29 30 31 Dies ergibt sich daraus, dass die Anwendung des kategorischen Imperativs Urteilsvermögen und damit die genannten Maximen voraussetzt. Kant, Kritik der Urteilskraft, AA V 294. Zur Beziehung zwischen Imperativ und Maxime s.u. Der ganze Textzusammenhang lautet: „Unter dem sensus communis aber muß man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d.i. eines Beurtheilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesammte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urtheil an anderer nicht sowohl wirkliche als vielmehr bloß mögliche Urtheile hält und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurtheilung zufälliger Weise anhängen, abstrahirt: welches wiederum dadurch bewirkt wird, daß man das, was in dem Vorstellungszustande Materie, d.i. Empfindung ist, so viel möglich wegläßt und lediglich auf die formalen Eigenthümlichkeiten seiner Vorstellung oder seines Vorstellungszustandes Acht hat. Nun scheint diese Operation der Reflexion vielleicht allzu künstlich zu sein, um sie dem Vermögen, welches wir den gemeinen Sinn nennen, beizulegen; allein sie sieht auch nur so aus, wenn man sie in abstracten Formeln ausdrückt; an sich ist nichts natürlicher, als von Reiz und Rührung zu abstrahiren, wenn man ein Urtheil sucht, welches zur allgemeinen Regel dienen soll.“ AA V 293f. Kritik der reinen Vernunft, B 82. 726 Zwar sind nicht Wahrnehmungsurteile selbst schon akratisch; hat sich das Subjekt aber einmal die Maximen des aufgeklärten sensus communis zu eigen gemacht, dann sind „Verstöße“ gegen diese Denkungsart nach dem Muster von Wahrnehmungsurteilen möglich, die sich als zugehörig zu anderen Denkstrategien qualifizieren. Kant nennt etwa als negativen Gegenpol der ersten Maxime Vorurteil und Aberglaube, Gegenpol der zweiten ist die Borniertheit oder geistige Beschränkung auf den subjektiven Standpunkt. Verstöße gegen die dritte Maxime, die Fertigkeit in den beiden ersten voraussetzt, führen zu Inkonsistenzen im Überzeugungssystem. Anhand der Kantischen Beschreibung zeigt sich dann, wie epistemische Willensschwäche möglich ist. Hat ein Subjekt zwei Überzeugungen p und q durch autonomes (Maxime 1) und generalisiertes Denken (Maxime 2), gewonnen, dann muss es deren Übereinstimmung untereinander sowie mit dem übrigen Überzeugungssystem prüfen, und gegebenenfalls (sofern p → ¬q) eine der beiden Überzeugungen aufgeben. Kant weist darauf hin, dass Selbstkonsistenz eine der schwierigsten Aufgaben des sensus communis und nur nach langer Übung zu erreichen ist; entsprechend wird es häufig genug vorkommen, dass Konsistenzprüfungen nicht nur trotz Anerkennung ihrer Notwendigkeit unterlassen werden (was ein Fall praktischer Akrasie wäre), sondern auch der Nachweis der Inkonsistenz von p und q nicht zur Aufgabe einer beiden Überzeugungen führt. Dies wäre also eine Instanz von (H): Der epistemische Akteur akzeptiert p, anerkennt aber gleichzeitig, dass er p entsprechend der selbstgestellten Konsistenzforderung zurückweisen sollte. 7. Maximen und second-order desires Es ist auffallend, dass Kant in seiner Exkursion in der Kritik der Urteilskraft von Maximen und nicht von einem kategorischen Imperativ der Vernunft spricht. Die genannten Maximen des sensus communis sind ja einem natürlichen „Hang“ entgegengesetzt und müssten daher Ergebnis der Anwendung eines epistemischen Prinzips sein. Kant kennt jedoch nur den kategorischen Imperativ der praktischen Vernunft (diesen allerdings in zahlreichen Formulierungen), den er zudem gerade als Kriterium der Abgrenzung praktischer von theoretischer