Notiz zu Mimesis

A rts & Lettres
Martin Vialon
Notiz zu Mimesis
Der Romanist und Kulturphilosoph Erich Auerbach (1892-1957) lehrte seit einem
Jahr am amerikanischen Pennsylvania State College, als er dem Germanisten
Fritz Strich (1882-1963) die Danksagung übermittelte, die der Besprechung seines
Buches Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur galt.
Strich zählte zu den anti-nationalsozialistisch eingestellten Literaturwissenschaftlern und unterrichtete von 1929 bis 1953 an der Universität Bern. Er hatte Auerbachs Hauptwerk, das 1946 im Berner Francke-Verlag erschienen war, im September 1947 in der Schweizer Tageszeitung Der kleine Bund rezensiert. Der
Stadt- und Universitätsbibliothek Bern, die Auerbachs Brief unter den Nachlasspapieren Strichs aufbewahrt, ist zu danken, dass diese Zuschrift erscheinen kann.
Der hier gedruckte, schon vor einiger Zeit verfasste Essay stellt die Keimzelle einer Interpretation dar, die hinsichtlich weiterer literaturgeschichtlicher und kulturphilosophischer Implikationen mit dem dazugehörigen bibliographischen Apparat
(Zitatnachweise) inzwischen mit der Epistel des Romanisten unter dem Titel „Erich
Auerbachs Mimesis-Brief an Fritz Strich (1948) im Kontext ästhetisch-widerständiger Formgebung als Lebensprinzip“ in dem von Christoph J. Bauer, Britta Caspers und Werner Jung herausgegebenen Band Georg Lukács: Totalität, Utopie,
Ontologie (Duisburg, Universitätsverlag Rhein-Ruhr, 2012, 133-179) veröffentlicht
wurde.
Cambridge (Massachusetts, USA), 15. Dezember 1948
Lieber Herr Strich,
vor einigen Tagen erhielt ich, etwas verspätet, Ihre Rezension von Mimesis, und
möchte Ihnen sagen, wie sehr es mich gefreut hat, gerade von Ihnen in dieser Weise
besprochen zu werden.
Der Gedanke auch die Lyrik in der gleichen Weise, das heißt nach Höhenlagen des
Stils zu behandeln, ist mir oft gekommen. Das wäre, ebenfalls mit Interpretationen, gut
durchführbar; es würde manches Neue herauskommen, und die Epochen würden sich
genauer gegeneinander absetzen. Aber ich zweifle, ob ich noch dazu kommen werde.
Ich habe viele Pläne und schreibe langsam.
Mit der Hoffnungslosigkeit der Diskussion über „Realismus“ und „Wirklichkeit“
meine ich, dass diese Worte keiner Diskussion, sondern einer Festlegung bedürfen –
man muss sich einfach darüber einigen, was man mit ihnen ausdrücken will, denn sie
haben nur den Sinn, den wir uns entschließen ihnen beizulegen. Wenn mir einer sagt,
Racine oder Goethes Iphigenie seien realistisch, oder ein anderer, Rabelais oder Ibsen
seinen realistisch, so verstehe ich zwar meistens, was damit gemeint ist, aber wissenschaftlich haben solche Aussagen, wo die Termini jedes Mal definiert werden müssen,
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nicht viel Wert – und Diskussionen solcher Begriffe führen nach meiner Erfahrung nur
zu Hypostasierungen, wo die Diskutierenden aneinander vorbeireden. Sie wissen ja,
dass ich kein Positivist bin, aber ich habe doch zu viel mit naturwissenschaftlich denkenden Menschen gelebt, um an solchen Diskussionen Freude zu haben.
Mit meinen besten Wünschen für 1949 und freundlichen Grüssen
Ihr sehr ergebener
Erich Auerbach
Die Epistel ist im lapidaren Schreibstil gehalten und verkörpert einen Dankes- und
Geschäftsbrief, wie dieser als Mitteilungsform zwischen zwei Philologen üblich
war. Der Verzicht des Titels bei der Anrede „Lieber Herr“ ist keineswegs
unkonventionell, denn sie zählt innerhalb der deutschsprachigen Briefkultur seit
dem 19. Jahrhundert zum akademischen Usus. Zu Beginn seiner akademischen
Laufbahn hatte Strich von 1915 bis 1929 in München gelehrt, wo er sich mit
Heinrich Wölfflin und dessen Standardwerk Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
(1915) beschäftigte.
