Untitled - Sieveking Verlag

Catherine Lampert
Frank Auerbach
Gespräche und Malerei
Aus dem Englischen von Tracey Evans
Inhalt
Vorwort
6
1.
England wird zur Heimat
10
2.
Ein Maler macht sich einen Namen
54
3.
»Malen ist meine Form des Handelns«
84
4.
Das beste Spiel
118
5.
Formensprache und Motiv
Schlusswort
166
206
Anmerkungen 216 • Ausgewählte Literatur 227
Zeittafel 229 • Illustrationen und Bildnachweis 231
Danksagung 235 • Register 236

Vorwort
Während der ersten Jahre, in denen ich für Frank Auerbach Modell saß, war
es schwierig, diesen Menschen, der so kenntnisreich war und so begabt darin,
seinen Gedanken und Erinnerungen Ausdruck zu verleihen, mit jenem Menschen zu vereinen, der nahezu all seine Zeit und sein ganzes Sein einem sehr
schmutzigen und körperlich wie geistig mühevollen Prozess in einem be­engten Raum widmete. Dieser Maler verweigerte nicht nur öffentliche Verpflichtungen und Termine, er ging auch nur selten unter Leute, fast nie auf
Reisen, und wenn, dann nur für ein paar Tage.
Ich studierte am University College London und an der Slade, als ich
im Januar 1967 Auerbachs Gemälde in seiner Ausstellung in der Galerie Marl­
borough sah. Sie machten auf mich nachhaltigen Eindruck: Die Furchen und
Stränge aus Farbe zeugten von einer radikalen Abkehr in der Darstellung,
während die menschlichen Sujets komplizenhaftes Einvernehmen nahelegten.
Kennengelernt haben wir uns rund zehn Jahre später, als man mir als Kura­
torin für die Hayward Gallery eine Werkschau des Künstlers übertrug. Die
Ausstellung öffnete im Mai 1978 in London, und im Monat darauf begann ich,
ihm Modell zu sitzen. Beim Aufzeichnen und Redigieren eines Gesprächs für
den Katalog erkannte ich, dass Auerbachs freimütige und kompromisslose
Aussagen und sein Verwenden von Analogien einen Leitfaden liefern zu der
Art, wie er denkt. Dabei war es ihm nie darum gelegen, Kunst zu entmystifizieren: »Es gibt einen Satz von Robert Frost über seine eigene Dichtung; ich
weiß nicht, was er über Lyrik aussagt, und ich verstehe kaum, was er über das
Malen andeutet, aber er scheint mir absolut wahr. Er sagte: ›Ich möchte, dass
das Gedicht wie Eis auf einer Herdplatte ist – auf dem eigenen Zerschmelzen
(be)ruhend.‹ Nun, ein großes Gemälde ist wie Eis auf einer Herdplatte. Es ist
eine Form, die auf ihrem eigenen Zerschmelzen zu Materie und Raum (be)ruht: Unentwegt bewegt sie sich vorwärts und rückwärts.«
Frank ist berühmt dafür, dass er sich Eingriffen in sein Privatleben widersetzt. Sieht man von mehreren Seiten im Katalog der Royal Academy of Arts
zu seiner Werkschau 2001 ab, reduzieren sich die Zeittafeln zu seinem Leben
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Kapitel 1
Zeitkarte.« Trotzdem kaufte er den Kindern einen schwarzen Hund und einen
Hamster. Im August 1949 malte er über eine Woche hinweg ein langes Wandbild für das Kinderzimmer: eine Jahrmarktkomposition mit Zelt und Artisten,
dargestellt in Kegeln und Zylindern. »Im Lauf der Zeit begreife ich, dass in
gewisser Weise – einer formalen Weise – alles, was ich getan habe, darauf
zurückgeht.« Die Handhabung von Körpern und Raum ist der in den Bildern,
die er 1950 an der St. Martin’s begann, bemerkenswert ähnlich.55 Frank und
Stella besuchten gemeinsam Varietés – das Metropolitan, den Chelsea Palace,
das Hackney Empire. Es waren die letzten Jahre dieser sterbenden Theater,
und sie sahen nicht nur George Robey und Max Miller, sondern auch Stars,
die erst im Kommen waren, wie Harry Secombe und Michael Bentine. Frank
imitierte sie sehr gut und unterhielt damit ihre Kinder.