Erkenntnis betrachtet.32 Inwiefern und unter welchen Formulierungen der praktische Imperativ auch für Überzeugungen einsetzbar ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden; interessant ist aber ein zweites Merkmal der Exkursion, das auch von einer naheliegenden Kritik an der bisher dargestellten Auffassung epistemischer Akrasie berührt wird. Indem Kant die Maximen des Gemeinsinnes auch als „Denkungsarten“ bezeichnet, unterscheidet er sie von bloßen Vorsätzen, selbst auferlegten Regeln oder externen Normen, die sich das epistemische Subjekt zu eigen macht. 32 Vgl. Logik, AA IX 86. 727 Sie sind eher als Denkstrukturen oder -strategien zu verstehen, die sich in den konkreten epistemischen Prozessen realisieren.33 Dies erweist sich als hilfreich, wenn man Argumente vermeiden will, wie sie gegen eine zweistufige Erklärung der praktischen Überlegung z.B. bei Frankfurt vorgebracht wurden.34 Nach Frankfurt hat ein Akteur einen Wunsch zweiter Stufe, „either when he wants simply to have a certain desire or when he wants a certain desire to be his will.“35 Ersichtlich ist Hookways Erklärung von epistemischer Akrasie in (H) A akzeptiert eine Proposition p und A akzeptiert (gleichzeitig) dass es falsch ist, p zu akzeptieren an das Modell der second-order desires angelehnt. A denkt demnach (Symmetrie zwischen Akrasie und Selbstbeherrschung vorausgesetzt) nicht-akratisch oder kontinent, wenn sie eine Proposition p akzeptiert und gleichzeitig akzeptiert, dass es richtig ist, p zu akzeptieren. Gegen Frankfurt ist nun argumentiert worden, dass es kontinentes Verhalten ohne Wünsche zweiter Stufe gibt, ebenso wie der Akratiker „ohne Umschweife“, d.h. ohne solchen Wünschen Widerstand zu leisten, sich willensschwach verhalten kann.36 Das liegt daran, dass Wünsche als qualitative Zustände gegenüber der bloßen Handlung überflüssig scheinen. Im Gegenteil scheint derjenige, der autonom seinen Vorgaben gemäß handelt, ohne von einem Wunsch zweiter Stufe getrieben zu sein, sogar besonders willensstark. Nun besteht nur schwache Analogie zwischen einem Wunsch zweiter Stufe und dem theoretischen Akzeptieren, dass p richtig oder falsch ist. Letzteres ist, wie die Argumente gegen Lehrer u.a. (s.o.) gezeigt haben, kein qualitativer Zustand, und selbst wenn er es wäre, hätte die Erlebnisqualität keinen Einfluss auf das akratische Denken. Gleichzeitig muss jede akratische Handlung oder Überlegung das Bewusstsein ihrer Falschheit in der einen oder anderen Form enthalten. Dieses wird durch (H) im minimalen Sinne ausgedrückt. Der Einwand der Redundanz scheint also gegen (H) nicht vorgebracht werden zu können. 33 34 35 36 Entgegen einer in der Literatur verbreiteten und von Kants Sprachgebrauch geförderten Auffassung entspricht dieser Gebrauch von „Maxime“ dem in der praktischen Philosophie Kants. Maximen sind dort als Handlungsstrukturen zu verstehen. Nur so erklären sich die Beispiele, die Kant für subjektive Maximen nennt, „etwa die Maxime der Verwahrlosung der Naturgaben“ (AA IV 423); dies wird ausführlicher dargestellt in Verena Mayer, „Das Paradox des Regelfolgens in Kants Moralphilosophie“, erscheint in Kantstudien 2005. Frankfurt 1971, zur Kritik Mele 1992. Frankfurt 1971, 10. Mele 1992, 283ff. 728 Ein zweites Argument gegen second-order desires macht geltend, dass diese selbst motiviert sein müssten, so dass ein Regress von höherstufigen Wünschen entstünde.37 Dieser Einwand gilt auch für (H). Wenn Frieda auf Grund von Gerüchten glaubt, dass Fritz ein Betrüger ist und gleichzeitig akzeptiert, dass es falsch