Wölfflins Methode stilgeschichtlicher Kunstbetrachtung hatte Strich auf die
Philologie übertragen, wie sein Frühwerk Deutsche Klassik und Romantik, oder
Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich (1922) eindrücklich zeigt. Auerbach,
der nach dem Ersten Weltkrieg das Romanistikstudium in Berlin aufnahm und in
Greifswald mit der Dissertation Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien
und Frankreich (1921) beendete, hatte gelegentlich an Karl Vosslers Münchener
Vorlesungen teilgenommen und könnte mit Strich während dieser Zeit in Verbindung getreten sein. Der Brief deutet ebenso auf die später erfolgte Einladung hin,
die Festschrift zum 70. Geburtstag von Strich mit einem Beitrag zu versehen.
Diese Festgabe, die von Walter Henzen, Walter Muschg und Emil Staiger unter
dem Titel Weltliteratur im Jahr 1952 herausgegeben wurde, enthält Auerbachs bekanntesten Aufsatz Philologie der Weltliteratur, in dem er die kulturellen Standardisierungsprozesse der Nachkriegszeit und die gesellschaftskritische Funktion der
Philologie als Lebenswissenschaft näher behandelte.
Blicken wir auf die Rezension, die den Brief Auerbachs veranlasste, wird die
Exilsituation erinnert, der das Buch seine Entstehung mitverdankt. Gleich zu Beginn der Besprechung hatte Strich betont: „Denn das Abendland war in ein Chaos
gestürzt und ein Gelehrter in der Türkei von der europäischen Geisteswissenschaft, soweit es überhaupt noch eine solche gab, fast abgeschnitten. Es gehörte
schon viel Liebe zu der abendländischen Geschichte dazu, um diese Hindernisse
zu überwinden.“ Was war geschehen? Von dem genannten Vossler war Auerbach
an Leo Spitzer nach Marburg vermittelt worden, wo er sich mit der kulturhistorischen Studie Dante als Dichter der irdischen Welt im Jahr 1929 habilitierte und
darin die Grundlagen für das spätere Mimesis-Buch legte, das die Aufmerksamkeit
von Strich erregte. Auerbach erkennt speziell die sittliche Idee Dantes, dass die
sozialen Bedingungen der Außenwelt auf die Charakterbildung einwirken und dass
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sich gemäß der mittelalterlichen Ordnung das göttliche Endschicksal des Menschen mit der irdischen Entelechie verbindet. Die Beziehung zwischen göttlicher
Vorsehung und dem Verlauf des menschlichen Lebens sieht Dante im irdischen
Gestus alltäglicher Handlungen gespiegelt.
Als Auerbach von seinem Marburger Lehrstuhl aufgrund der antisemitischen
Rassegesetze im Herbst 1935 vertrieben wurde, hatte Vossler entscheidenden Anteil daran, dass er ein Jahr später in Istanbul ein zweites Mal Spitzers Nachfolge
antreten konnte. Bis zu seiner Weiterwanderung in die USA 1947 lebte Auerbach
im Emigrantenviertel von Bebek unter der Adresse „Arslanli Konak“. Zu seinen türkischen Schülern und Freunden hatten Süheyla Bayrav, Safinaz Duruman, Fikret
Elpe, Saffet Tanman, Minâ Urgan, Güzin und Abidin Dino sowie Sahabattin und
Bedri Rahmi Eyüboğlu gezählt. Einige Abschnitte von Mimesis wurden zwischen
1942 und 1945 hinter den Mauern des Dominikanerklosters San Pietro di Galata
geschrieben. Akademische Forschung war während der Modernisierung türkischer
Universitäten, die Atatürk einleitete, mit erheblichen Erschwernissen für einen Philologen verbunden, der sich nicht auf die Deutung islamischer Literatur spezialisierte. Auerbach betrieb europäische Literatur- und Geistesgeschichte und fand
keine bibliograpischen Hilfsmittel, mittels derer seine Mimesis-Studie hätte geschrieben werden können. Er war auf seine Privatbibliothek und die Unterstützung
deutscher Freunde angewiesen, die ihn mit Fachliteratur versorgten. Doch der
apostolische Delegat Angelo Giuseppe Roncalli (1881-1963), der in Istanbul von
1935 bis 1944 wirkte und von 1958 bis zu seinem Tod als Johannes XXIII. das
Pontifikat ausübte, hatte die klösterliche Benutzung der Enzyklopädie Patrologia
cursus completus, series Graeca et Latina gestattet. Auerbach konnte das Sammelwerk in Mimesis zur Abfassung seiner auf Augustin bezogenen Auslegung des
christlichen Heilsmodells heranziehen.
