Der Bote 1/2015 - Das Rauhe Haus

Zukunft
Mag sein, dass der jüngste Tag morgen anbricht,
dann wollen wir gern die Arbeit
für eine bessere Zukunft
aus der Hand legen,
vorher aber nicht.
Der Bote
Nr. 1 | Juli 2015 | 104. Jahrgang
Berichte aus der Brüder- und Schwesternschaft
des Rauhen Hauses
Dietrich Bonhoeffer
Schönheit der Gemeinschaft
40 Jahre Seniorentreff Seite 24
Moin Moin – Besuch aus Rummelsberg Seite 40
au f e i n wo rt
Der Bote 1/2015
titelb i ld
40 Jahre Rauhhäusler Seniorentreff – die
Brüder und Schwestern blicken zurück auf eine
reich gefüllte Schatzkiste. In ihr finden sich:
viel Erfahrung, manches Organisationstalent,
großes Interesse an Neuem, unermüdliche
Reiselust, liebevolle Traditionspflege, Erinnerungen an Verstorbene, miteinander Andacht
feiern und Wegbegleitung. Wir wünschen
weiterhin viel Energie und Freude an der
Gemeinsamkeit – wie hier auf der Reise 2010
nach Königslutter/Elm.
Lebensschönheiten
Liebe Schwestern, liebe Brüder
„Es gibt zwei Lebensschönheiten, die
eine: ich selber sein zu dürfen; die andere: nicht nur ich selber sein zu müssen,
sondern von der Kraft, dem Trost und
dem Reichtum der anderen zu leben.
Es ist mehr Spiel im Leben und weniger
Zwang, wenn man nicht der dauernde
Meister seiner selbst und der Erfinder
der eigenen Schönheit sein muss; wenn
man sich in der Gnade eines anderen
Menschen tummeln kann“.
Die Worte aus dem Text von Fulbert
Steffensky* lösen bei mir Zustimmung
und Widerspruch aus: Das „Ja“ dazu, dass
ich nicht immer alle meine Erwartungen
erfüllen muss. Und ein „Naja“ beim Gedanken, das Wirken meiner Person aus
der Resonanz der anderen Menschen zu
erfahren. Es braucht Vertrauen, das aus
der Hand zu geben, was ich gerne in der
Hand behielte – mich zuzumuten und zu
hören: Du bist schön!
Fulbert Steffensky lädt jedenfalls
ein, sich auf diese Erfahrung einzulas-
sen. Und er nennt es „mehr
Spiel im Leben und weniger
Zwang“.
Dass die Brüder-und
Schwesternschaft ein Ort
der Einübung dieser „Kunst“
ist, ist in diesem Boten nachzulesen: In
den Artikeln der Konvikte und von den
Einkehrtagen (ab S. 14), im Bericht des
Ältestenrates und nicht zuletzt mit der
Einladung, dem Thema „ Schönheit von
Gemeinschaft“ nachzugehen (S. 6).
Das Konvent Seniorentreff blickt auf
40 Jahre Weggemeinschaft: Herzlichen
Glückwunsch!
„Lebensschönheiten“ in allen Facetten
– ich werde nicht müde, davon zu erzählen. Euch allen wünsche ich gesegnete
Sommertage und Zeit mit viel Schönheit! Eure
Claudia Rackwitz-Busse
* VEDD Impuls III/2012, S.49
3
i n ha lt
Der Bote 1/2015
Der Bote 1/2015
i n h a lt
Das bringt der neue Bote:
DAS THEM A
4
6 Schönheit der Gemeinschaft – Neu-Entdeckung des Alt-Vertrauten
von Claudia Rackwitz-Busse
8 Das ist für mich Gemeinschaft – Ein Schritt bringt mich zu denen, die
ich mir nicht ausgesucht habe, die ich aber suche
von Dagmar Krok
aus der gemei nsc haft
14 Pause vom Alltag
Ein Rückblick auf die Einkehrtage im Kloster Amelungsborn, Herbst 2014
von Nicole Meyer
16 „Gott, ich brauche Zeichen“ – Einkehrtage 2015 im Domkloster Ratzeburg
von Sabine Hildebrand
18 Der Gerechtigkeit nachjagen
Treffen der Konvikte Hamburg West und Hamburg Ost
von Elisabeth Haffer
21 Meinem Glauben Worte geben
Treffen des Konvikts Niedersachen November 2014 in Oldau
von Annegret Warnecke
22 Laufen mit Paulus – Andacht zum Lauf zwischen den Meeren
24 Wir gratulieren! 40 Jahre Rauhhäusler Seniorentreff
von Gerd Junior
26 Bildung – Politik – Tradition – Bericht aus dem Ältestenrat und seiner Arbeit
von Johanna Kutzke
aus dem r au h en haus
30 Was macht dich stark? – Der Jahresbericht des Rauhen Hauses 2014
ist gerade frisch erschienen und kann jetzt bestellt werden
31 „Wichern in die Gegenwart übersetzen“
Gespräch mit Carsten Krüger, Leiter des Stiftungsbereichs Behindertenhilfe
von Johanna Kutzke
33 „Der Heilige Geist ist mit im Raum“
Gespräch mit Corinna Peters-Leimbach, Seelsorgerin im Rauhen Haus
von Johanna Kutzke
aus deR NOR DKIRCHE
36 Vier sind Tausend – Rückblick auf das erste Jahr
des Verbandes Diakonischer Gemeinschaften in der Nordkirche
von Dieter Waldner
aus dem vedd
40 Moin, Moin! Besuch der Diakoninnengemeinschaft Rummelsberg
von Kerstin Stengel
anstöSSe
42 Ich habe über Jesus gehört und halte das für wahr – Seminar Leichte Sprache
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46
50
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53
56
58
60
Nachruf für Kristina Merz-Sprandel von Ute Zeißler
Nachruf für Bruno Jung von Gert Müssig
Nachruf für Alberdine „Dini“ Geers von Doris Hamer
Nachruf für Werner Huppe von Rolf Siebrecht
Nachruf für Günter Semmler von Henning Balzer
Persönliches
Veränderungen
62
Te r mi n e
persön lic h es
64 Empfeh lu ngen
64 Göttliches ins Leben lassen von Hans-Jürgen Benedict
66 Präsentieren und faszinieren
66 Was Steine erzählen
67
Impr e ssum
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DAS THE M A
Der Bote 1/2015
Schönheit der Gemeinschaft
Neu-Entdeckung des Alt-Vertrauten
6
„Vergesst mir nicht die Schönheit unserer Gemeinschaften!“ Mir ist deutlich im
Ohr geblieben, was Carl Christian Klein
2013 bei seiner Verabschiedung als Geschäftsführer des VEDD (Verband der
Diakonen-und Diakoninnen und Diakonatsgemeinschaften Deutschland) allen
Gästen zurief. Mich begleitet dies, die
Schönheit der Gemeinschaft!
Als Konviktmeisterin komme ich in
unserer Gemeinschaft und anderen Gemeinschaften des VEDD herum. Schön-
heiten jede für sich – auf der Karlshöhe,
in Rickling, in Rummelsberg und im Rauhen Haus. In der Weise wie sich dort, in
Konvikten und Konventen, Brüder und
Schwestern, Männer und Frauen begegnen, wie sie miteinander umgehen … Das
hat für mich einen besonderen Glanz.
Und da geht es schon los, das Sprichwort:“ Schönheit liegt im Auge des Betrachters“. Was ist Schönheit? Diese Frage stellte ich rund vierzig Brüdern und
Schwestern der Ricklinger Gemeinschaft
Schönheit und Vielfalt beim Treffen des Konviktes Süddeutschland
DAS THE M A
Der Bote 1/2015
bei einem Treffen. Vor sich hatten sie viele
verschiedene Gegenstände: Steine, Blüten, Sand, Perlen, Fotos. Es war im Raum
sofort greifbar, wie unterschiedlich jede
und jeder ihre Wahl treffen würde und
getroffen hat. Eine wunderbare Palette
der Schönheiten entfaltete sich.
Es mag einfach klingen, aber es war
einfach schön, zu erleben wie alle in Kontakt zueinandertraten und sich in ihrer
unterschiedlichen Wahrnehmung austauschten.
Schönheit, so will ich es formulieren,
entsteht, wenn Menschen zusammenkommen. Sehr schlicht vielleicht. Und
doch ein große Herausforderung, auf
die es nicht die „eine“ Antwort gibt. Auf
dem Kirchentag in Stuttgart hielt ich eine
Postkarte in der Hand: „Gemeinschaft
tut gut, ist spannend, fördert geistliches
Wachstum, bildet, vernetzt, stößt Ideen
und Projekte an, prägt und trägt, gibt
Heimat, macht Geschichte und Zukunft
lebendig“. Das Wort Gemeinschaft war
in den unterschiedlichsten Farben gedruckt. Vielfalt – die Schönheit der Gemeinschaft. Unsere Brüder-und Schwesternschaft kann davon erzählen. 650
unterschiedliche Menschen, die zur Ge-
7
Verbunden im Gebet
meinschaft gehören. 650 eigene Haltungen und Einschätzungen zur Schönheit
und zur Gemeinschaft.
Im Folgenden geht Dagmar Krok dem
nach, was ihr Gemeinschaft bedeutet.
Ihr Artikel „Himmel und Erde verbinden“
erschien in der Arbeitshilfe zum Weitergeben 1/2015, Evangelische Frauen in
Deutschland.
Das Redaktionsteam des Boten lädt
euch in diesem Zusammenhang ein, euch
zu beteiligen und zu schreiben: Was verbindet ihr mit Schönheit der Gemeinschaft? Was regt euch auf, was lässt euer
Herz voll werden, was fehlt – und nicht
zuletzt: Was ist alles da?
Claudia Rackwitz-Busse
Ich bin
Gemeinschaft –
unser Motto
beim
Kirchentag
in Stuttgart
DAS THE M A
Der Bote 1/2015
DAS THE M A
Der Bote 1/2015
Das ist für mich Gemeinschaft
Ein Schritt bringt mich zu denen, die ich mir
nicht ausgesucht habe, die ich aber suche
8
In der letzten Woche ist es wieder passiert: Im Gespräch erzähle ich von meinem
Diakonin-Sein und der Zugehörigkeit zu
einer Brüder- und Schwesternschaft. Wo
gerade noch reger Austausch war, breiten
sich Unsicherheit und Fremdheit, aber
auch Neugierde aus. Was bedeutet es
im Alltag, Mitglied in einer Brüder- und
Schwesternschaft zu sein? Wie viele gehören dazu? Nach welchen Regeln lebt
ihr? Geht das denn, wenn du verheiratest
bist? Was hast du davon? Wozu braucht
es eine solche Gemeinschaft?
Viele Fragen, die ich schon oft beantwortet habe, und doch gerate ich ins Stocken. Wieder einmal wird mir bewusst,
dass das Leben in einer Gemeinschaft
ungewöhnlich ist, für Außenstehende
fremd oder exotisch erscheinen mag,
mir aber ein großer Schatz ist, Kraftquelle und Herzensangelegenheit. Die Brüder- und Schwesternschaft ist für mich
der Ort, an dem ich einüben kann, in der
Nachfolge Christi zu leben.
Von seiner Bedeutung zu erzählen
braucht Vertrauen, dass mein Gegenüber diesen Raum respektvoll betritt. Die
Jahreslosung „Nehmet einander an, wie
Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“ erzählt von diesem Respekt, den
es braucht, offen miteinander zu reden, in
einer Gemeinschaft zu leben und davon
zu erzählen.
Zunächst erst einmal die Fakten. „Meine“ Brüder- und Schwesternschaft ist
eine geistliche Gemeinschaft, die in den
Anfangsjahren des Rauhen Hauses durch
dessen Gründer Johann Hinrich Wichern,
entstanden ist. Wichern verstand die Brüderschaft als eine Glaubens-, Lebens- und
Dienstgemeinschaft, als ein verbindliches Netzwerk von diakonisch Tätigen.
1970 traten erstmals Frauen ein, die „Brüder- und Schwesternschaft“ entstand.
Heute gehören der Brüder- und Schwesternschaft mehr als 620 Männer und
Frauen an, diakonisch tätige Personen,
überwiegend Diakoninnen und Diakone,
die ihre Ausbildung an der Ev. Hochschule
absolviert haben und in das lebenslange
Diakon_innenamt eingesegnet sind. Sie
arbeiten in allen Feldern diakonischer
und sozialer Arbeit, im kirchlichen Dienst,
in Diakonischen Werken und in Einrichtungen der Wohlfahrtspflege. Sie leben
in Familien, zu zweit oder allein und treffen sich regelmäßig in Regionalgruppen.
Diese regionalen Konvikte sind Orte für
Gespräch, Feiern und Gottesdienste.
Hier werden fachliche, berufspolitische,
theologische und diakonische Themen
erörtert. Es bestehen auch themenspezi-
9
Auf den Spuren Bodelschwinghs. Der Konvikt Ostdeutschland mit Gästen in Lobetal
fische Konvente. Alle zwei Jahre versammeln sich die Mitglieder der Gemeinschaft zum Brüder- und Schwesterntag
im Rauhen Haus.