ist, eine Person auf Grund von Gerüchten zu verurteilen, dann ist dies nur dann akratisch, wenn sie als Prinzip dritter Stufe akzeptiert, dass man in seinen Überlegungen immer den Prinzipien zweiter Stufe folgen sollte. Frieda könnte ja kognitiv so strukturiert sein, dass ihre Überlegungen und ihre Prinzipien nicht zueinander passen oder voneinander „entfremdet“ sind. Gilt aber dies für Prinzipien zweiter Stufe, weshalb nicht auch für das Prinzip dritter Stufe, so dass ein Regress von Überlegungsmaximen entstünde, die allesamt wirkungslos blieben, wenn es um tatsächliche Überzeugungen ginge. An dieser Stelle erweist es sich als sinnvoll, epistemische Maximen nicht als Regeln zu betrachten, mit denen ein davon noch zu unterscheidender Akteur seine Überlegungen in Übereinstimmung bringt, sondern als Überlegungsstrukturen. Der vorurteilsfreie, autonome und selbstkonsistente Akteur mag zwar auf diese Strukturen reflektieren und sie sich als Maximen ins Bewusstsein rufen, seine aufgeklärte Denkungsart besteht aber darin, dass er faktisch eben so denkt, wie es die Maximen beschreiben. Er realisiert den sensus communis in seinem epistemischen Verhalten, ohne dass er noch einmal zwischen Regel und Anwendung vermitteln müsste. Deshalb ist, wie Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen sagt, „der Regel folgen“ eine Praxis.38 Dies ergibt sich auch aus der Tatsache, dass eine Regel, die sich überhaupt nicht im Verhalten manifestiert, nicht sinnvoll als Regel beschrieben werden kann. Sie wäre, mit den Worten Kants, bestenfalls „ein leerer Wunsch“. Nur so erklärt sich, dass Kant Selbstkonsistenz nicht etwa der Anwendung der Logik zuschreibt, sondern zu einer Sache der Übung erklärt, die Autonomie und die Einnahme eines universellen Standpunktes voraussetzt. 8. Das Selbstbild des epistemischen Akteurs Betrachtet man die epistemischen Maximen in dieser Weise als Überlegungsstrukturen, dann scheint zunächst die Beschreibung epistemischer Akrasie im Sinne von (H) paradox zu werden. A würde nun eine Proposition p glauben, gleichzeitig aber eine Überlegungsstruktur aufweisen, die p widerspricht, oder p wenigstens, wie im oben beschriebenen Fall von Selbstinkonsistenz, nicht integrieren kann. Man hätte, mit anderen Worten, den Fall einer Person, die dem kognitiven Verhalten, das sie grosso modo verfolgt, in einzelnen Überzeugungen widerspricht. Dies würde aber unmittelbar dazu führen, dass A’s Überlegungsstruktur sich entsprechend ändert. Mit anderen Worten: jeder Fall von scheinbarer Akrasie wäre tatsächlich eine Modifikation der Struktur, so dass das epistemische Subjekt immer als einheitlich erscheinen würde, und von Willensschwäche nicht die Rede sein könnte. Es war dann also nicht so, dass der Wille des Akratikers schwach 37 38 Velleman 1992 diskutiert Frankfurts Modell unter der Frage, wo im Modell praktischer Handlungsrationalität der Handelnde steckt. Wittgenstein 1984, § 202. 729 war; er war vielmehr gar nicht vorhanden, denn wie anders als in Handlungen hätte er sich erweisen sollen? In gewisser Weise wiederholt sich hier das Sokratische Paradox, wonach auch die willensschwache Handlung eine solche ist, in der der Akteur das jeweils Beste tut. Erneut stellt sich damit die Frage, wie es unter diesen Umständen zu den unleugbaren Phänomenen kommt, die die folk psychology als Willensschwäche darstellt. Die Erklärung der praktischen Akrasie durch Wolf (1985) hilft auch hier weiter. Die Phänomene zeichnen sich ja dadurch aus, dass die akratische Person das Bewusstsein einer Abweichung von gewissen