Vor allem beruht Mimesis auf einer Selbstbeschränkung, denn Auerbach hatte
keine systematische Geschichte des europäischen Realismus angestrebt. Gleichwohl erstreckt sich der Zeitraum von der alttestamentlich-jüdischen, homerischen
und römischen Wirklichkeitsdarstellung, in der das Fundament abendländischer
Kultur gelegt wurde, bis zur modernen ‚Bewusstseinsspiegelung‘ im Roman bei
Virginia Wolff, Proust und Joyce, deren Erzählformen mit der filmischen Nachahmung verglichen werden. Die Nachteile der genrebedingten Lücken erkannte
Strich, indem er in seiner Rezension betonte: „Die epische Gattung erscheint gegenüber dem Drama bedeutend bevorzugt; und die Frage nach einer realistischen
Lyrik ist nicht gestellt.“ Auerbachs briefliche Replik, die genau diesen kritischen
Punkt eingesteht, deutet die Probe auf das Exempel an, denn er hatte die Lyrik
Baudelaires in dem Aufsatz „Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene“ (1950)
hinsichtlich ihres sublimen Stils untersucht. Die schwermütigen Gedichte drücken
nicht mehr die Kräfte des Glaubens und der Transzendenz aus, sondern kreieren
Bilder, die preziös das Hässliche und das Schöne als sinnliche Erfüllung erzeugen.
Gegenchristliche Erlösungsmomente als dämonischer Rausch reflektieren zwar
traditionelle Passionsmotive, aber sie stellen nicht mehr wie in der mittelalterlichen
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Dichtung die Quelle christlich-hoffnungsvoller Weltgeschichte dar. Das lyrische Ich
ist in der Welt obdachlos geworden, und der Künstler erscheint als ein „Unheilkünder, der keine andere Wirkung von seinen Zuhörern erwartet als Bewunderung für
seine Kunstleistung“, wie Auerbach in seinem Essay sagt.
Aber Strich hatte den Gattungsbegrenzungen in Mimesis ihren pädagogischen
Wert beigemessen: „Die wichtigste Beschränkung aber ist die, dass [] einige
Leitgedanken präzisierend herausgehoben sind []: wie die antike und von jedem
Klassizismus wieder aufgenommene Idee der ‚Höhenlagen der literarischen Darstellung’ im christlichen Mittelalter und dann wieder in der modernen Literatur seit
den französischen Romanen gestützt wurde; wie die klassische Regel, nach welcher die alltägliche und besonders zeitgenössische und soziale Wirklichkeit nur im
Rahmen einer niederen oder mittleren Stilart, etwa in der komischen Dichtung, seinen Platz haben dürfte, der hohe Stil dagegen nur auf die erhabenen, schönen,
zeitlosen Seiten der Wirklichkeit anzuwenden sei, in der mittelalterlichen und modernen Literatur zerbrochen wurde, wie Stilmischungen auftraten, seitdem die Geschichte Christi mit ihrer rücksichtslosen Mischung von alltäglicher Wirklichkeit und
erhabenster Tragik das Beispiel gab.“ Methodologisch arbeitete Auerbach die ästhetische Stiltrennungsregel am Beispiel literarischer Einzelphänomene heraus.
Jedem Kapitel wird eine ausgewählte Textstelle vorangestellt, deren Interpretation
die sozialen und ästhetischen Merkmale einer Epoche hervortreten lässt. Die Definition als Antipositivist, die Auerbach in seinem Dankesbrief formuliert, verbindet
ihn mit seinen alten marxistischen Freunden Walter Benjamin, Ernst Bloch, Siegfried Kracauer, Werner Krauss und Georg Lukács. Zugleich verweist das antipositivistische Bekenntnis auf die induktive Methodik, die sich vom deduktiven Vorgehen naturwissenschaftlicher Verfahren unterscheidet.