Die Grundidee Wicherns prägt bis
heute das Leben in der Gemeinschaft.
Er sprach von einer „Genossenschaft“,
im Sinne einer „Verbrüderung gläubiger
Männer zu einem gemeinsamen Wirken
für das Reich Gottes unter Kindern oder
Erwachsenen, unter Armen, Elenden,
Verlassenen, Verirrten oder Verlorenen
... aus dem Geiste der evangelischen Kirche geboren, in ihr und für sie in Werken
der Barmherzigkeit ihren Beruf und ihre
Arbeit in Gottes Namen zu erfüllen trachtet.“1 – heute drücken wir das so aus:
„Wir sind eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern in der Nachfolge
Jesu Christi.
Wir glauben an die Liebe Gottes zu allen Menschen, die uns zu diakonischem
Handeln motiviert. Wir wollen Himmel
und Erde, Glaube und Liebe, Wort und Tat
verbinden.“2
Natürlich kenne ich nicht alle Schwestern und Brüder persönlich. Vertraut sind
mir die Geschwister der Regionalgruppe.
Zweimal im Jahr kommen wir für ein Wochenende zusammen, um Gemeinschaft
J. H. Wichern: Festbüchlein des Rauhen Hauses zu Horn, 3. Aufl., Hamburg 1856, S. 473
Leitbild der Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses, Hamburg
1
2
DAS THE M A
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zu erfahren, um die Geschwister in den
Blick zu nehmen und uns in unserem
Dienst zu vergewissern. Dann wird die
Jahreslosung, „Nehmt einander an, wie
Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“, praktisch erfahrbar.
Die gemeinsame Grundlage habe ich
beschrieben, nun beginnt die Herausforderung, denn die Verschiedenheit ist
deutlich sichtbar und spürbar: Alle Generationen sind vertreten, die verschiedenen theologischen und spirituellen
Prägungen, politische Überzeugungen
von links bis rechts, die Körper- und die
Kopfbetonten, die Schweigsamen und
die Vielredner_innen, die Freund_innen
und die Unsympathischen, Diakon_innen
aus allen Arbeitsfeldern, auf unterschiedlichen Hierarchiestufen, Männer, Frauen,
Kinder. Ein unglaublicher Reichtum liegt
in dieser Vielfalt, unsere geistliche Ordnung schenkt Orientierung, wie wir diesen Schatz bewahren und aneinander
wachsen können:
Ein Schritt bringt mich zu denen,
die ich mir nicht ausgesucht habe,
die ich aber suche,
weil ich im Alltag Gemeinschaft erfahren
möchte,
Geschwisterlichkeit,
gelebt in der Hinwendung zueinander,
im Wissen von der Erlösung.
Mir ist wichtig, von anderen zu hören,
mich mitzuteilen, offen zu reden und
voneinander zu lernen.
Der Bote 1/2015
Ich kann sagen, was ich brauche,
um frei leben und arbeiten zu können:
– bewusst –
in Gemeinschaft von Menschen,
die ich von Jesus Christus als Brüder und
Schwestern
angenommen habe.
Zunächst also zuhören und mich mitteilen. Wir beginnen unsere Treffen mit
einer Runde, in der jede und jeder berichtet, was uns in der letzten Zeit beschäftigt hat. Wir teilen Freud und Leid. Wir
werden sichtbar, zeigen uns verletzlich
und berichten von Erfolg und Misserfolg.
Alles darf sein, im gemeinsamen Gebet
bringen wir es vor Gott. Immer wieder
bin ich berührt von dem gewachsenen
Vertrauen, das es ermöglicht, sich als Bruder oder Schwester zuzumuten.
Ein kleines Beispiel, das schon einige
Jahre zurück liegt, macht das vielleicht
deutlich: Unsere Gemeinschaft hatte sich
intensiv mit der Frage von Segnungen
homosexueller Paare auseinandergesetzt und eine Form dafür entwickelt. In
unserer Runde erzählte ein Bruder: „Ich
brauche euren Beistand. Ich habe im Fernsehen den Christopher Street Day gesehen. Da bin ich rückfällig geworden, und
dachte, was ich vor Jahrzehnten gelernt
habe: Das darf nach Gottes Willen nicht
sein. Gleichzeitig erlebe ich hier meinen
schwulen Bruder, wie er Geschwisterlichkeit und Nachfolge lebt und es ist gut so.
Mir ist wichtig, dass wir weiter darüber
reden und miteinander ringen. Ich brau-
DAS THE M A
Der Bote 1/2015
che euren Beistand.“ Der Bruder hatte
den Mut, auch das Trennende auszusprechen, hat sich als Person gezeigt und damit gegenseitige Annahme ermöglicht.
Im Zuhören und Mitteilen liegt ein wesentlicher Schlüssel zur Menschwerdung
und gegenseitiger Annahme. Im Kontakt
und Austausch miteinander, in der Rückmeldung eines Gegenübers entsteht und
entwickelt sich Persönlichkeit. „Leben
kann man nur, wenn man einen Kontext
hat, der einem zum Leben verhilft. Der
einzelne kann sich nicht selber erschaffen. […] Das Leben gelingt nur, wenn es
eine Öffentlichkeit findet, vor der es Gestalt gewinnen kann, und einen Sinnzusammenhang, der das einzelne Dasein
deutet.“3 Im Wissen darum haben Gemeinschaften und Kommunitäten feste
Formen und Verabredungen für das Zuhören und Mitteilen entwickelt. Mit dem
Herzen reden, sehen und hören. Sich mit
Meinungen und Taten kritisch auseinandersetzen, konstruktiv streiten, und den
Menschen als von Gott geliebte_n Bruder oder Schwester ansehen. So werden
der und die Einzelne erkannt und können
prinzipiell hochgeschätzt werden, in der
beruflichen Tätigkeit, im Engagement,
im Ringen um Gerechtigkeit, im Suchen
nach Wegen für ein Leben in Fülle für alle
Menschen.
Meinen Bruder, meine Schwester prinzipiell hoch achten, sie annehmen, wie
Christus sie angenommen hat, das ist
wahrlich nicht immer leicht. Wenn ich
zum Beispiel auf die Sprache der Gebete
und Lieder schaue: Es ist viel die Rede vom
Herren, vom allmächtigen Gott. Ich fühle
mich fremd, denn meine Bilder und Worte
sind das nicht mehr. Nicht nur, nicht ausschließlich.
Und doch ist mir das gemeinsame
Gebet wichtig. Ich lerne, was es heißt
Geschwisterlichkeit zu leben, in der Hinwendung zueinander, im Wissen von der
Erlösung. Hinwendung heißt versuchen
zu verstehen, neugierig nachzufragen
und zu respektieren, dass es für meine
Geschwister andere Gottesbilder sind, die
sie tragen. Ich weiß von der Erlösung, die
Hoffnung darauf trägt mich, aber die Erlösung geht nicht von mir aus, geschieht
nicht durch mich und meine Erkenntnisse oder Überzeugungen. Die Erlösung
geschieht mir und allen Menschen. Vielleicht sogar auf unterschiedliche Weise?
In diesem Wissen singe ich dann manchmal „Herr“ und manchmal setzte ich andere Worte ein. Im Augenblick aber ist das
gemeinsame Singen und Beten wichtig,
später werde ich das Gespräch über Gottesbilder und Glaubensüberzeugungen
wieder suchen, und ich weiß, die anderen
werden auch mit mir beten, wenn ich von
der Göttin spreche. Fulbert Steffensky hat
schöne Worte für diese Erfahrung gefunden, wenn auch in männlicher Sprache
formuliert: „Ein Christ hat es nicht nötig,
die anderen Entwürfe menschlicher Hoff-
Fulbert Steffensky, Feier des Lebens. Spiritualität im Alltag, Stuttgart 1987, S. 44
3
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DAS THE M A
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nung, an denen er selber nicht teilhat,
prinzipiell unter den Verdacht der Falschheit und der Unwahrheit zu stellen. Die
erste Reaktion auf die andere, uns nicht
geläufige Gestalt des Glaubens wäre
dann nicht das Gefühl, bedroht zu sein,
sondern die Neugier und das Interesse an
Verbrüderung.“4
Was uns weiterhin verbindet, ist die
Sehnsucht, im Alltag Gemeinschaft zu erfahren. Nun leben und arbeiten wir nicht
am gleichen Ort. Zu meinen Geschwistern sind es 50, 80 oder mehr Kilometer.
Unsere Treffen sind halbjährlich. Darüber
hinaus sehen wir uns bei Einführungen
oder Verabschiedungen in beruflichen
Zusammenhängen – die Gemeinschaft
nimmt teil und spricht Segensworte – zu Trauerfeiern oder anderen eher
privaten Festen. Lebensübergänge werden gemeinsam gestaltet. Dazu gehört
Verbindlichkeit und wieder das Sichmitteilen. Bei unseren Treffen erzählen
wir von denen, die nicht da sein können
oder wollen, entzünden Kerzen für sie
und senden Grußkarten. Die Geschwister teilen Freud und Leid, wir informieren
uns gegenseitig, schreiben Grüße, beten
füreinander. Das trägt in Zeiten der Krise und beschwingt in Zeiten der Freude.
Gemeinsame Rituale und Traditionen
tragen durch das Leben; selbst wenn ich
sprachlos werde und nicht mehr beten
kann, ist da die Gemeinschaft die stellvertretend Worte findet.
Der Bote 1/2015
Aber nicht nur im Spirituellen kann
ich Gemeinschaft erfahren. Wenn ich im
Konflikt mit einem Bruder/einer Schwester bin, kann und darf ich mich mit anderen beraten, ebenso wie in beruflichen
Fragestellungen. Eine_n unter den 620
wird es geben, der/die über die nötigen
Erfahrungen verfügt, um mir in der konkreten Situation weiterzuhelfen.
Besonders hilfreich sind mir dabei immer die Gespräche, in denen ich nicht
gleich Unterstützung bekomme, sondern
herausgefordert werde, das Problem
noch einmal von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten. Ich erinnere
mich an ein Gespräch, in das ich mit der
Erwartung gegangen bin, Zuspruch und
Trost zu erfahren, wie furchtbar doch
meine Konfliktpartnerin ist. Das wurde
mir nicht gewährt. Vielmehr sollte ich
mich fragen, warum ich immer in die eine
bestimmte Richtung laufe, unerhört!
Heute bin ich dankbar, denn so hat sich
eine überraschende Lösung für den Konflikt ergeben. Es ist gut, wenn Annahme
bedeutet, nicht einer Meinung zu sein,
aber die Wege der Anderen zu begleiten.
Freiheit und Entwicklung entstehen oft
da, wo ich mich an der Meinung der Anderen reibe, meine Position überdenke
und neue Schritte wage.
Also alles eitel Sonnenschein? Bei weitem nein! Bewusst habe ich davon gesprochen, dass die Gemeinschaft mir einen Raum bietet, zu üben, was es heißt,
Fulbert Steffensky, Feier des Lebens. Spiritualität im Alltag, Stuttgart 1987, S. 103
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DAS THE M A
Der Bote 1/2015
„nehmet einander an“. Üben heißt Fehler
machen, andere enttäuschen. Rituale
können ihre Lebenskraft verlieren, dann
muss neu um ihre Gestalt gerungen werden. Die Lebendigkeit der Gemeinschaft
braucht die Verbindlichkeit und das Engagement der Menschen, die ihr angehören, sonst verdorrt sie. Geschwister meinen mich zu kennen und zu wissen was
ich brauche und treffen Entscheidungen
für mich oder andere, das kann verletzen.
Konflikte werden vermieden – Geschwister streiten nicht …
Auch in der Gemeinschaft gilt es immer
wieder neu, Kommunikation miteinander zu üben. Was sollen die anderen von
mir wissen? Wann ist es wichtig, mich
zurückzunehmen? Unser Verstand und
die Gestaltung zwischenmenschlicher
Beziehungen sind gefragt, denn es geht
in der Gemeinschaft wie im Leben um die
Balance zwischen Achtung und Überwindung von Grenzen. Als Geschwister verbindet uns, dass wir einer gemeinsamen
Sehnsucht folgen und bereit sind, uns immer wieder eine Chance zum Neuanfang
zu geben, in dem Versuch in der Nachfolge Christus zu leben. Unsere Überzeugung ist, dass alle Menschen von Christus
angenommen und daher gleich wertvoll
und zu achten sind.
Dagmar Krok
Erste Schritte in die Gemeinschaft – mit Familie beim Konviktwochenende
13
aus der gemei nsc h aft
Der Bote 1/2015
Pause vom Alltag
Ein Rückblick auf die Einkehrtage
im Kloster Amelungsborn, Herbst 2014
14
Neun Frauen und Männer aus dem Konvikt Hamburg Süd, machten sich auf den
Weg, um ein gemeinsames Wochenende im Kloster Amelungsborn zu verbringen. Ruhe, Krafttanken und viel Zeit für
Gemeinschaft waren die Ziele, die oben
anstanden. Frisch eingesegnet und voller Elan, freute ich mich ganz besonders
darauf, endlich mal dieses besondere
Angebot unseres Konvikts miterleben zu
können. Im Vorfeld hatte ich von meinen
Brüdern und Schwestern schon einiges
darüber gehört, wie besonders und schön
es dort ist. Leider hatte ich nie die Zeit gefunden um mitzufahren. In diesem Jahr
ging es endlich und nun berichte ich gern
von diesem eindrucksvollen Erlebnis.