Standards erlebt, zu denen sie sich durch ihr bisheriges Verhalten verpflichtet hat. Das Gefühl von Scham oder Schuld, das mit akratischen Handlungen oder Überlegungen verknüpft ist, zeigt dabei, dass die Person sich mit diesen Verpflichtungen identifiziert, dass sie ihnen die Funktion eines positiven Selbstbildes zumisst. Mit ihrer akratischen Handlung gibt die Person dann zu erkennen, dass das Selbstbild nicht zutrifft: die heldenhafte Nichtraucherin entpuppt sich als gewöhnliche Süchtige, der Aufrichtige als Lügner, die Rationalistin als abergläubisch etc. Nur indem die Handlung oder Überlegung als willensschwach abgespalten und aus dem Korpus von Handlungs- und Rechtfertigungsstrukturen herausgelöst wird, kann das ursprüngliche Selbstbild aufrecht erhalten werden; dies aber zu dem Preis, dass der Akt selbst zu einem Rätsel wird. 9. Rationale Tugend Seit Davidson ist es üblich geworden, die Debatte über Willensschwäche aus dem moralischen Diskurs herauszuhalten, da das Phänomen (á la Davidson) offensichtlich so beschrieben werden kann, dass selbst moralische Akte als willenschwach gelten können. Der Folterer, der einen Akt der Menschlichkeit begeht, handelt akratisch, wenn er gegen seine „besseren Überzeugungen“ verstößt; ähnlich ist die Abergläubische epistemisch willensschwach, wenn sie sich einem wissenschaftlichen Gegenbeweis beugt. Es ist aber nicht einmal notwendig, dass eine langfristige Handlungsmaxime einer akratischen Handlung entgegentritt, sondern es genügt, dass das Subjekt von zwei möglichen Gründen den wählt, den es als schlechter bewertet. So kann eine Handlung aus Pflicht gegen den momentanen Wunsch, sich zu entspannen, akratisch sein.39 Diese Trennung von Akrasie und Moral ist aber nicht mehr so eindeutig, wenn Akrasie als Modifikation eines Selbstbildes beschrieben wird. Es scheint nämlich, dass im Sinne der folk psychology nur dann von Willensschwäche die Rede ist, wenn sich ein „Wille“ in deutlichen Strukturen manifestiert. Die Rede von Willensschwäche im Zusammenhang mit Urteilen, die der Handlung lediglich eine mögliche bessere gegenüberstellen, wäre dann ein philosophisches Kunstprodukt. Das „Bessere“, dem die akratische Handlung zu widersprechen scheint, ist nicht ein atomares Urteil, sondern eine Lebensform, mit der sich der Akteur identifiziert. Lebensformen allerdings sind nicht beliebig, sondern unterliegen sachlichen und konzeptuellen Bedingungen, die sich z.B. in Begründungsstrukturen niederschlagen. 39 Davidson 1980, 30. 730 So lässt sich der kategorische Imperativ als der formale Rahmen begreifen, innerhalb dessen sich eine Praxis autonomen Handelns aus der Idee der Freiheit heraus entwickeln kann. In diesem Sinne unterliegen aber auch Überlegungsstrukturen, die sich als epistemische Maximen darstellen lassen, typischen konzeptuellen constraints. Der der Freiheit entsprechende epistemische Grundbegriff ist dabei sicherlich die Wahrheit. Normative Forderungen an epistemische Maximen oder an Überlegungsstrategien werden sinnvollerweise auf die Maximierung von Wahrheit abzielen, wie immer dies wahrheitstheoretisch dann realisiert werden mag. Kants epistemische Maximen sind normativer Natur, indem sie einen bestimmten Anspruch an die Rationalität des epistemischen Subjekts formulieren. Und zwar soll dieses Subjekt nach Kant so denken, dass objektive Wahrheit im Sinne von Autonomie, Universalität und Konsistenz hergestellt wird. Ist es aber richtig, dass sich Maximen als Strukturen komplexer Handlungs- oder Überlegungsprozesse realisieren müssen, dann ist