Die elementare Erkenntnis von Auerbachs Epistel besteht darin, dass die Ausdrucksformen des menschlichen Geistes nicht isoliert betrachtet, sondern nur aus
ihrem historischen Zusammenhang hergeleitet werden können. Begriffliche Termini, wie sie in dem Meisterwerk Mimesis fixiert wurden, sind notwendig, um die
politischen und philosophischen Gehalte der Dichtung synthetisch zur Geltung zu
bringen. Gleichwohl bezeugt der Brief an Strich, dass Auerbach „mit naturwissenschaftlich denkenden Menschen gelebt“ habe. Feststehende Begriffsdefinitionen
naturwissenschaftlichen Denkens müssen gegenüber der eigenen, elastisch gehaltenen geisteswissenschaftlichen Terminologie, abgegrenzt werden. Nichtsdestoweniger zählte zum Kreis nominalistischer Philosophen mit naturwissenschaftlichem Verständnis, die Auerbach nahe standen, auch Ernst von Aster
(1880-1948), der 1933 aufgrund seiner sozialistischen Überzeugung von der Universität Gießen vertrieben wurde und über das Zwischenemigrationsland Schweden 1936 nach Istanbul kam. Wie Strich hatte Ernst von Aster als einer der ersten
Rezensenten Mimesis in der von ihm selbst, Walther Kranz, Macit Gökberk,
Takiyettin Mengüşoğlu und Mazhar Şevket İpşiroğlu in Istanbul herausgegebenen
Zeitschrift Felsefe Arkivi 1947 besprochen.
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Das ausführliche Referat, das im deutschen Original und in türkischer Übersetzung erschien, bezieht sich besonders auf das Montaigne-Kapitel: „Für den
Philosophen interessant ist der Abschnitt über Montaigne und seinen ‚introspectiven Realismus‘ – die Darstellung des eigenen Lebens als Ausgangspunkt, um das
menschliche Leben überhaupt zu verstehen, das irdische Menschenleben, in dem
Seele und Körper unlösbar aneinander gebunden sind und das das einzige ist, das
den Menschen als Aufgabe gestellt ist. Dies Leben – das kreatürliche Leben, aber
ohne den christlichen Rahmen, wird hier mit Auerbachs Worten problematisch –
problematisch, aber nicht tragisch.“ Vergleicht man dieses Argument mit der Epistel an Stich, so wird evident, dass die im gängigen Wissenschaftsbetrieb der Geisteswissenschaften vorherrschenden „Hypostasierungen“ durch Auerbachs konkreten Zugang zum Sprachmaterial negiert wurden: Mimesis ist kein bloßes Blendwerk, das einem literarisch-philosophischen Gedanken gegenständliche Realität
zuschreibt, sondern ein Buch, das im Sinne Montaignes die humaine condition
darstellt.
Der Abschnitt, in dem die Essays Montaignes untersucht werden, gehört zu den
wichtigsten, denn die relativistische Erkenntnismethodik des französischen Philosophen entspricht Auerbachs eigener Denkweise, die den Zweck der skeptischen
Selbsterkenntnis verfolgt: „Montaigne zielt bei seiner Untersuchung des beliebigen
eigenen Lebens im ganzen auf die Erforschung der humaine condition überhaupt,
und er offenbart damit das heuristische Prinzip, dessen wir uns, bewusst oder
unbewusst, in verständiger oder unverständiger Weise dauernd bedienen, wenn
wir die Handlungen anderer Menschen zu verstehen und zu beurteilen bemüht
sind, seien es die Handlungen unserer nächsten Umgebung oder [] politische
und geschichtliche: wir legen an sie die Maßstäbe, die uns unser eigenes Leben
und unsere eigene innere Erfahrung bieten; so dass unsere Menschen- und Geschichtserkenntnis abhängig ist von der Tiefe unserer Selbsterkenntnis und der
Weite unseres moralischen Horizonts.“ Auerbach insistiert in diesem Mimesis-Passus darauf, dass praktische Erkenntnis am menschlichen Subjekt zu gewinnen sei.