Musikalisch virtuos – Abendlieder am Kamin
mit Johannes
In Fahrgemeinschaften machten wir
uns auf den Weg aus Harburg und Umgebung, um ca. 209 km nach Süden in das
schöne Kloster Amelungsborn zu fahren.
Schon auf der Autofahrt entstanden interessante Gespräche. Angekommen in der
Klosteranlage bezogen wir zuerst unsere
Zimmer, um dann mit einem gemeinsamen Abendbrot zu starten. Gut bewirtet
wurden wir vom Küchenteam des Klosters. Kennzeichen für unsere Reisegruppe
war, dass wir vor jeder Mahlzeit ein Lied
sangen, um Gott für das zu danken, was
er uns geschenkt hat. Unser Gesang hörte sich anscheinend auch für andere Ohren gut an, so dass wir gefragt wurden,
ob wir uns auf einer Chorreise befänden.
Amüsiert klärten wir das auf und outeten
uns als gesangfreudige Diakone und Diakoninnen.
Doch mit einem hatten die Anderen
Recht. Wir haben an diesem Wochenende
viel und gerne gesungen. Weltliche und
christliche Musik, alles hatte seinen Platz.
Ausgestattet mit Gitarren hat besonders
Bruder Johannes Reiners dazu beigetragen, da er scheinbar alles auf „Knopfdruck“ spielen kann. Ein Talent, das unsere Gruppe bereichert hat.
Unsere Andachten haben wir in der St.
Marienkirche zu Amelungsborn feiern
Der Bote 1/2015
können, die durch ihre Architektur eine
besondere Akustik und Atmosphäre bot.
Nachdem wir die erste Nacht auf dem
Klostergelände verbracht haben, war der
nächste Tag von körperlicher Aktivität
und geistiger Erquickung gekennzeichnet. Wir machten uns, geführt von Bruder Olaf Voß, auf eine Wanderung ins
Ith-Gebirge. Ziel war ein Aussichtsturm.
Angestrengt, aber glücklich wurden wir
dort mit einer wunderschönen Aussicht
belohnt.
Danach ging es wieder zügig bergab,
denn es war Zeit zum Mittagessen. Doch
zuvor habe ich uns noch schnell ins Gipfelbuch eintragen können. Nach dem
Mittagessen machten sich einige von uns
auf eine Geocashing-Tour, um die Natur
der Umgebung zu erkunden und erfolgreich den „Schatz“ zu bergen.
Nach entspannender Mittagspause
hatte ich dann am Nachmittag die Möglichkeit, meinen Brüdern und Schwestern
ausführlich von meiner diakonischen Abschlussarbeit zu berichten. „Wein oder
Saft? – Eine diakonisch-theologische Perspektive auf Ausgrenzung beim Abendmahl“. Darin geht es um die Problematik,
dass alkoholkranke Menschen durch die
Verwendung von Wein als sakralem Gegenstand von der Teilnahme am Abendmahl ausgeschlossen werden. Im Verlauf
des Nachmittags entstand ein intensives
Gespräch darüber, inwieweit die Verwendung von Traubensaft als Alternative
statt Ausnahme deklariert werden sollte
oder ob die Verwendung von Wein seine
au s d e r g e m e i n s c h a f t
15
Nicole Meyer, Christine Reiners, Anja van Eijsden, Klaus Hantke, Uschi Hoffmann, Paul Gerhard Paap, Heather Conrad, Olaf Voß
Berechtigung hat. Ein manchmal komplexes und vielleicht auch sperriges Thema, das aber seine Beachtung im kirchlichen Alltag finden muss.
Abends saßen wir am brennenden Kamin, der unser Zusammensein kuschelig
warm machte. Wir hörten Geschichten,
berichteten uns gegenseitig von unseren
momentanen Lebenssituationen und zukünftigen Projekten und sangen wieder
lange gemeinsam, manche auch mit sehr
erheiternden Bewegungen.
Am nächsten Tag ging es nach dem Besuch des Gemeindegottesdienstes in der
Klosterkirche, dem Mittagessen und anschließendem Kaffee auch wieder nach
Hause. Alle waren sich einig, dass dies
eine gute Möglichkeit war, um ein Stück
Gemeinschaft der Schwestern- und Brüderschaft zu leben.
Nicole Meyer
aus der gemei nsc h aft
Der Bote 1/2015
„Gott, ich brauche Zeichen“
Einkehrtage 2015 im Domkloster Ratzeburg
16
Auf Wiedersehen, Fleestedt – willkommen, Gästehaus des Domklosters Ratzeburg! Wie in jedem Jahr, inzwischen
zum zehnten Mal (...?, die Meinungen
hierüber trennten sich unter den Teilnehmenden), trafen sich Schwestern
und Brüder für ein Einkehrwochenende zum Schweigen im Januar. Da das
Bischof-Witte-Haus in Fleestedt leider
dem „Spartopf“ zum Opfer gefallen war,
trafen wir uns diesmal im Gästehaus
des Domklosters in Ratzeburg. Ein historischer und magischer Ort, der direkt
am See auf einer Halbinsel liegt. Leider
sind wir hier als Gruppe nicht so allein
wie in Fleestedt, dies haben wir am Wochenende ein wenig vermisst, uns aber
trotzdem sehr gut arrangiert.
Nach Eintreffen aller Teilnehmenden
Alles klar für das Gruppenfoto? Das Ergebnis
lässt sich sehen – die Teilnehmenden an den Einkehrtagen in Ratzeburg
in voller Pracht.
trafen wir uns nach dem Abendbrot zur
ersten Gruppenrunde vor dem Ort der
Stille. Hier wurden wir nach einer Vorstellungsrunde, in der wir auch unsere
Motivation zur Teilnahme benannten,
von Claudia und Jan-Peter nach Zeichen
befragt. Die Phantasien zum Thema waren völlig verschieden. Aber es sollte sich
auch lediglich wertfrei geäußert werden
und keine Diskussionsrunde entstehen.
Nachdem wir im Raum der Stille, der
von Claudia und Jan-Peter sehr schön
warm vorbereitet war, unseren Platz gefunden und eingerichtet hatten, bereitete die Gruppe sich mit einem Abendgebet auf den kommenden Tag vor, der
im Schweigen verbracht wird. Ich fühlte
mich wieder einmal richtig wohl mit meinem Wollteppich, der Gebetsbank, den
Der Bote 1/2015
Gebetskissen und einer warmen Wolldecke und wurde neugierig, was der nächste Tag für mich bringt.
Am Morgen von einer Klangschale und
gesungenem Morgenchoral geweckt,
folgte das Morgengebet im Raum der
Stille mit anschließendem Frühstück im
gemeinsamen Essensraum des Gästehauses, der allen Gästen gemeinsam zur
Verfügung steht. Meine Hoffnung, dass
die andere Gruppe sich ruhiger verhält,
wenn wir schweigen, trat leider nicht ein,
so dass wir einem Stimmengewirr ausgesetzt waren, das sonst bei anderen Veranstaltungen ja auch von uns selbst verursacht wird. Eine interessante Erkenntnis.
Der erste Impuls an diesem Vormittag
begann mit dem Psalm 1.
Es ist mir doch immer wieder verwunderlich, was mit mir passiert, sowie ich
mich dem Schweigen hingebe. Ich kann
mich völlig fallen lassen und brauche mal
nicht zu funktionieren. Ich höre, ich singe,
ich spreche Psalmen mit meinen Schwestern und Brüdern und bin doch ganz bei
mir. Wie wohltuend. Keine Zwänge! Ich
muss nicht, aber ich kann. Ich darf diesen
Tag in meinem Rhythmus verbringen.
Hierzu gehören Spaziergänge am See, die
Natur betrachtend, ruhend in meinem
Zimmer, zeichnend in der Gemeinschaft,
wandelnd in den Kreuzgängen des Domklosters – oder alles andere, was den Teilnehmenden sonst noch gefällt. Dabei
immer wieder der Klang der Klangschale,
wenn die Stille beginnt und die Texte zu
den Einheiten, die von Claudia oder Jan-
au s d e r g e m e i n s c h a f t
Peter in ruhiger Atmosphäre mitgegeben
werden, und die zum Nachdenken oder
gar Philosophieren einladen. Es ist für
mich eine wohltuende und gesunde Zeit
des Kraftschöpfens. Ich wünsche meinen
mitschweigenden Schwestern und Brüdern, dass diese Zeit auch für sie ein ähnliches Wohlgefühl beinhaltet hat.
Am Abend wurde das Schweigen mit
einer Abendmahlsfeier gebrochen, und
am Sonntag folgte der Segnungsgottesdienst mit dem letzten Impuls aus Matthäus 11, 2–6. In der gestalteten Mitte
lagen Steine, unter denen verschiedene Botschaften verborgen waren. Wer
mochte, konnte seine eigene Erfahrung
der Zeit der Stille aufschreiben und vorlesen und mit einem entzündeten Licht
in die gestaltete Mitte legen. Gemeinsam
wurde in der Gruppe der Wunsch Einzelner um einen Segen erfüllt.
Alle Rituale, sei es das Wecken am Morgen, beim Schweigen oder bei den Andachten, sind mit einer besonderen Achtsamkeit und Liebe vorbereitet. Dies ist zu
spüren, senkt sich den Teilnehmenden
in die Seele und ist ein tragender Teil der
gesamten Gruppe. Ich bin wieder einmal
gestärkt und entspannt von diesen Einkehrtagen heimgekehrt und freue mich
auf ein nächstes Mal.
Ich danke Claudia und Jan-Peter für
Vorbereitung und Gestaltung dieser
schönen Tage, der Gruppe für das Vertrauen und der Brüder- und Schwesternschaft für Möglichkeit der Einkehrtage.
Sabine Hildebrand
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aus der gemei nsc h aft
Der Bote 1/2015
Der Gerechtigkeit nachjagen
Treffen der Konvikte Hamburg West und Hamburg Ost
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Wovon hast Du zu viel, wovon zu wenig?
Mit dieser Frage haben wir beim Brüderund Schwesterntag unseren Workshop
„Fairer Konsum – ein spiritueller Weg?“
eingeleitet. Reihum antworteten die TeilnehmerInnen kurz: Zu viel Besitz, zu viele
Bücher und CDs, zu viele Feinstrumpfhosen, zu viele Kilos, oder auch ein Zuviel an
Anregungen und Impulsen. Andererseits
zu wenig Konzentration, zu wenig Zeit,
zu wenig Entspannung, zu wenig Bewegung. Die kurze Runde zeigte, dass die
meisten Überflüsse und Mängel, mehr
oder weniger extrem, im täglichen Leben
kennen.
„Wenn Du der Gerechtigkeit nachjagst,
wirst Du sie erlangen, und Du wirst sie
anziehen wie ein prächtiges Gewand“
(Sirach 27,8). Inspiriert von diesem biblischen Leitwort für den Brüder- und
Schwesterntag hatten Doris Paland und
Was ist dir wichtig im Leben?
ich die Idee, diesen Workshop anzubieten.
Die Metapher vom „prächtigen Gewand“
weist uns auf ein Dilemma unseres Lebens hin, wenn wir uns die Situation der
Näherinnen in Südostasien vor Augen
führen, die fertigen, was in deutschen
Läden an Kleidung zu kaufen ist. Wir wissen, dass diese Gewänder in einem himmelschreienden Gegensatz zu jedem Ansatz von „Gerechtigkeit“ stehen.
Zu wenig Bewegung gab es nicht auf
unserem Workshop, denn alle waren aufgefordert, sich im Raum zu positionieren:
Nach welchen Kriterien kaufen wir ein?
Ist es der Preis? Der ökologische Fußabdruck? Das Fair-Trade-Siegel? Oder Lust
und Laune? Die möglichen Antworten
waren auf dem Boden platziert, so dass
die Teilnehmenden sich zuordnen konnten.
Auch zu weiteren Fragen konnte Position bezogen werden, zum Beispiel: Willst
Du Dich ständig weiterentwickeln? Oder
bist Du zufrieden damit, was Du aktuell
hast und bist? Bist Du der Meinung, dass
es Deinen Kindern bzw. der nachfolgenden Generation besser gehen wird als
uns, gleich gut oder schlechter?
Es folgten angeregte Gespräche in der
Gruppe, was wir unter „fairem Konsum“
verstehen und wie wir ihn praktizieren.
Wir haben auch über spirituelle Gewohn-
au s d e r g e m e i n s c h a f t
Der Bote 1/2015
heiten gesprochen und ob und wie sie
unser Konsumverhalten beeinflussen. Besteht ein Zusammenhang zwischen
dem „Zuviel und Zuwenig“, das wir im
eigenen Leben erfahren, und den extremen Ungleichheiten weltweit, der Schere
zwischen Arm und Reich, der Umweltzerstörung, dem Klimawandel? Und warum
fällt es uns so schwer, in ein Gleichgewicht zu kommen?
