Bio-Implantate Apotheken Umschau A 15/05 /Forschung & Wissen akt./Medizintechnik/ 62 52055 Bio-Implantate Medizintechnik Schrauben, Stifte und Platten, die sich selbst auflösen, wenn sie ihre Funktion erfüllt haben: Trotz mancher Probleme setzen Ärzte in einigen Bereichen auf solche Produkte Die Idee ist bestechend, und sie ist keine bloße Vision mehr: Implantate aus biologisch abbaubaren Materialien, eingesetzt zum Beispiel bei Knochenbrüchen, lösen sich auf, nachdem sie ihre Stützfunktion erfüllt haben. Anders als Implantate aus Metall verursachen sie keine Allergien, hinterlassen keinen Abrieb im Körper und ersparen vielen Patienten eine zweite Operation. In einigen Bereichen wurde die Idee bereits verwirklicht (siehe Folgeseiten). Das dabei am häufigsten verwendete Material ist Milchsäure, die chemisch zu langen Molekülketten zusammengefügt wurde. Der Körper baut diese zu Kohlendioxid und Wasser ab. Üblicherweise verwenden Chirurgen heute Platten und Schrauben aus Titan, wenn sie zum Beispiel einen gebrochenen Knochen zusammenfügen, berichtet Professor Michael Nerlich, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie an der Universitätsklinik Regensburg. Das leichte, aber feste Metall verbindet sich besser mit dem Körper und führt seltener zu Infektionen als der zuvor gängige Stahl. „Es gibt jedoch vereinzelte Erfahrungsberichte von Patienten, die auch auf Titan reagieren“, berichtet Dr. Michael Gabel, Leiter des Fußzentrums am Agaplesion-Bethesda-Krankenhaus in Stuttgart. „Für sie wären abbaubare Implantate eine Hilfe.“ Am meisten profitieren würden Patienten, bei denen das Titanimplantat wieder entfernt werden muss – etwa weil die Platte am Sprunggelenk keine hohen Schuhe zulässt, die Schraube im Schlüsselbein am BH-Träger reibt oder unter einer Platte mangels Belastung der Knochen schwindet. Doppelter Anspruch Abbaubare Produkte müssen allerdings einen doppelten Anspruch erfüllen: Sie sollen standhalten, solange ihre Stützfunktion benötigt wird. Danach sollten sie so langsam schwinden, dass Knochen oder Gewebe in die entstehende Lücke wachsen kann. Milchsäure, da sind sich Experten einig, erfüllt diesen Anspruch nicht ideal. „Es kann zudem beim Abbau eine Entzündung auslösen, den Knochen lokal auflösen oder Zysten bilden“, erklärt Professor Maximilian Rudert, ärztlicher Direktor der Orthopädischen Klinik König-Ludwig-Haus in Würzburg. Deshalb befassen sich etliche Arbeitsgruppen inzwischen mit abbaubaren Alternativen auf Magnesium basis, die den Patienten solche Unannehmlichkeiten ersparen sollen. Ein weiteres Problem der Milchsäure-Implantate nennt Professor Reinhard 02.06.15 V2.22 / 1995-2014 Bio-Implantate Apotheken Umschau A 15/05 /Forschung & Wissen akt./Medizintechnik/ 62 52055 Hoffmann, Chefarzt der Abteilung für Unfallchirurgie und Orthopädische Chirurgie an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frankfurt/Main: „Für große Platten und Schrauben, etwa im Ober- oder Unterschenkel, ist das Material nicht stabil genug.“ Deshalb funktioniere das Konzept zwar bei kleineren Verletzungen, „aber was man sich davon versprochen hat, ist im großen Stil nicht eingetreten“. Zudem sind die Produkte viel teurer als Vergleichbares aus Titan. „Oft lassen sich deshalb die Kosten nicht decken“, sagt Michael Gabel. Das Biomaterial ist aber auch für den Operateur eine Herausforderung: Es kann leicht brechen, Schrauben drehen möglicherweise durch; die nötige Vorsicht verlängert die Operationszeit. Die Nachteile müssen Chirurgen gegen die Vorteile biologisch abbaubarer Produkte abwägen. Weil vergleichende Studien zu den Materialien rar sind, kommt es bei ihrem Einsatz auf die Erfahrung und die Vorlieben des einzelnen Arztes an – und auf das jeweilige Temperament. „Manche Kollegen sind lieber vorsichtig“, sagt Michael Nerlich, „andere hingegen ganz euphorisch.