Die „innere Erfahrung“, die man nicht wie eine lexikalisch-stilistische Sprachanalyse erlernen kann, spielt für das historische Verständnis der ästhetischen Gegenstände eine wesentliche Rolle. Sie stellt eine Ordnungskategorie dar, die Auerbach
zudem aus Giambattista Vicos historischer Hermeneutik ableitete und auf den zu
verstehenden Gegenstand wie auch auf den Verstehenden bezieht. Das jeweils
einzelne Satzgefüge, das er aus einem Text extrahiert, wird der beobachtenden
Analyse zugeführt. Diese Konzentration auf das kleinste sprachliche Detail und
scheinbar unbedeutende und alltägliche Phänomen einer menschlichen Geste
oder Handlung gewährt Einblicke in das Ganze eines Werkes oder einer Epoche.
Auerbachs Erkenntniskritik, die in seinem Brief an Strich und vor allem in dem
Montaigne-Kapitel veranschaulicht werden, verbindet sich mit der Raum-Zeit-Problematik im Sprachkunstwerk, in dem zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit zu
unterscheiden ist. Aus diesem Erzählverhältnis geht die Situierung des historischen Individuums in Mimesis genauso hervor wie die Epochenumbrüche, die mit
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der Passion und Kreuzigung Christi, der Französischen Revolution oder der Erfindung des Films verbunden sind. Innerhalb dieser geschichtlichen Ereignisse vermag sich das Individuum – jeweils nach seiner sozialen Lage – im sermo sublimis,
im sermo humilis oder in gemischter Redeform auszudrücken. Exemplarisch wird
diese auch literatursoziologische Methodik anhand des antiken Schelmenromans
Satyricon demonstriert, der von dem römischen Dichter Gaius Petronius Arbiter
(14 v. – 66 n. Chr.) verfasst wurde. Auerbach bricht eine Szene aus dem Kapitel
Das Gastmahl des Trimalchio heraus, worin der Ich-Erzähler Encolpius im „perspektivischen Verfahren“, das an die moderne Realistik Prousts erinnert, über Gespräche berichtet, die sich an der Tafelrunde des reich gewordenen Parvenus
ereignen.
Der Roman reflektiert als „Zeitgemälde“ die Epoche der kaiserlichen Tyrannenherrschaft Neros und sei „rein komischen Charakters“, weshalb nach antiker Stillehre der niedrige Jargon das ordinäre Verhalten der Gäste nachzeichne. Über die
näheren Umstände der Freilassung der süditalienischen Sklaven, die den Typus
des erblichen Rentiers als neue Gesellschaftsklasse bilden (Fortunata, die Frau
des Trimalchio, misst „das Geld mit dem Scheffel“), ist von Petronius nichts zu
erfahren, so dass sich die Lebenspraxis einer dem bildungslosen Müßiggang
verfallenen Neureichenschicht nur als ironische Brechung widerspiegeln kann:
„Die Kritik der Laster und Auswüchse, mögen auch noch so viel Personen als lasterhaft und lächerlich dargestellt werden, stellt das Problem individualistisch, so
dass die Kritik der Gesellschaft nie zu einer Aufdeckung der sie bewegenden
Kräfte führt. Es ist daher auch hinter dem ganzen Getriebe, das Petronius uns vorführt, nichts spürbar, was uns die Dinge aus ihrem ökonomisch-politischen Zusammenhang begreiflich machte.“ Der physiognomisch genaue Blick gestattet Auerbach, die Bedingtheit des antiken Geschichtsbewusstseins zu erkennen: „Denn
gerade in den geistigen und ökonomischen Verhältnissen des alltäglichen Lebens
offenbaren sich die Kräfte, die den geschichtlichen Bewegungen zugrunde liegen.“
Hiermit wird noch einmal deutlich, dass Erich Auerbachs sozialhistorisch-philosophische Philologie auf der mit seinem alten Freund Walter Benjamin geteilten Erkenntnis beruht: die Versenkung in den literarischen Einzelgegenstand ermöglicht,
dass das geschichtliche Tiefengeschehen zu entdecken ist, das sich unterhalb der
Außenseite des Alltags abzeichnet.
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