Diesen Fragen geht der Transformationsforscher Harald Welzer in seinem
Buch „Selbst Denken“ nach. Einige seiner
Überlegungen stellten wir vor:
Welzer beschreibt uns als aktive Teile
einer Kultur, die permanent ihren Ressourcenbedarf erhöht. Unser Verbrauch
an Material, an Energie sowie an Emissionen steigt stetig. Wir leben in einer
„Kultur der expansiven Moderne“. Wer in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
geboren wurde, ist in einer Welt aufgewachsen, die von der Vorstellung beseelt
ist, dass alles immer verfügbar ist. Wir
sind aufgewachsen mit einer Wachstumsideologie, die uns lehrt: Wachstum
ist nötig, damit die Wirtschaft floriert.
Politiker, Prominente und viele Wissenschaftler in den Medien lassen keine Gelegenheit aus, diese frohe Botschaft zu
verkünden. Welzers Beschreibungen sind gespickt
von religiös geprägten Begriffen, wie
„frohe Botschaft“, „beseelt sein“, oder
Fairer Konsum? Brüder und Schwestern positionieren sich.
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au s der gemei nsc h aft
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„Sinngebung“. Der Marketing-Experte
Victor Lebov wird folgendermaßen zitiert: „Unsere ungeheuer produktive
Wirtschaft verlangt, dass wir den Konsum zu unserem Lebensstil und den Kauf
und die Nutzung von Gütern zu einem Ritual machen, dass wir unsere spirituelle
Befriedigung und die Erfüllung unseres
Selbst im Konsum suchen.“
Ein herausfordernder Satz, der mit dem
oben zitierten biblischen Wort kaum in
Einklang zu bringen ist. Auch, wenn wir
uns als praktizierende Christen verstehen: Welcher Botschaft folgen wir wirklich?
Welzers Buch rüttelt auf, es stellt unseren Lebensstil in Frage. Auf mich persönlich wirkt es so nachhaltig wie nur wenige Bücher – außer der Bibel.
Nicht nur das Hier und Jetzt wird analysiert. Harald Welzer beschreibt auch,
wie jede und jeder einzelne von uns zu
einer anderen Haltung und zu neuem
Handeln finden kann. Eine gesellschaftliche Veränderung geschieht jedoch durch
gelebte Kultur und diese wird in Gemeinschaften gelebt. Dort, wo eine Wir-Gruppen-Identität ausgebildet ist, in einer sogenannten „Community of Practice“. Es
geht letztendlich um einen Wandel von
der expansiven zur einer reduktiven Moderne.
Der Bote 1/2015
Mittlerweile haben Doris und ich unseren Workshop noch einmal wiederholt:
Im Februar waren wir beim Konvikt West
eingeladen, der wiederum auch den Konvikt Ost zu Gast hatte.
Bei beiden Veranstaltungen haben wir
die Frage gestellt, wie die Brüder- und
Schwesternschaft eine Community of
Practice sein kann, in der eine neue Haltung der Reduktion eingeübt wird. Es
kamen Ideen, wie eine Tauschbörse einzurichten, bei den Konviktreffen nur regionale Lebensmittel zu verwenden, oder
weniger Plastik zu benutzen. Bei dem Februartreffen hatten wir ein Fastenforum
verabredet „Sieben Wochen ohne Plastiktüten“. In einem Doodle konnten wir
dazu unsere Erfahrungen mitteilen. Ein
Austausch über das Internet, z. B. über einen „Brüder- und Schwesternblog“ oder
auch über Facebook, wurde von mehreren TeilnehmerInnen vorgeschlagen und
gewünscht.
So wurden schon ein paar Spuren
gelegt und ich möchte die WorkshopTeilnehmerInnen, die LeserInnen dieses
Artikels und weitere Sympathisanten ermutigen, „am Thema dranzubleiben“.
Im Mai sind Doris und ich im Konvikt
Niedersachsen. Über weitere Einladungen freuen wir uns.
Elisabeth Haffer
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Der Bote 1/2015
Meinem Glauben Worte geben
Treffen des Konvikts Niedersachen
November 2014 in Oldau
Worte miteinander teilen
Dieses Mal wurde zu einer spirituellen
kreativen Schreibwerkstatt mit dem
Motto: „Meinem Glauben Worte geben“
eingeladen. Als Lehrerin und Begleiterin
stand uns Jutta Pruchner zur Seite.
Wir lernten, dass Gedichte nicht gereimt sein müssen, sondern „verdichtete
Texte“ sind. Durch die Erfahrungen vom
Wochenende ermutigt, kommt mein Bericht also diesmal als Gedicht.
Am Anfang war das Wort
Am Anfang war das Wort.
Vertraute und neue Gesichter –
Elfchenworte helfen beim Kennenlernen.
Später dann mit Worten erklären,
streiten, versuchen zu verstehen.
Zuhören und reden.
Am Anfang war das Wort.
Worte fließen und werden in Form
gebracht.
Überraschende Worte.
Wo waren sie bisher?
Wir teilen unsere Worte mit den Anderen – wir teilen uns mit.
Ich höre Worte, die berühren, erschrecken, Trauer erahnen lassen, mich zum
Lachen bringen.
Ich spreche Worte, mit denen ich mich
zeige.
Und ich spreche Worte, mit denen ich
mein Geheimnis wahre.
Am Anfang war das Wort.
Wenn Worte und Musik zusammenkommen, entstehen Lieder.
Schon fast himmlisch.
Wir hören Gottes Worte.
Und bringen in Worte, was sie in uns
auslösen.
Gemeinschaft in Brot und Wein.
Gemeinschaft in Geburt und Tod.
Lasse Elia und Tini in unserer Mitte.
Am Anfang war das Wort.
Und das Wort war bei Gott.
Annegret Warnecke
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Der Bote 1/2015
Der Bote 1/2015
Laufen mit Paulus
Andacht zum Lauf zwischen den Meeren
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Ein Ziel gib mir
mein Gott
für das zu kämpfen sich lohnt
Einen Sinn gib mir
mein Gott
für den zu leben sich lohnt
Eine Verheißung gib mir
mein Gott
für die zu sterben sich lohnt
Anton Rotzetter, Lied 395
Wir sind am Ende unseres Wochenendes
angelangt, haben Zeit miteinander verbracht. Unser gemeinsames Ziel führte
uns zusammen, hier in Schuby und Damp
– mit über 7.400 anderen Läufern, die in
Staffeln von Husum nach Damp liefen.
Wir haben dabei viel erlebt, viele verschiedene Gedanken und Empfindungen
sind uns durch den Kopf gegangen, haben unsere Herzen berührt.
Teilen: In ein/zwei Seelensätzen teilen
wir unsere Empfindungen und Erfahrungen, zünden eine Kerze an und stellen sie
in die Mitte.
1. Kor. 9,24–27 (Gute Nachricht)
Ihr wisst doch, dass an einem Wettlauf
viele Läufer teilnehmen. Aber nur ei-
ner kann den Preis bekommen. Darum
lauft so, dass ihr den Preis gewinnt! Jeder, der an einem Wettlauf teilnehmen
will, nimmt harte Einschränkungen auf
sich. Er tut es für einen Siegeskranz, der
verwelkt. Aber auf uns wartet ein Siegeskranz, der niemals verwelkt. Darum laufe ich wie einer, der ein Ziel hat. Darum
kämpfe ich wie einer, der nicht in die Luft
schlägt. Ich treffe mit meinen Schlägen
den eigenen Körper, so dass ich ihn ganz
in der Gewalt habe. Ich möchte nicht
andere zum Wettkampf auffordern und
selbst als untauglich ausscheiden.
Paulus spricht die Gemeinde von Korinth an – eine durchaus reiche Gemeinde in einer reichen Großstadt mit vielen
konkurrierenden Religionen, in der die
Gemeinde in der Gefahr steht, durch Uneinigkeit und Oberflächlichkeit die Richtung zu verlieren, sowohl die Richtung in
der inneren Situation als auch die Richtung in der Außenwirkung. Also muntert
er sie auf, das Ziel, das Heil, nie aus dem
Auge zu verlieren und diese Botschaft,
dieses Ziel, auch offensiv vorzuleben. Daher: Lauft wie einer, der ein Ziel hat, und
macht dieses Ziel öffentlich.
Heute unser Leben mit dem Wettkampf: Zunächst eine Idee, eine Einladung zum Lauf, später konkretisiert zum
magischen Datum: 30. Mai 2015.
Wer läuft nächstes Jahr mit uns?
Dazu viele Fragen: Kommen zehn Läufer zusammen, die für die Brüder- und
Schwesternschaft antreten? Ist die Länge
des Weges zu schaffen? Steigt keiner aus,
bleiben alle gesund? Finden wir ein Quartier? Findet sich genug Zeit fürs Training?
Und: Mit wem laufe ich da eigentlich? Einige der BuS und deren Partner kennen
sich gut, andere kaum bis gar nicht. Doch,
siehe da: Eine neue Gemeinschaft findet
sich. Alles andere auch.
Dann der große Tag
Wir haben den Siegeskranz erlangt – zugegeben, nicht den ersten Platz – aber
wir haben gesiegt, denn wir haben unser
Ziel erreicht, haben uns selbst besiegt,
au s d e r g e m e i n s c h a f t
sind gegen Schmerzen, Krankheit, den inneren Schweinehund, Seitenstiche, Zweifel angelaufen, das Holz für den nächsten
fest in der Hand, manchmal sich daran
festhaltend: Ich will es schaffen. Laufzeit
eine knappe Stunde und mehr! Jede/r
von uns. Wir haben Glücksmomente über
das körperliche Vermögen erlebt, Freude
am Tun empfunden und Dankbarkeit.
Und/oder wir haben unterstützt, gesorgt,
organisiert, mitgefiebert, angefeuert, telefoniert, damit die Läufer/Läuferinnen
ankommen. Zusammen haben wir es
geschafft! Im grünen Hemd der Brüderund Schwesternschaft waren wir gut zu
erkennen.
Das Leben mit diesem Wettkampf ist
nun vorbei. Wir gehen auseinander, weiter auf unseren Lebenswegen, neuen
Zielen entgegen, vielleicht ein neuer Lauf
oder etwas ganz anderes.
Was auch das Ziel ist: Möge Gott uns
auf allen Wegen geleiten. Komm gut an!
Lied 171, Vater unser, Segen
E i n l adu n g zum Mitm ac h en
Für den Lauf zwischen den Meeren am 28. Mai
2016 freut sich die Laufgruppe über weitere
motivierte Brüder und Schwestern, Männer
und Frauen, die Freude an der sportlichen
Betätigung und der Gemeinschaft haben. Die
Strecke von 95,5 km wird als Staffel mit mindestens fünf und höchstens zehn Läuferinnen
und Läufern bewältigt.
Informationen dazu gibt gern Bruder Günter
Grosse: [email protected]
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Der Bote 1/2015
Der Bote 1/2015
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Wir gratulieren!
40 Jahre Rauhhäusler Seniorentreff
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Die Diakone Hugo Wietholz (1909–1992)
und Walter Weiss (1905–1990) haben in
ihrem Gemeindedienst unter anderem
zahlreiche Fahrten für Jugendliche und
später Tagestouren für Ältere organisiert.
Es lag nahe, dass sie auch im Ruhestand die Hände nicht in den Schoß legen, sondern ihre Erfahrung und den
immer noch vorhandenen Schwung nun
für die älteren Geschwister einsetzen
würden. So ließen sie sich zusammen mit
Diakon Wilhelm Koch in die Leitung des
1975 gegründeten Seniorentreffs wählen.
Zusammen mit der rührigen Lisa Wietholz wurden viele Fahrten und Treffen
organisiert.
Reiseziele waren unter anderem die
Diakonen-Gemeinschaften in Rummelsberg, Neinstedt, Berlin und in Schleswig-Holstein. Tagestouren mit dem Bus
verbanden die 40 bis 50 Mitfahrenden
oft mit einem Karpfenessen und immer
auch mit einer Andacht. Die Senioren
trafen sich gelegentlich im Rauhen Haus,
um sich über den neuesten Stand der
Stiftung und über ihre ehemalige Ausbildungsstätte zu informieren.
Diese Ära dauerte bis 1992.
Zuletzt waren es Hugo
Wietholz und seine
Ehefrau Lisa allein, die
für gemeinsame Unternehmungen sorgten. Sie haben sich in besonderer Weise
um den Seniorentreff verdient gemacht.
Als Hugo Wietholz die Leitung aus gesundheitlichen Gründen abgeben musste, übernahmen die Diakone Herbert Arzbach und Hans Niethammer die Leitung
und sorgten für weitere mehrtägige Reisen, Tagesausflüge und Vortragstreffen
im Rauhen Haus. Nach deren Ausscheiden aus der Leitung fanden sich immer
wieder Geschwister, die bereit waren, die
eine oder andere Unternehmung oder
Reise zu organisieren.