die epistemische Ethik, die sich aus einem solchen Anspruch ergibt, eine personale oder Tugendethik: sie verlangt vom Subjekt nicht, gewisse Prinzipien zu vertreten, sondern in einer gewissen Weise zu sein, und zwar deshalb, weil die geforderten Überlegungsstrukturen sich aus dem Begriff der Überzeugung selbst als wahrheitsintendierend ergeben. Hätte Kant einen epistemischen Imperativ formuliert, dann wohl in der folgenden Form: (W) Denke nach Maximen, die die Wahrheit deiner Überzeugung maximieren. Diese Maximen müssten durch eine Rationalitätstheorie spezifiziert werden, die ganz andere Aufgaben hätte, als die formale Theorie der Rationalität. Während diese einen bestimmten Standard, die formale Logik und die Entscheidungstheorie, als rational ansetzt, müsste die hier geforderte Rationalitätstheorie die epistemischen Prozesse des Subjekts überhaupt zum Thema haben und ihnen entsprechende rationale Tugenden, d.h. kontextsensitiv beste Überlegungsstrukturen, begründen. So ist z.B. die Menge der Evidenz, die für eine Aussage benötigt wird, abhängig von externen Parametern: Fällt ein Kind ins Wasser, wird der Überlegungsprozess kurz sein und auf empirische Bestätigung verzichten können; geht es um die Verurteilung eines Angeklagten kann die Beweisaufnahme nicht ausführlich genug sein; ein mathematischer Beweis erfordert den Einsatz einer formalen Sprache etc. Der epistemische Zweck der Wahrheitsfindung ist in diesem Sinne mit praktischen Zwecken gekoppelt, die auf die Auswahl der wahrheitsintendierenden Strategien Einfluss nehmen. Hookway hat darauf aufmerksam gemacht, dass epistemische Werte sich ebenso wie praktische Werte emotional manifestieren können, so dass z.B. ein Gefühl von Unruhe bei einer Schlussfolgerung darauf hinweisen kann, dass gegen den Standard der Konsistenz verstoßen wurde. Intuitionen sind häufig solche implementierten Werte; sie beanspruchen Rationalität in diesem Sinne und sind deshalb ebenfalls Gegenstand einer Tugendlehre der Rationalität. 731 Obwohl dies eine Theorie des epistemischen Subjekts wäre, ist es keine Tugendethik im Sinne der Neoaristoteliker.40 Die neoaristotelische Tugendethik zeichnet sich durch eine bestimmte Position im moralischen Begründungsdiskurs aus, indem sie Moral in der Person des idealen moralischen Akteurs, des aristotelischen Phronimos, verankert. Moralisch gut nach Auffassung der Tugendethiker ist das, was der ideale Akteur tun würde; analog müsste man hier sagen: epistemisch gut ist, was der ideale Denker glaubt. Dagegen wurde nun ein deontologisches Kriterium für epistemische Tugend geltend gemacht: epistemisch gut, müsste man sagen, ist nicht was der kluge Mann tun würde, sondern was der Wahrheitsfindung dient. Literatur Austin, J.L. (1961): “A Plea for Excuses”, in: Philosophical Papers. Oxford: Clarendon Press, 123–152. Aristoteles (1985): Nikomachische Ethik. (= NE) auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hrsg. von Günther Bien, 4. durchgesehene Auflage. Hamburg: Meiner. Church, J. (2002): “Taking it to the Heart: What Choice do we have?”, in Monist 85, 361–380. Cottingham, J. (2002): “Descartes and the Voluntariness of Belief”, in Monist 85, 343– 360. Davidson, D. (1980): “How is Weakness of Will Possible?”, in Essays on Actions and Events. Oxford: Clarendon Press, 21–42. Frankfurt, H. (1971): “Freedom of the Will and the Concept of a Person”, in Journal of Philosophy 68, 5–20. Frege, G. (1967): „Über Funktion und Begriff“, in Kleine Schriften, Hrsg. I. Angelelli. 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