In den Jahren 1949 bis 1951 saß Stella ihm für ein paar flüchtige Studien
Modell, ein Schulterporträt, in dem sie einen Lieblingshausmantel aus dunkelrotem Cordsamt trägt. Das Kellerzimmer hatte seine Nachteile; einige
Pensionsgäste kamen ständig mit Anliegen herunter. Am störendsten war wohl
der Schriftsteller Len Deighton, der sich, ohne zu fragen, an der Kohle bediente
und auf dem Herd übel riechende Aale kochte. Ende 1950 zog Auerbach aus,
verbrachte Freitag-, Samstag- und Montagnacht bei Stella und arbeitete drei
Abende pro Woche mit ihr als Modell. Stella kehrte von ihrer Arbeit als Sozial­
arbeiterin im East End zurück, setzte Essen auf und überredete die Kinder, ein
wenig leise zu sein, und posierte; zunächst für eine Stunde, mit einer Fünf-­
Minuten-Pause, um nach dem Essen zu sehen, gefolgt von einer weiteren
Stunde. Dann war die Sitzung vorüber, und sie aßen zu Abend.
Als sie anfing, nackt zu posieren, begriff Stella, welche Ernsthaftigkeit
und welchen Einsatz das erforderte. Im Ganzfigur-Porträt von 1952, das den
bereits erwähnten Durchbruch brachte und viele Jahre in ihrem Haus hing,
war ihr die Rubens’sche Anmutung ihres Körpers recht, aber ihre Beine waren
ihr peinlich. Auerbach erinnerte sich 2012 an die Umstände, unter denen er
Stella viele Jahre malte: »Jedes einzelne Bild von Stella, absolut ohne Ausnahme, habe ich auf den Knien gemalt, wobei das Bild auf einem sehr, sehr
farbverschmierten Stuhl stand und Stella über einen sehr langen Zeitraum
Modell saß.« In der Earl’s Court Road saß Stella entweder in einem Lehnstuhl
neben dem Kamin oder lag auf einem Bett, während Frank von Farbtöpfen
umgeben war (nach seinem Auszug musste die Farbe von dort, wo er lebte,
»angeschleppt« werden). Zeitungen bedeckten den Boden, damit sich die Farbe
50
E.O.W., Half-length Nude, 1958
Frank im Atelier mit Porträts von Leon Kossoff aus dem Jahr 1954, um 1955
Head of Leon Kossoff, 1954
Interior Vincent Terrace, 1982–1984
Das Atelier mit dem unfertigen Interior Vincent Terrace (1982–1984), 1984
Kapitel 5
Porträtierten keinen Gefallen tut, bis man begreift, dass Auerbach auf Osmose
hofft.«30 Angesichts eines Modells, das als viel beschäftigter Autor in New York
lebte, war es aus Sicht des Malers eine Erlösung, nach nur 14 Sitzungen fertig
zu sein. Auerbach schrieb Hughes, was »vor mir auftauchte«, war eine »recht
düstere und aufwändige« Zeichnung, »die ich so nicht vorhergesehen hatte
und von der ich hoffe, dass sie fertig ist«.31
In der Prince’s Drawing School fragte William Feaver 2007, ob Auerbachs
Gespräche mit Modellen in der ersten Sitzungsstunde eine Reaktion auf
den Gesprächswunsch der Modelle sei oder etwas Nützliches. »Lange Jahre, in
den ersten 25 Jahren, habe ich gar nicht geredet, und das führte zu einer
bestimmten Art von Gemälde, für die ich mich nicht schäme. Aber nach und
nach kam es mir vor, als nähme man an einem Kostümball der Kunst teil, zu
dem Leute im Kostüm kamen: als Streifenmann oder Klecksemann oder
Gemälde-vom-Treibhaus-auf-eine-bestimmte-Weise-Mann. Und es schien mir,
dass da etwas an Menschen und ihrer Bewegung war, am Reden und so fort,
das den strengen Köpfen entglitten sein mochte, und – vielleicht ist es einfach
Schwäche – allmählich ertappte ich mich beim Sprechen. Aber ich rede mehr
mit Ihnen als mit jedem anderen.«32
Mit den Gemälden von Jake, Julia und mir, den Modellen aus den Sieb­
zigerjahren, begann Frank, ohne Pause von Bild zu Bild zu gehen, bis man
akzeptierte, dass dies ein unbefristetes Arrangement war, und so wurde es Teil
des eigenen Lebens. David Landau begann 1982 zu sitzen; Ruth Bromberg saß
ihm von 1992, bis sie 2008 zu krank wurde; William Feaver sitzt ihm seit 2003;
Auerbach arbeitet jetzt nach fünf Leuten, stets in zweistündigen Sitzungen
mit Ausnahme von Julia, die abends und am darauffolgenden Morgen in Finsbury Park sitzt.