Der Seniorentreff wird zur Zeit geleitet
vonRolf Lopau und Claudia Rackwitz-Busse für die Seniorentreffen, Gerd Junior,
Ulf Porrmann und Dieter Wendt für Tagestouren und mehrtägige Reisen, Gerd
Junior für Kassenführung sowie Horst
Weber für Video-Dokumentationen.
Die Reisegruppe 2010 nach Königslutter/Elm (von oben nach unten): Wolfgang Kluge, Ursel Potten,
Ulf Porrmann, Klaus Schaumann, Gerd Junior, Volkmar Lange, Renate Möhring, Wiebke Wendt,
Irmhild Bossow, Christoph Bretschneider, Dorothea Bretschneider, Gottfried Wendt, Hilda Inselmann, Christa Junior (verdeckt), Erika Peters, Dita Schulze, Anke Hose, Elisabeth Strathmeier,
Ingeborg Wendt, Dieter Wendt, Anke Peters, Jürgen Potten, Herrmann Inselmann, Rolf Lopau,
Hannelore Lopau
Das ist unser Programm für 2015
• 14. Januar: Karpfenessen im Restaurant „Zum Eichtalpark“.
• 11. März: Jahresversammlung
im RH
• 6. Mai: Vortrag im RH:
Die Ausbildungswege
der Ev. Hochschule für
Soziale Arbeit &
Diakonie
• 1. Juli: Vortrag Gert Müssig über
Matthias Claudius
• 15. August: Tagesfahrt mit dem Bus ins
Wendland. Näheres und Anmeldungen: Ulf Porrmann, Tel. 040/84 35 78
• 6. September: Einsegnungsgottesdienst in der Hammer Dreifaltigkeitskirche
• 14. Oktober: Vortrag im Rauhen Haus:
Über den Islam
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• 9. Dezember: Adventskaffee im Rauhen
Haus
Alle Treffen und Reisen sind zwar vom Seniorentreff organisiert, sind aber auch offen für Gäste und (Noch-)Nichtsenioren.
Allen gilt: Herzlich willkommen.
Gerd Junior
au s der gemei nsc h aft
Der Bote 1/2015
Bildung – Politik – Tradition
Am 28. Februar 2015 tagten der Ältestenrat und die Delegiertenversammlung gemeinsam. Schwester Johanna Kutzke berichtet aus dem Ältestenrat und seiner Arbeit.
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Ich knüpfe an den Bericht des Ältestenrats auf der Mitgliederversammlung der
Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses am 13. 9. 2014 an, in dem wir
über unsere Arbeit in der ersten Hälfte
unserer Amtszeit ausführlich berichtet
haben. Da es damals nach einem langen
Tag mit vielen Diskussionen und Entscheidungen etwas spät geworden war,
zitiere ich aus diesem Bericht noch einmal die Vorhaben, die wir für die zweite
Hälfte unserer Amtszeit wie folgt skizziert haben:
„In der Zeit nach dem Brüder- und
Schwesterntag werden wir uns inhaltlich
beschäftigen mit der Vorbereitungszeit,
d. h. der Begleitung der Studierenden
unter veränderten Studienbedingungen
und -angeboten […] Eine gemeinsame
Sitzung mit der Delegiertenversammlung ist für Anfang 2015 geplant. Wir
freuen uns darauf, nach arbeitsreichen
zwei Jahren und der Vorbereitung dieses Brüder- und Schwesterntages, den
Schwerpunkt der Arbeit – hoffentlich
– vom Organisatorischen mehr auf das
Inhaltliche setzen zu können, auch wenn
dies nicht immer genau zu trennen ist“.
Unter den drei großen Überschriften
Bildung – Politik – Tradition haben wir die
zu bearbeitenden inhaltlichen Schwer-
punkte zusammengefasst und wie folgt
zum Thema Bildung konkretisiert:
• Die Brüder- und Schwesternschaft als
„lernende“ Gemeinschaft weiterentwickeln, insbesondere die Rolle der Konvikte dabei stärken
• In Zusammenarbeit und verlässlichen
Strukturen mit der Hochschule Mitverantwortung für die Ausbildung der Diakoninnen und Diakonen übernehmen
• Als Personengemeinschaft unter veränderten Bedingungen das diakonische Profil der Stiftung Das Rauhe Haus
mitgestalten.
In der ersten Sitzung des Ältestenrats
nach dem Brüder- und Schwesterntag
am 7./8. 11. 14 haben wir die Ergebnisse
und den Verlauf der Mitgliederversammlung ausgewertet. Eine gemeinsame
Stellungnahme der Ältestenratsmitglieder dazu ist im Boten 2/2014 erschienen.
Selbstkritisch stellen wir fest:
„Zu dem Punkt Strukturveränderung in
der Ev. Hochschule gab es viele kritische
Nachfragen. In oft kontroversen Diskussionen wurde mangelnde Transparenz
befürchtet und kritisiert sowie die Sorge
deutlich, die Brüder- und Schwesternschaft sei in der neuen Gremienstruk-
Der Bote 1/2015
tur deutlich geschwächt. Rückblickend
meint der Ältestenrat, es wäre besser
und sinnvoller gewesen, die Strukturveränderungen in der Hochschule und dem
früheren Kuratorium in einem eigenen
Tagesordnungspunkt vorzustellen und
zu diskutieren. Wir bedauern diese Fehleinschätzung. Die Entscheidungen über
die Strukturveränderungen in der Stiftung und der Hochschule sind im Verwaltungsrat, dem Kuratorium und der
Hochschulkonferenz getroffen worden.
In diesen Gremien ist die Brüder- und
Schwesternschaft durch gewählte Mitglieder und die Konviktmeisterin vertreten.“
Eindeutig als gelungen bewertet der
Ältestenrat den Prozess und die Vorbereitung der Debatte und Entscheidung über
die neue Struktur der Mitgliedsbeiträge.
Auf Veranlassung der Delegiertenversammlung haben sich die Gremien und
die Konvikte mit dem Thema unter allen
Aspekten in einer breiten Diskussion beschäftigt. Eine große Mehrheit hat dem
gemeinsam erarbeiteten Antrag und den
Ergänzungen und Veränderungen auf der
Mitgliederversammlung zugestimmt.
An diesem Beispiel wird deutlich, wie in
Zukunft durch die Zusammenarbeit der
Gremien und einer breiten Partizipation
der Mitglieder die Gestaltung der Zukunft der Brüder- und Schwesternschaft
gelingen kann.
Wir haben uns dann auf dieser Sitzung
Zeit genommen, uns mit unserem Selbstverständnis als Mitglieder des gewählten
au s d e r g e m e i n s c h a f t
Leitungsorgans der Gemeinschaft auseinanderzusetzen. Aspekte, die wir zu
diesem Thema diskutiert haben, waren:
Rollen und Aufgaben, Gaben und Talente,
Ehrenamtlichkeit und Hauptamtlichkeit,
Glaube und Spiritualität, Wirkung innerhalb und außerhalb (z. B. in Kirche) der
Brüder- und Schwesternschaft.
Auf der Grundlage dieser Verständigung untereinander haben wir im weiteren Verlauf der Sitzung die inhaltliche
Arbeit des Ältestenrats für das Jahr 2015
geplant und Aufgaben in einem Zeitplan
präzisiert und zugeordnet. Als ergänzende, „quer“ dazu liegende Themen, die uns
durchgängig weiter beschäftigen werden, haben wir die Fragen, die mit dem
Selbstverständnis des Gremiums zusammenhängen, darin aufgenommen (siehe
Übersicht).
Schwester Tabea Fiebig gab auf dieser
Sitzung ihr Ausscheiden aus dem Ältestenrat zum Ende des Jahres aus Gründen
der Familienplanung bekannt. Inzwischen hat Schwester Dagmar Krok zugesagt, das Mandat als Nachrückerin wahrzunehmen. Darüber freuen wir uns sehr!
Die Brüder- und Schwesternschaft wurde
in der Eilbotin darüber informiert.
Gemäß unserer Planung haben wir
uns für die Ältestenratsklausur, die vor
zwei Wochen in der Diakonie Hephata in Schwalmstadt-Treysa vom 12. bis
zum 14. 2. 15 stattfand, das Thema „Diakonische Bildung“ vorgenommen. Die
Klausur begann mit einer Begegnung
mit Schwestern und Brüdern der Diako-
27
au s der gemei nsc h aft
28
nischen Gemeinschaft Hephata, die uns
mit einem gemeinsamen Agapemahl
und Abendessen willkommen hießen. Im
Anschluss wurden wir von den Geschwistern, insbesondere vom Geschäftsführer
und der Referentin, ausführlich über die
Rolle und Bedeutung der Diakonischen
Gemeinschaft Hephata in der diakonischen Einrichtung und für die Ausbildung
der Diakoninnen und Diakone in der Ev.
Kirche in Hessen und Nassau informiert.
Hier ist die Gemeinschaft – durch hauptund nebenamtliche DozentInnen und die
Verantwortung für bestimmte Inhalte
– in die Struktur des Studiums und der
Fachschulausbildung eingebunden. So
war dieser Abend der Begegnung neben
dem Kennenlernen einer anderen Gemeinschaft für uns auch die Einführung
in unsere inhaltliche Arbeit.
Die Klausur haben wir fortgesetzt mit
Arbeitseinheiten zu drei Aspekten zum
Thema Bildung und Gemeinschaft:
1. Brüder- und Schwesternschaft als Lernort/Konvikte und Seminare
2.Brüder- und Schwesternschaft und
Evangelische Hochschule
3.Brüder- und Schwesternschaft und
Nordkirche
Nach den jeweiligen Inputs und anschließenden Diskussionsrunden zu den Themen haben die Ältestenratsmitglieder
folgende Positionen und Aufgaben formuliert:
Der Bote 1/2015
1. Konvikte sind Lern- und Begegnungsorte (thematisch – spirituell – persönlich). Daneben sollen weitere „Lern-“
Angebote stehen (Seminare), die auch
Kommunikation fördern und Austausch ermöglichen mit Brüdern und
Schwestern..
2.Die Mitwirkung der Brüder- und
Schwesternschaft in der Ausbildung
soll strukturell verankert werden. Ein
Seminarkonzept „Diakonische Identität“ wird erstellt und als Angebot an
das Rektorat kommuniziert (unter Zugrundelegung des vorhandenen Konzepts). Die Begleitung der Studierenden
durch die Brüder- und Schwesternschaft wird Thema auf der nächsten
Sitzung der Delegiertenversammlung
(gemeinsam mit dem Ältestenrat) –
mit dem Schwerpunkt Vorbereitungszeit.Der Rektor der Ev. Hochschule
und die Mitglieder des Verbandes der
diakonischen Gemeinschaften in der
Nordkirche, die im neu konstituierten
Hochschulrat sitzen, werden in den Ältestenrat eingeladen.
3.Bis 2017 muss in der Landeskirche die
Position zum Diakonengesetz (und
über das Gesetz hinaus) bei den Entscheidungsträgern/Synodalen
bekannt sein. Dazu will der Ältestenrat
im April die Frage der Bedeutung der
Gemeinschaft und der Gemeinschaftsbindung beraten und formulieren. Der
Ältestenrat wird in Verbindung mit
dem Verbandsausschuss PR-Aktionen
planen und durchführen.
Der Bote 1/2015
Darüber hinaus hat sich der Ältestenrat
auf seiner Klausur mit den Auseinandersetzungen zum Thema rhP (Rauhes Haus
Personaldienste GmbH) beschäftigt und
ist zu folgendem Ergebnis gekommen:
Auf die Veröffentlichung des Konvents
DAGS in seinem Infoblatt vom November 2014 hat Bruder Green mit einer Stellungnahme im E-Mail-Verteiler der Brüder- und Schwesternschaft reagiert. Dies
führte zu Irritationen bei einigen Mitgliedern, die in einigen Konvikten angesprochen wurden. Der Ältestenrat hat sich
damit befasst, die Ergebnisse in knappen
Stichpunkten:
Unterschiedliche Meinungen dürfen
sein. Die Art und Weise der Kommunikation soll von Vertrauen und gegenseitigem
Respekt bestimmt sein. Eine Veröffentlichung über die Brüder- und Schwesternschaft hinaus darf der Gemeinschaft
und der Stiftung Das Rauhe Haus keinen
Schaden zufügen. Um das Thema zu besprechen, geht die Konviktmeisterin im
April 2015 in den Konvent DAGS.
Weitere Themen auf der Tagesordnung
waren die Beratung und Verabschiedung
des Wirtschaftsplans der Brüder- und
Schwesternschaft für 2015. In diesem Zusammenhang war auch der erste Bericht
der Konviktmeisterin über die Erfahrungen mit der Umsetzung des Beschlusses
der Mitgliederversammlung 2015 zur
Veränderung der Beitragsordnung von
Bedeutung. Viele Mitglieder – aber leider nicht alle – haben fristgemäß ihre
neue Einstufung zur Beitragsmessung
au s d e r g e m e i n s c h a f t
an das Diakonenbüro zurückgemeldet,
so dass im Januar mit dem Einzug der
neuen Beiträge begonnen werden konnte. Es gab auch skeptische Rückmeldungen und bisher einige wenige Austritte
aus der Gemeinschaft. Der Ältestenrat
als verantwortliches Gremium für die
Finanzen und den Wirtschaftsplan der
Gemeinschaft wird beobachten, ob nach
Umstellung der Beitragsordnung die notwendigen Einnahmen für die Arbeit der
Brüder- und Schwesternschaft erreicht
werden. Dazu wird es – wie beschlossen
– auf der Mitgliederversammlung 2016
eine Auswertung und eine Aussprache
geben.