“ Dr. Reinhard Door Kreuzbandriss Wenn das vordere Kreuzband im Knie reißt, schaffen Operateure vor allem bei jüngeren, aktiven Menschen Ersatz. Sie entnehmen eine Muskelsehne von der Vorder- oder der Rückseite des Knies und schrauben sie als KreuzbandErsatz an Schienbein und Oberschenkelknochen fest, bis sie angewachsen ist. Dazu verwenden die Ärzte sogenannte Interferenzschrauben, die an ihrer dünnsten Stelle dicker sind als das Bohrloch. Die bislang verwendeten Titanschrauben werden vielfach ersetzt durch solche aus Milchsäure – manchmal gemischt mit der Knochensubstanz Hydroxylapatit. „Je nach Erfahrung werden die resorbierbaren Schrauben auch kritisch gesehen“, berichtet Professor Michael Nerlich, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie an der Universitätsklinik Regensburg. „Etwa weil der Abbau des Materials nicht gut steuerbar ist. Er darf nicht schneller stattfinden, als das Gewebe die volle Funktion übernimmt.“ Knorpelschäden Beim Fußball oder Skifahren kann es schnell passieren: Durch den Tritt eines Gegners oder einen Sturz reißt zum Beispiel am Knie- oder am Sprunggelenk ein Knorpel-Knochen-Stück ab. Der Schmerz lässt meist schnell nach, doch es drohen Spätfolgen: Die kleine Verletzung dehnt sich aus, und manche Arthrose hat wohl so begonnen. Deshalb beugen Ärzte vor. Oft nehmen sie Milchsäure-Stifte zur Hand, durchbohren den Knorpel und klopfen das abgesprengte Teil mit den „pins“ genannten Stiften wieder an. „Das geht aber nicht bei jeder Knorpelverletzung“, betont Professor Maximilian Rudert, 02.06.15 V2.22 / 1995-2014 Bio-Implantate Apotheken Umschau A 15/05 /Forschung & Wissen akt./Medizintechnik/ 62 52055 ärztlicher Direktor der Orthopädischen Klinik König-Ludwig-Haus in Würzburg. In solchen Fällen verwenden die Chirurgen Titanschrauben, die sie wieder entfernen, wenn das Knorpel-Knochen-Stück angewachsen ist. Die Maxime, so Rudert, muss sein: „Lieber eine zweite Operation als eine unsichere Verankerung.“ Verengte Herzkranzgefäße Auch in der Herzmedizin haben biologisch abbaubare Materialien Einzug gehalten. Seit Langem versuchen Ärzte Gefäßstützen, die verengte Herzkranzgefäße nach einer Erweiterung offen halten, aus Biowerkstoffen herzustellen. 2012 kam der erste dieser Stents auf den Markt. Er besteht aus Milchsäure und bietet theoretisch einige Vorteile: Die Gefäße können sich nach seinem Abbau wieder normal verengen und erweitern, und an den versorgten Stellen können bei Bedarf Bypässe angelegt werden. Entsprechend euphorisch setzten viele Kardiologen die neuen Stützen ein, ehe diese ausreichend geprüft waren – ein bei Medizinprodukten leider nicht unübliches Vorgehen. Nun läuft eine Vergleichsstudie, deren Endergebnisse allerdings erst gegen Ende 2016 vorliegen werden. Unabhängig davon ist der Bio-Stent nicht bei allen Herzgefäßverengungen geeignet, und auch der im Vergleich zu herkömmlichen Metall-Stents hohe Preis schreckt viele Ärzte davon ab, ihn einzusetzen. Fußbeschwerden Wenn Schienen und Einlagen nicht mehr genügen, wird beim sogenannten Hallux valgus eine Operation nötig. Dabei wird der Mittelfußknochen des schief stehenden Zehs durchtrennt und in seine ursprüngliche Lage verschoben. Die beiden Knochenenden verbindet der Operateur meist mit einer Titanschraube oder