Wenn ich versuche, mich an Auerbach mit 47 zu erinnern – als ich sein
Modell wurde –, glaube ich, dass er, nicht nur im Atelier, enthusiastischer,
waghalsiger, gewissermaßen improvisierter war als jetzt. Als ich jünger
war, warf ich mich in tagträumerische Szenarien, und es gibt ein Gemälde
von 1986, bei dem meine Tränen und verzogenes Gesicht mit den letzten
Minuten zusammenfallen, in denen das Bild Gestalt annahm. Nach 16 Jahren
bot ich an, meine Pose zu ändern und – statt immer mit dem Blick nach
vorn zu sitzen und nur die Kleidung zu ändern, wenn ein neues Bild begonnen
wurde – zu stehen oder zu liegen. Frank erwog die Idee. Vor meinem nächsten
Besuch schrieb er mir, warum er sie verworfen hatte. »Ich habe eine Art
192
Head of Catherine Lampert, 1986
Kapitel 5
dann versickert das Gespräch, während die Arbeit in den Vordergrund tritt.
Lizzy, meine Partnerin, holt mich manchmal im Atelier ab, dann flackert
Franks Rede wieder auf wie eine Flamme, die mit der neuen Person, die den
Raum betritt, frischen Sauerstoff erhält ... Dass Lizzy Schauspielerin ist, hilft,
denn Frank liebt und bewundert alle Schauspieler.«40 Jedes seiner Modelle lässt
Details einfließen, über Kunst und Künstler, andere Generationen, aktuelle
Sorgen. Frank interessiert sich für das, was seine kleine Gruppe aus Freunden
und deren Familien umtreibt und erlebt. Zeichnungen von Landaus neunjährigen Zwillingen und deren Abenteuern hängen über dem Schreibtisch an der
Atelierwand. Frank sagte kürzlich: »Ich bedaure, dass ich nicht da sein werde,
um zu sehen, was Max und Mia Landau tun werden.«
Aus heutiger Sicht ist es undenkbar, dass eines der fünf verbleibenden
Porträtmodelle aufhört. Wenn Frank Dinge sagt wie: »Man versucht, Arbeit zu
erledigen, bevor man stirbt« (das war 1998), verstehen wir das als eine Art
Hinweis, dass Sterblichkeit etwas so Offensichtliches ist, so verbunden mit
Sentimentalität für die, die zurückbleiben (keine von Auerbachs Schwächen),
dass öffentliche Trauer oder stete Sorgen um eine schwache Gesundheit verschwendete Zeit sind. Als ich Frank frage, warum er bei denselben Modellen
bleibe, antwortet er: »Weil ich mich für sie interessiere, und ich weiß, dass du
dazu gehörst, und weil es so lange dauert, sodass die Person, wenn ich ein Bild
vollende, sich verändert hat, und es gibt auch eine gewisse Sicherheit zu
wissen, dass sie sitzen können, und ...« Ich werfe ein »Und sie sind so begierig,
Modell zu sitzen!« Die Porträtierten altern und verändern sich, und mit der
Zeit wird er involvierter: »Du hast gewisse Dinge gemacht und hoffst, etwas
anderes zu tun, und du hoffst, es wird in irgendeine Richtung weiter hinausführen. Ich weiß, es ist nur ein Aspekt, aber es gibt einem eine Art von Maßstab;
man hat das gemacht, also wird man diese Dinge nicht wieder tun, also betrete
ich Neuland.«
Ich fragte mich, was es mit den Selbstporträts auf sich hat, die gelegentlich in den frühen Jahren entstanden: zwei Zeichnungen (1958/59), ein
Gemälde (1961–1965) und ein späteres Bild in der Sammlung der National
Portrait Gallery, das 1994 bis 2001 über sieben Jahre hinweg entstand. Nun
entstehen sie regelmäßig. Er sagte zu Jackie Wullschlager, der 2012 für die
Financial Times schrieb: »Als ich jung war, schien mein Kopf langweilig: Den
Narzissmus von Courbet oder Dürer habe ich nie gehabt, die sich offenbar für
toll aus­sehende Kerle hielten. Als ich faltiger wurde, Säcke unter den Augen
200
Self-Portrait II, 2013