Ich möchte an dieser Stelle noch ganz
persönlich feststellen, dass die Arbeit im
Ältestenrat durch eine sachliche und zugleich engagierte Atmosphäre geprägt
ist. Wir greifen die Anliegen auf, die aus
der Gemeinschaft an uns herangetragen
werden. Umgekehrt möchten wir mit den
Themen des Ältestenrats Impulse in die
Brüder- und Schwesternschaft hineintragen. In kontroversen Diskussionen bemühen wir uns, einen Konsens zu finden. Wir
freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit, gerade im Zusammenwirken mit der
Delegiertenversammlung, das in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren sehr
konstruktiv war.
Johanna Kutzke
29
au s dem r au h en h aus
Der Bote 1/2015
Der Bote 1/2015
au s d e m r au h e n h au s
Was macht dich stark?
„Wichern in die Gegenwart übersetzen“
Der Jahresbericht des Rauhen Hauses 2014 ist gerade
frisch erschienen und kann jetzt bestellt werden
Gespräch mit Carsten Krüger, Leiter des Stiftungsbereichs Behindertenhilfe
30
Auf die Frage nach dem, was stärkt oder
stark macht, haben wir sehr offene und
auch berührende Antworten bekommen:
von Christine Fritzsche, die eine psychische Erkrankung hat und als Ex-Inlerin
oder Genesungsbegleiterin Klienten aus
der Sozialpsychiatrie unterstützt. Oder
Regine Mäkelburg, die Cengiz und Karim,
die beiden Jungs auf dem Titel, im HueD
Kastanie betreut hat. Und woher nimmt
unsere Seelsorgerin Corinna Peters-Leimbach die Kraft, uns Kolleginnen, Kollegen
und Betreute im RH zu stärken?
Was klar ist: Das, was einen Menschen
stärkt, bringt ihm zum Leuchten. Und das
zeigen alle Bilder im Jahresbericht!
Neugierig geworden? Der Jahresbericht enthält wie stets Berichte der Stiftung und ihrer Bereiche, manche Zahlen
und die Chronik 2014. Er ist erhältlich in
der Stabsstelle Kommunikation:
• [email protected]
• Tel. 040/655 91-111
Carsten Krüger, geb. 1971, Diplom-Sonder- und
Heilpädagoge; berufliche Tätigkeiten in der
Behindertenhilfe in Berlin, Geschäftsführer,
wissenschaftlicher Mitarbeiter; verheiratet,
zwei Kinder
Carsten Krüger ist seit gut einem Jahr
Stiftungsbereichsleiter der Behindertenhilfe des Rauhen Hauses. Nach seinen
Eindrücken vom Leben und Arbeiten in
den Einrichtungen gefragt, ragen vor allem drei Merkmale heraus: die Lebendigkeit, die hohe Identifikation und die Tradition. Er erlebt die Tradition des Rauhen
Hauses nicht als etwas Erstarrtes oder
Konserviertes, sondern als ein „Übersetzen Wicherns in die Gegenwart“, zum
Beispiel, dass die Bewohner_innen Ausbildung und Arbeit erhalten sollen, die
sich am ersten Arbeitsmarkt orientieren
und ein weitgehend eigenständiges Le-
ben ermöglichen. Wichern habe mit der
Druckerei einen damals sehr anerkannten Beruf im Rauhen Haus gefördert.
Der Stiftungsbereich Behindertenhilfe macht im Rauhen Haus mit ca. 260
Mitarbeiter_innen, die 300 Menschen
mit Behinderungen betreuen, knapp ein
Viertel der Stiftung aus, auch finanziell
und wirtschaftlich. Ein großer Arbeitsbereich, wenn man bedenkt, dass Das Rauhe Haus in der Öffentlichkeit eher mit der
Kinder- und Jugendhilfe und den Ausbildungsstätten assoziiert wird.
Aktuelle Aufgaben sind eine Reihe von
Bauvorhaben und Modernisierungen,
zum Beispiel ein Wohnhaus auf dem
Gelände der ehemaligen Bäckerei, Umbauten am Gräflingsberg und die Ausweitung der Kulturarbeit, die Vielfalt der
Angebote des Kulturtreffs Bienenkorb ist
dafür ein Vorbild.
Gemäß der fünf Leitziele der Stiftung
des Rauhen Hauses, die von der Gesamtkonferenz entwickelt wurden, gibt es in
Abstimmung und Kommunikation mit
dem Vorstand Zielformulierungen zu
den einzelnen Punkten, die im Rahmen
einer Zeitleiste umgesetzt werden. Zum
diakonischen Profil gibt es die Kooperation mit dem Projekt der religions- und
kultursensiblen Arbeit der Kinder- und
31
au s dem r au h en h aus
32
Jugendhilfe, weitere Angebote mit diakonischen Inhalten in der Kulturarbeit und
eine verstärkte Zusammenarbeit mit den
Kirchengemeinden in den Sozialräumen.
Das Thema Inklusion auf der Grundlage der UN-Behindertenrechtskonvention
bedeutet weitere Herausforderungen für
den Stiftungsbereich Behindertenhilfe.
Herr Krüger sieht dies vor allem als eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe, nicht
als eine Angelegenheit von Expert_innen. Ganz konkret gibt es Überlegungen, ein gemeinsames Wohnprojekt
von Studierenden und Menschen mit
Behinderungen auf dem Gelände der
ehemaligen Bäckerei zu realisieren. Aber
auch die Beteiligung der Kommunen bei
neuen Bauvorhaben, die vom Know-how
der Diakonie und des Rauhen Hauses
profitieren können. Inklusion sieht er als
eine umfassende Bewegung von Bürgern für eine gerechte Gesellschaft, was
aktuell beispielhaft am Engagement für
Flüchtlinge deutlich wird. Bis dies eine
Selbstverständlichkeit wird, braucht es
einen generationsübergreifenden langen Atem, vielleicht vergleichbar mit der
Emanzipationsbewegung.
Die Mitarbeiter_innen des Rauhen Hauses zeichnen sich durch eine hohe Identifikation mit der Einrichtung aus. Die diakonische Haltung sieht Carsten Krüger
als Qualitätsmerkmal der Arbeit. Er selbst
wurde im weiteren Sinne „evangelisch
sozialisiert“ mit allem, was dazu gehört:
Kindergottesdienst, Zeltlager, Konfirmation, Kirchenmusik, Gottesdienste (nicht
Der Bote 1/2015
nur zu den hohen Feiertagen). Für ihn war
es eine positive Erfahrung, diese „Kultur“
im Rauhen Haus wiederzufinden. Spirituelle Angebote für die Mitarbeiter_innen
und die Bewohner_innen, die Feste, die
Verbindungen zu Kirchengemeinden bereichern die Arbeit der Stiftung. So gab
es zum Beispiel eine Pilgerreise im Programm des Kulturtreffs Bienenkorb, den
die Diakonin Maren Röse leitet.
Mit weiteren Mitgliedern der Brüderund Schwesternschaft gibt es unmittelbaren Kontakt durch die Zusammenarbeit in der Stiftung Das Rauhe Haus:
Diakon Uwe Mann-van Velzen von der
Stabstelle Kommunikation, Diakon Reinhard Förtsch im Freiwilligenmangement
und die Konviktmeisterin Claudia Rackwitz-Busse im Diakonenbüro. Die Einrichtung am Gräflingsberg in Henstedt-Ulzburg hat gerade einen Diakon aus Bethel
als Teamleitung eingestellt.
Das Seminarangebot der Brüder- und
Schwesternschaft zur „Leichten Sprache“
zeige, dass es verbindende Themen gibt.
Ein eindrückliches Erlebnis war für
Carsten Krüger die Begegnung mit 40
Diakonen im Ruhestand, die sich den Kattendorfer Hof, den sie während ihrer Ausbildung kennengelernt hatten, in seinem
heutigen Zustand ansehen wollten. Sie
waren sehr angetan von der Pflege des
Geländes – heute ein Bio-Bauernhof –,
das sie früher selbst bewirtschaften
mussten. Auf diese Weise erfuhr er einiges über die ehemalige Diakonenausbildung.
Der Bote 1/2015
Herr Krüger fühlt sich mit seiner Familie nach dem Umzug von Berlin in Hamburg sehr wohl. Er hat bereits früher mit
seiner Frau hier gelebt und findet, dass
die Stadt viel Lebensqualität bietet. Grüne Oasen und das Wasser laden zu einer
aktiven Freizeitgestaltung ein. Trotz des
au s d e m r au h e n h au s
sichtbaren Wohlstands im Vergleich zu
Berlin nimmt er Hamburg auch als eine
in Armut und Reichtum gespaltene Stadt
wahr. Nachdem er nicht mehr, wie zu Beginn seiner Tätigkeit, pendeln muss, hat
er hier ein neues (altes) Zuhause gefunden.
33
„Der Heilige Geist ist mit im Raum“
Gespräch mit Corinna Peters-Leimbach,
Seelsorgerin im Rauhen Haus
Ich treffe Corinna Peters-Leimbach, seit
dem 1. 6. 2014 Pastorin auf der Stelle der
Seelsorgerin des Rauhen Hauses, in ihrem Büro und Gesprächszimmer auf dem
Gang zwischen Haus Weinberg und der
Küche vom „Amanda’s“. Der helle und
freundliche Raum wirkt wie ein guter Ort
zum Zuhören und Reden.
Die seelsorgerlichen Gespräche mit den
Menschen, die im Rauhen Haus leben, begleitet werden oder arbeiten, finden aber
nicht nur hier statt. Corinna Peters-Leimbach ist unterwegs in den verschiedenen
Stiftungsbereichen und Einrichtungen.
Sie ist darüber hinaus mitverantwortlich
für die Weiterentwicklung des diakonischen Profils der Stiftung, zum Beispiel
durch Angebote diakonischer Bildung
im Fortbildungsprogramm des Rauhen
Hauses. Diese gestaltet sie sowohl allein
als auch in Zusammenarbeit mit der Konviktmeisterin der Brüder- und Schwes-
Corinna Peters-Leimbach, geb. 1969, verheiratet, 9 Jahre Gemeindepastorin in Harburg
und Wilhelmsburg, 6 Jahre Projektstelle zur
Begleitung der Umstrukturierungsprozesse
auf der Elbinsel, seit Juni 2014 Seelsorgerin im
Rauhen Haus
ternschaft, Claudia Rachwitz-Busse, und
anderen Diakon_innen und Mitarbeiter_innen des Rauhen Hauses. Austausch
gibt es auch mit Katharina Gralla, Schulpastorin der Wichern-Schule. Oasentage,
au s dem r au h en h aus
34
Rituale, Feste im Kirchenjahr gehören
zu ihren Aufgaben sowie Gottesdienste,
Taufen und Wiedereintritte in die Kirche.
Ein besonderer Schwerpunkt ist die Begleitung von Tod und Sterben.
Das Besondere an ihrer Arbeit als Seelsorgerin sieht Corinna Peters-Leimbach
in ihrer Unabhängigkeit, fachlich – Seelsorge ist keine Therapie – und persönlich
– sie steht nicht in einem Betreungsverhältnis zu den Ratsuchenden.
Vor ihrer Tätigkeit im Rauhen Haus
hat sie ein dreimonatiges „Sabbatical“
genommen, nachdem sie viele Jahre als
Pastorin auf der Elbinsel Wilhelmsburg
gearbeitet hat. Zunächst in einer Kirchengemeinde, später auf der Projektstelle
zur Begleitung der Umstrukturierungsprozesse durch die IBA (Internationale
Bauaustellung) und die igs (Internationale Gartenschau). Durch die Erfahrungen
in einem Stadtteil wie Wilhelmsburg ist
sie in der Ansicht bestärkt worden, dass
Glauben auch immer politisch ist und „in
der Welt“ wirkt. Die Stärke der Kirche ist
dabei ihre Unabhängigkeit, dass sie sich
von niemandem – sei es von der Politik
oder anderen Interessen – vereinnahmen
lassen muss.
Corinna Peters-Leimbach hat erlebt,
wie die Menschen in Wilhelmsburg trotz
aller Schwierigkeiten zusammenstehen,
zum Beispiel bei traurigen Ereignissen
wie dem Tod des kleinen Volkan oder gegen negative Schlagzeilen in der Presse,
und sich an der Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse beteiligen.
Der Bote 1/2015
Der interreligiöse Dialog spielte dabei
eine wichtige Rolle, sichtbar geworden
im „Garten der Religionen“ auf der Internationalen Gartenschau, wo sie mit vielen Freiwilligen Gäste und Besucher_innen empfangen hat.