schient sie mit einer kleinen Titanplatte. Manche Operateure verwenden dafür Milchsäureschrauben. Im vergangenen Jahr brachte ein Hersteller eine Schraube auf Basis einer Magnesium-Legierung auf den Markt, die sich mit der Zeit von selbst auflöst. In einer direkten Vergleichsstudie mit einer Titanschraube wiesen beide Produkte vergleichbare Ergebnisse auf. Die Magnesium-Schraube wird auch bei einigen anderen Operationen eingesetzt, etwa an der Hand. Mit dem neuen Material lässt sich die Zeit bis zur Auflösung besser steuern als mit Materialien aus Milchsäure. Schulterprobleme Bei Verrenkungen der Schulter, bei Rissen der Rotatorenmanschette oder der 02.06.15 V2.22 / 1995-2014 Bio-Implantate Apotheken Umschau A 15/05 /Forschung & Wissen akt./Medizintechnik/ 62 52055 Bizeps-Sehne leisten biologisch abbaubare Implantate wertvolle Dienste. „Überall, wo wir gelenknah etwas fixieren wollen, nehmen wir diese Materialien, weil sie auf Dauer keine Probleme machen“, sagt Dr. Piet Plumhoff, Leiter des Bereichs Schulter- und Ellbogenchirurgie an der Orthopädischen Klinik König-Ludwig-Haus in Würzburg. Bei einer Verrenkung („Auskugeln“) der Schulter etwa reißt häufig die Gelenklippe ein oder ab, die die Gelenkpfanne umgibt. Dann verwendet Plumhoff einen oder mehrere Schulteranker. Deren Schraube befestigt er in der Gelenkfläche, mit dem Faden fixiert er die Gelenklippe oder eine gerissene Sehne. Weil sich diese Anker nicht mehr entfernen lassen, reiben sie sich mit der Zeit im Gelenk auf, wenn sie aus Titan bestehen. „Sie würden so auf Dauer mehr schaden als nutzen“, sagt Plumhoff. Bei den biologisch abbaubaren Ankern entfällt dieses Problem. Gesichtsverletzungen Gute Erfahrungen hat Dr. Henry Leonhardt von der Universitätsklinik Dresden mit biologisch abbaubaren Platten bei Knochenbrüchen im Gesichtsbereich gemacht. Diese Materialien setzt er zum Beispiel ein, um gebrochene Knochen am Boden der Augenhöhle zu fixieren oder Fehlstellungen der Schädelknochen bei Kindern zu korrigieren. Die zur Befestigung verwendeten Stifte werden mit einer Ultraschallsonde erwärmt, schmelzen an ihrer Außenseite und gleiten so leicht in die Bohrlöcher. An ihrem oberen Ende werden sie auf diese Art gleichzeitig mit den Platten verschweißt. Weil sie weniger stabil sind als Titanplatten, eignen sich die Produkte aber nur bedingt für stark belastete Gelenke und Knochen. Knochendefekte Große Knochendefekte, die nach einem Bruch, einer Operation oder aufgrund einer Zyste entstehen, verheilen bisweilen nicht von selbst. Für solche Fälle bietet die Industrie eine Fülle von Knochenersatzmaterialien an. Sie dienen aufgrund ihrer porösen Struktur als Leitschiene für die Neuansiedlung von Knochen oder liefern das Rohmaterial für die Hartsubstanz in Knochen. Synthetische Materialien werden als Pulver, Granulat (Foto) oder als anpassbare Blöcke angeboten. Was für die jeweilige Anwendung verwendet wird, beruht eher auf den persönlichen Vorlieben des Chirurgen als auf Direktvergleichen in wissenschaftlichen Studien. Im Übrigen, sagt Professor Reinhard Hoffmann, Chefarzt der Abteilung für Unfallchirurgie und Orthopädische Chirurgie an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frankfurt/Main, ersetze bei der 02.06.15 V2.22 / 1995-2014 Bio-Implantate Apotheken Umschau A 15/05 /Forschung & Wissen akt./Medizintechnik/ 62 52055 Reparatur von Defekten bisher nichts den eigenen Knochen. Ihn müssen die Chirurgen allerdings in einem zweiten Eingriff entnehmen, meist an einem Beckenkamm. 02.06.15 V2.22 / 1995-2014
© Copyright 2024 ExpyDoc