Corinna Peters-Leimbach wohnt mit
ihrem Ehemann in Harburg, sie findet
den Blick von außen auf ihre jeweiligen
Arbeitsstätten ganz hilfreich. Sie ist eine
„Brüderfrau“, Martin Leimbach arbeitet
als Referent in der Fachstelle Gemeinwesendiakonie im Kirchenkreis Hamburg
Ost.
Die Bedeutung der Brüder- und
Schwesternschaft für Das Rauhe Haus
sieht sie als „Trägerin der Tradition“, die
diese für das 21. Jahrhundert reformiert.
Die Herausforderung ist, den Schatz einer
christlichen Gemeinschaft in die nächste
Generation hineinzutragen. Sie erlebt die
Brüder- und Schwesternschaft als offen
und reflektierend. Die Frage kann auch
umgekehrt gestellt werden: Was bedeutet Das Rauhe Haus für die Brüder- und
Schwesternschaft?
Da die Gesellschaft sich verändert,
stellt sich die Frage nach der Öffnung der
Stiftung für Mitarbeiter_innen, die keiner
oder einer anderen Religionsgemeinschaft angehören. Für Corinna PetersLeimbach ist es wichtig, dass dies gut
überlegt mit einer gleichzeitigen Schärfung des diakonischen Profils einhergeht.
Religion ist eine Kraftquelle und die Entdeckung der jeweils eigenen Prägung
eine Ressource. Das Kirchenjahr bei allen
Der Bote 1/2015
Erfordernissen der Arbeit zu respektieren
ist ein sichtbares Zeichen für die Wertekultur des Rauhen Hauses.
In den Gesprächen mit Betreuten, Mitarbeitenden und Angehörigen ist die
Seelsorgerin davon überzeugt, „dass der
Heilige Geist mit im Raum ist“. Menschen
machen Erfahrungen mit Begrenzungen
und Endlichkeit, fragen nach Schuld und
Sinn oder konfrontieren die Pastorin mit
traumatischen Lebensereignissen.
au s d e m r au h e n h au s
Wie schafft Corinna Peters-Leimbach
die sogenannte Work-Life-Balance? „Ich
trenne das nicht so“, sagt sie, „auch meine Arbeit ist ein Teil meines Lebens“ und
so Erfüllung und Kraftquelle. In ihrer freien Zeit genießt sie den eigenen Garten,
Musik im Allgemeinen und Singen im
Chor im Besonderen und geht gern mit
ihrem Mann tanzen.
Johanna Kutzke
35
au s deR NOR D KIRCHE
Der Bote 1/2015
Vier sind Tausend
Rückblick auf das erste Jahr des Verbandes
Diakonischer Gemeinschaften in der Nordkirche
36
Die folgenden vier Gemeinschaften haben den Verband Diakonischer Gemeinschaften in der Nordkirche gegründet:
• Züllchower-Züssower Diakonen- und
Diakoninnengemeinschaft
• Schleswig Holsteinische Diakonatsgemeinschaft e. V
• Diakonische Gemeinschaft Rickling
• Brüder- und Schwesternschaft des
Rauhen Hauses.
Die verbindliche Zusammenarbeit der diakonischen Gemeinschaften in der Nordkirche hat eine lange Vorlaufzeit in Form
eines Kooperationsausschusses in der
damaligen Nordelbischen Kirche gehabt.
Nach intensiver Klärung der unterschiedlichen Profile der einzelnen Gemeinschaften ist das Vertrauen gewachsen,
so dass die vier Gemeinschaften am 21. 2.
2014 den Verband Diakonischer Gemeinschaften in der Nordkirche im Rauhen
Haus gründeten.
Der formale Zusammenschluss war
unter anderem auch durch die Aufgabe
der Diakon/innen-Ausbildung in Rickling
und Preetz notwendig geworden. Den
beiden schleswig-holsteinischen Diakonatsgemeinschaften fehlte der Nachwuchs, eine Förderung der Gemeinschaf-
ten, zum Beispiel durch Personalstellen
der damaligen Nordelbischen Kirche,
war schon lange nicht mehr gegeben.
Die beiden Gemeinschaften mussten alle
satzungsgemäßen Aufgaben aus immer
weniger werdenden Mitteln bestreiten.
Die Diakoninnen und Diakone waren
eingespannt in die im gemeindlichen
Bereich knapper werdenden und zunehmend gesplitteten Stellen. Die größere
Anzahl von Diakonninnen und Diakonen
arbeitete inzwischen in diakonischen
Einrichtungen, in Stadteilprojekten, in
den Jugend- und Sozialämtern der Kommunen, in Kindertagesheimen oder in
Behinderteneinrichtungen. Sie hatten
den „Rückzugsort Gemeinde“ (Hildrud
Keßler) verlassen und nur noch wenig
Zeit, sich ehrenamtlich in einer Gemeinschaft zu betätigen und ihrer eigenen
Familie gerecht zu werden. Auch die Arbeitsbereiche der Diakoninnen und Diakone unterlagen und unterliegen dem
Ökonomisierungsdruck. Eine Teilnahme
an der Gemeinschaftspflege ist zwar kirchenrechtlich verpflichtend, aber es fiel
immer schwerer, entsprechende Dienstbefreiungen zu erlangen, besonders bei
den refinanzierten Stellen.
Die Organisation und Leitung einer
Gemeinschaft, die Kontakte zu den ver-
Der Bote 1/2015
schiedenen kirchlichen Gremien, die
seelsorgerlichen Aufgaben in der Gemeinschaft fordern ein hohes Maß an
Engagement, welches nicht immer mit
der beruflichen Aufgabenstellung in
Einklang zu bringen ist.
Weiterhin brachte die Gründung der
Nordkirche neue Aspekte in den Verband Diakonischer Einrichtungen. Etwa
die unterschiedlichen Grade an Konfessionslosigkeit in Ost und West und die
gemeindepädagogische
Ausbildung
und Beruflichkeit in Mecklenburg Vorpommern. Es ist daher ein Glücksfall für
den Verband, dass die Züllchower-Züssower Diakonen- und Diakoninnengemeinschaft schon in den Kooperationsphasen mitgemacht hat und wir heute
von dort neue Anregungen in unsere
Gemeinschaften und in den Verband hinein erhalten.
Das Rauhe Haus als die älteste Gemeinschaft mit ihrer über 150-jährigen
Tradition hat sich stets solidarisch gegenüber den Problemen der anderen Gemeinschaften verhalten. Hier bestehende Vorurteile, die vor allen Dingen in der
starken Präsenz in der Ausbildung lagen,
konnten abgebaut und in neue Formen
der Zusammenarbeit an der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie gebracht werden. Als größte Gemeinschaft
im Verband hat sie ihre Infrastruktur zur
Verfügung gestellt, und dank ihrer besonderen Kontakte zur Kirche und ihrer
Diakonie war sie eine große Hilfe bei der
Gründung.
au s d e R NOR D K IRCHE
Insgesamt kann gesagt werden, dass
die Verbandsgründung Synergieeffekte
geschaffen und adäquat auf die Schaffung der Nordkirche reagiert hat, ohne
an den Traditionen und Profilen der Gemeinschaften zu rütteln. So heißt es
in der Verbandssatzung: „Die Gemeinschaften dienen Diakoninnen, Diakonen
und Mitarbeitenden im Diakonat zur
Ermutigung, Befähigung und Unterstützung. Der Verband vertritt die Gemeinschaften in ihren gemeinsamen Interessen nach außen.“
Für kirchliche und andere Institutionen und Personen ist der Verband jetzt
eine wichtige Anlaufstelle für Fragen und
Probleme. Andererseits ist es für die einzelnen Gemeinschaften hilfreich, diesem
Gremium bestimmte Aufgaben zu übergeben oder Initiativen zu ergreifen. Das
entlastet die Gemeinschaften, hilft aber
auch, sich mit stärker gewordener Stimme gegenüber der Nordkirche Gehör zu
verschaffen.
Der Verband fördert das diakonische
Handeln gemeinsam mit den Gemeinschaften im Diakonat, sucht den Dialog
mit weiteren Berufsgruppen und repräsentiert die Gemeinschaften in der Öffentlichkeit.
Nach fast einem Jahr Arbeit im Verband schauen wir zurück auf die Kontaktaufnahmen mit verschiedenen Gremien
der Nordkirche. Hier besonders mit der
Arbeitsstelle für die Qualifizierung gemeindebezogener Dienste am PTI in der
Nordkirche. Herr Pastor Matthias Selke
37
au s deR NOR D KIRCHE
38
ist uns dabei eine große Hilfe gewesen.
Er ist das sachbezogene Gegenüber und
unser Ansprechpartner in der Nordkirche.
Sein Angebot, den Verband, aber auch die
einzelnen Gemeinschaften in vielfältiger
Hinsicht zu unterstützen, haben wir gerne zur Kenntnis genommen und werden
dieses nutzen.
Weiterhin hat uns die Ausbildung von
Diakonninnen und Diakonen am Rauhen
Haus beschäftigt. Die veränderten Bedingungen des Diakonenberufes, seine
Professionalisierung, die veränderten sozialpolitischen und gemeindepädagogischen Aspekte waren Inhalte der Diskussionen. Die Bedürfnisse, Nöte und Fragen
der Menschen in verschiedenen Lebensräumen stehen im Mittelpunkt der Arbeit vieler unserer Mitglieder, ohne dass
dabei die „Kommunikation des Evangeliums“ zu kurz kommen sollte. Wie ist ein
Spagat zwischen sozialwissenschaftlichen und theologischen Kenntnissen im
Rahmen der Ausbildung an der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie des
Rauhen Hauses möglich? Die Teilnahme
von Diakoninnen und Diakonen an Ausbildungsteilen sollte intensiviert werden. Auch sind wir froh darüber, dass es
gelungen ist, zwei Vertreter/innen des
Verbandes in den Hochschulrat zu entsenden. Im April haben wir zum Thema
Ausbildung zum Diakon/zur Diakonin zu
einem ersten Fachgespräch eingeladen.
Dabei sollen die in der Diakonenausbildung verantwortlichen Theologieprofessorinnen mit Diakonen und Diakoninnen
Der Bote 1/2015
Der Verband diakonischer Gemeinschaften
lud am 22. April 2015 zu einem Fachgespräch
in den Sieveking-Saal ein. Die Diakoninnen
Nicole Meyer und Wiebke Johannsen sprachen
über ihre ersten Berufserfahrungen in der
Kirchengemeinde. Professorin Dr. Ulrike Suhr
gab einen Überblick über das Diakoniestudium
an der Ev. Hochschule. Diakon Wolfgang von
Rechenberg, Referent im Landeskirchenamt
Schwerin, gab einen Ausblick auf das diakonisch-gemeindepädagogische Arbeitsfeld in
der Nordkirche. In der angeregten Diskussion
mit Gästen aus Studium, Praxis und den diakonischen Gemeinschaften wurde deutlich, dass
Diakone und Diakoninnen mit der doppelten
Qualifikation Soziale Arbeit und Diakonie gut
ausgebildet sind. Für die Herausforderungen des Arbeitsfeldes kirchengemeindlicher
Kinder- und Jugendarbeit sehen Nicole Meyer
und Wiebke Johannsen Bedarf für weitere
arbeitsfeldspezifische Qualifikationsangebote. Da sind Landeskirche und Hochschule
gefordert. Gleichzeitig arbeiten die Gemeinschaften daran, unterschiedliche Formen der
Begleitung von Diakonen und Diakoninnen
in den ersten Berufsjahren, z. B. in Form eines
Mentoring, weiterzuentwickeln.
aus Arbeitsfeldern in der Nordkirche
über die Herausforderungen von Theorie
und Praxis ins Gespräch kommen. Ange-
Der Bote 1/2015
Der Verbandsauschuss hat im neu konstituierten Hochschulrat der Ev. Hochschule seine
zwei Sitze besetzt. Gewählt wurden:
Diakonin Nicola Ahrens-Tilsner, 47 Jahre. Sie
ist Mitglied der Brüder-und Schwesternschaft
des Rauhen Hauses. Nach ihrem Bachelor und
Diakoninnenabschluss 2010 absolvierte sie
das Masterstudium Soziale Arbeit „Planen und
Leiten“ am Rauhen Haus. Sie ist als Sozialpädagogin an der Wichern-Schule tätig.
Diakon Wolfgang Seyfried, 62 Jahre ist Mitglied in der Züllchower-Züssower Diakoninnen- und Diakonengemeinschaft und Ältester
dieser Gemeinschaft. Er ist Diplom-Sozialarbeiter und hat Sozialmanagement (MA) in
Berlin studiert. Er leitet eine Behindertenwohnstätte in Haßleben in der Uckermark.
Zusammen mit der Konviktmeisterin Claudia
Rackwitz-Busse nehmen sie ihr Mandat im
neuen Hochschulrat mit großer Freude und
Engagement wahr. Die Weiterentwicklung der
Studienanteile für die diakonische Ausbildung
ist ihnen eine Herzensangelegenheit.
regt hat uns dazu das Prädikantengesetz
der Nordkirche, in der die Einbeziehung
des Diakonenamtes und die besondere
theologische Qualifikation von Diako-
au s d e R NOR D K IRCHE
ninnen und Diakonen nicht berücksichtigt werden.
Auch in Zukunft wird der Verband sich
übergreifenden Aufgaben widmen. Ein
sehr großes Thema wird das neue Diakonengesetz sein. Hier erwarten wir
wahrscheinlich für das Jahr 2017 eine Synode, die unter anderem auch über das
Diakonengesetz entscheiden wird. Der
Verband muss hierfür schon jetzt in den
Startlöchern stehen. Die Zugehörigkeit
weiterer Berufsgruppen und die Gemeinschaftsbindung werden dabei eine große
Rolle spielen.
Die genannten Aktivitäten und die Aufgaben des Verbandes werden sicherlich
eine Entlastung für die Gemeinschaften, aber auch eine Erleichterung für die
Nordkirche bedeuten. Die Gemeinschaften können in ihren gewachsenen Identitäten und Profilen weiterleben.
4 = 1000? Betrachtet man die 4 als eine
Einheit mit unterschiedlichen Identitäten, kann man dieses auch von den 1000
sagen. 1000 Diakoninnen und Diakone
mit unterschiedlichen Profilen, Tätigkeiten, Eigenschaften, Hautfarben, Bekenntnissen und ethnischen Zugehörigkeiten
sind für den Verband eine starke Basis
und eine große Einheit in der Kommunikation des Evangeliums. Nur gemeinsam
sind wir stark.
Dieter Waldner
Schleswig Holsteinische Diakonatsgemeinschaft e. V., Stellvertretender
Vorsitzender des Verbandsausschusses
39
au s dem vedd
Der Bote 1/2015
Moin, Moin!
au s d e m v e dd
Hamburg hat was. Diese nordische Gelassenheit, dieses „Tor zur Welt“, dieses
punkige, das wirkt anziehend. Dass hinter dieser „Perle im Norden“ auch viel
„Schattiges“ steckt, wird sichtbar, wenn
man nicht nur an Kreuzfahrtschiffen und
Fischbrötchen Gefallen findet. Den für
eine Großstadt typischen sozialen Brennpunkten stellen Diakonie und Kirche
Hoffnungsorte, neudeutsch „sozialdiakonische Schwellenangebote“, entgegen,
die wir besuchen durften.
Zum Beispiel in der Rathauspassage:
Inmitten einer Shoppingmeile gibt es
diese einladende Ladenzeile, da werden
mit Hilfe von Kaffee, Kuchen, Snacks
und Büchern qualifizierte Arbeitsplätze
für Langzeitarbeitslose geschaffen und
gleichzeitig ein wichtiger Beitrag zur Belebung der Innenstadt geleistet. So heißt
es in der Selbstbeschreibung.
Das Café mit Antiquariat ist angenehm
ruhig, trotz der lauten und hektischen
Umgebung drumherum. Kulturelle Angebote wie Lesungen und Ausstellungen laden neugierige „Laufkundschaft“,
hungrige Kirchenferne und schon Begeisterte gleichermaßen ein.
Dass die Verknüpfung von Kirche und
Diakonie herausfordernd ist, konnten wir
im Gespräch mit der gastgebenden Pastorin im Sperrgebiet – der Beratungsstelle für junge Frauen rund um das Thema
Prostitution – heraushören. Diese weiß
nicht so recht, wie ihre pastorale Begabung in diesem gesellschaftlich, rechtlich
und persönlich konfliktreichen Arbeitsfeld ansprechend Raum finden kann, und
wir wussten es auch nicht. Sowas gibt’s
in Bayern nicht. Weder einen Seemannsclub, noch so einen wie in Duckdalben.
Leider sind wir nicht die „Peergroup“,
aber Gäste waren wir gerne, und wohlgefühlt haben wir uns auch. Der Seemannsclub bietet Seeleuten, meist aus Übersee,
im Club Abwechslung vom fordernden
Schiffsalltag. Dieser „offene Treff“ für
Seemänner bietet zahlreiche Kommunikationsmöglichkeiten. Sei es an der
Theke, am Billard mit anderen Kollegen
oder mit Ehrenamtlichen des Clubs, oder
durch moderne Medien nach Hause.
Mit seinem Gott kann man auch reden.
Der Andachtsraum ist ein regelrechtes
Pantheon, wo jede religiöse Idee friedlich
nebeneinander koexistiert. Kaum ein anderer Ort bringt Heimweh und Fernweh
greifbarer zusammen als Duckdalben.
Wenn Hamburg, dann auch bitte Rauhes Haus, live und in Farbe! Die Begegnung mit dem Ältestenrat war anregend
und spannend. Trotz der Unterschiede der Gemeinschaften in ihrer Struktur und Historie ist manches zwischen
„Rauhhäuslern“ und „Rummelsbergern“
dann doch irgendwie ähnlich. Sei es der
Umgang miteinander, das Interesse am
Gegenüber, der Humor. Gut zu wissen,
dass andere Gemeinschaften auch feiern können. Diesen historischen Ort mit
Leben und Lachen zu füllen, erfahrbar zu
machen, wie eine Idee diakonisch zu handeln damals wie heute den Puls der Zeit
treffen kann, ist faszinierend und ermutigend zugleich.
Nicht weit von unserer Unterkunft, der
Seemannsmission mit Blick auf den Elbhafen, liegt die „Kiezkirche“ in St. Pauli.
Nach dem hektischen Treiben auf dem
Fischmarkt in den Gottesdienst zu gehen
hat auch seinen Reiz, ebenso das Liedgut
auf platt.
Insgesamt war die Studienfahrt kurzweilig, interessant, spannend, feuchtfröhlich und macht Lust auf mehr. Herzlichen Dank an das Vorbereitungsteam!
Freude am Genießen – Reden – Hören – Lachen
Geistliche Gemeinschaft in der Kapelle
Gastfreundschaft aus vollen Händen
Spurensuche am historischen Ort
Besuch der Diakoninnengemeinschaft Rummelsberg
40
Der Bote 1/2015
Die Diakoninnengemeinschaft Rummelsberg (Bayern) besuchte Das Rauhe Haus
und diakonische Arbeitsfelder in der
Stadt während ihrer Studienfahrt nach
Hamburg im April 2015
Diakonin Kerstin Stengel
Gemeindediakonin aus
Erlangen/Mittelfranken
41
a nstöSSe
Der Bote 1/2015
a n stö S S e
Der Bote 1/2015
Ich habe über Jesus gehört
und halte das für wahr.
Seminar Leichte Sprache
42
„Leichte Sprache gibt es wirklich. Menschen mit Behinderungen haben sie für Kommunikation im öffentlichen Leben eingefordert. Sie ist eine Herausforderung für
öffentliche Rede, also auch für Sprache im Gottesdienst. Die These: Leichte Sprache
gibt religiöser Rede eine Form der Demut, die das Wort hinter den Wörtern leichter
erscheinen lässt.“
So beginnt Pastorin Anne Gidion (Gottesdienstinstitut Nordkirche) ihren Impuls zum Thema Leichte Sprache. Elf Brüder und Schwestern haben sich für das
3×3-Seminar der Reihe Lernende Gemeinschaft in der Passionszeit in Hamburg
eingefunden. Unsere Referentin Anne
Gidion führt uns mit „leichter“ Hand an
die Übersetzung der Bibeltexte, die in der
Karwoche im Textkanon zu finden sind.
Ermutigt durch Pastorin Gidion: „Es
gibt so viele Arten, das Wort Gottes zur
Sprache zu bringen, wie es Arten der Musik gibt. Ich wüsste nicht, welche die ‚richtige‘ ist: die akribische, die poetische, die
populäre, die geglättete, die geschichtlich geprägte …“ Die hier vorgelegte Art,
in Leichter Sprache, erlaubt eine Unmittelbarkeit des Verstehens, die eine große
Stärke hat. Man muss nicht Kind werden,
um einem biblischen Text ganz unbefangen nah zu sein.
Leichte Sprache erlaubt Einfalt mit
aufrechtem Gang. Damit zeigt sie etwas
ganz Wesentliches, wenn es um das Wort
43
Gottes geht: Es ist nämlich in Wahrheit
überhaupt nicht kompliziert, sondern so
einfach wie der Satz: „Du bist geliebt.“1
So entstanden Texte für die gemeinsame Agapemahlfeier:
Jedes Jahr feiern die Menschen
im Land Israel ein großes Fest.
Es heißt Passahfest.
Sie erinnern sich daran,
wie ihre Ur-Ur-Ur- Großeltern
in Gefangenschaft gelebt haben.
Aus dieser Gefangenschaft
wurden sie befreit.
Das wird bis heute gefeiert.
Jesus und seine Freunde
wollen dieses Fest auch feiern.
Sie haben kein eigenes Haus.
Sie brauchen Platz,
um alles vorzubereiten.
Das Fleisch und das Brot.
Sie fragen Jesus um Rat,
wo sie feiern können.
Jesus kennt eine gute Adresse,
mit viel Platz und Polstern zum Sitzen.
Am Abend treffen sich alle. Sie bereiten das Festessen zu.
Zwei Freunde schickt er voraus.
Sie finden alles vor,
wie Jesus es gesagt hat.
Sie bereiten das Festessen zu.
Am Abend treffen sich alle.
Jesus und seine zwölf Freunde.
Sie essen zusammen an einem Tisch.
Beim Essen macht Jesus
eine schlimme Ankündigung:
Einer von euch wird mich verraten.
Sie werden traurig.
Sie fragen ihn, einer nach dem anderen:
Bin ich es?
Jesus sagt noch einmal:
Es wird Schlimmes geschehen,
das weiß ich.
Einer von euch –
der mit mir das Essen teilt –
wird mich verraten.
Das wird er immer wissen.
Markus 14, 12–21
Ich habe über Jesus gehört
und halte das für wahr. Darum gebe ich es an euch weiter.
Der Herr Jesus wurde
eines Nachts verraten. Vorher hat er das Brot genommen. Er dankte für das Brot und teilte es. Dabei sprach er: Das bin ich.
Ich werde für euch getötet. Trotzdem werde ich immer bei euch sein. Esst das Brot, damit ihr daran denkt.
Nach dem Essen nahm er den Becher
a nstöSSe
Der Bote 1/2015
Der Bote 1/2015
und von deiner Liebe erzählen
Sie halten sich an ihr Versprechen.
Gott, ich hoffe:
Alle Menschen der Welt
lernen dich kennen,
alle Menschen dieser Welt
entscheiden sich, dich anzubeten.
Dann, Gott, werden wir alle
in Frieden und Gerechtigkeit leben
Nach Psalm 22 II
44
a n stö S S e
Alle Texte dieses Seminars sind auf der
Internetseite des Gottesdienstinstituts
www.gottesdienstinstitut-nordkirche.de
zu finden.
Seminarteilnehmer waren: Gerd Bätge,
Günter Grosse, Karin Stückroth, Christel
Zeidler, Christina Kluck, Dagmar Holtmann, Johannes Reiners, Birgid BätgeHoltvoeth, Claudia Rackwitz-Busse, Elke
Cohrs und Udo Holtmann
Eingeladen zum Agapemahl
und sprach zu ihnen: Dieser Becher mit dem Wein
ist wie ein Versprechen:
Ich gebe mein Blut dafür.
So oft ihr zusammen sitzt,
erinnert euch an dieses Versprechen. Sooft ihr dieses Erinnerungsmahl
miteinander feiert,
sagt ihr etwas über den Sinn
meines Todes,
bis ich wiederkomme.
1. Kor. 11/23–26
Gott, ich will von dir erzählen
in der Gemeinde singen und beten.
Du kümmerst dich um Arme und Kranke,
Gesunde, Alte und Kinder.
Ich glaube an dich und
deshalb erzähle ich deine Geschichte.
Es gibt Menschen,
denen es schlecht geht.
Bitte hilf, dass sie satt werden.
Stütze die Menschen, die dich loben
Christian Dopheide, Vorstand der Ev. Stiftung Hephata und Sprecher des Brüsseler Kreises, in einer schriftlichen Reaktion auf das Unternehmen, Luthertexte in Leichte Sprache zu übersetzen, zitiert nach: Gidion/
Arnold/Martinsen, Leicht gesagt, 7
1
Dagmar und Udo Holtmann, Christina Kluck
45
p ersön l ic h e s
Der Bote 1/2015
Nachruf für Kristina Merz-Sprandel
46
Unterricht
Jeder der geht
belehrt uns ein wenig
über uns selber.
Kostbarster Unterricht
An den Sterbebetten.
Hilde Domin
dungszentrum für Pflegeberufe. Erst zur
Beerdigung ist mir klar geworden, dass
diese Stelle dort für Kristina die erste als
Diakonin war und dass sie nur kurze Zeit
vor mir dort angefangen hatte. Für mich
war sie von Anfang an die Fachfrau für
Pflege, was an Ihrer ersten
Ausbildung als KrankenWenn Kristina nicht geschwester lag.
Während ich mich in die
storben wäre, hätte unsere Beziehung vielleicht
Bereiche von Gerontopnicht die Intensität erlebt,
sychiatrie und die innere
wie sie sich in den letzten
Architektur von ambulanMonaten ihres Lebens entten und stationären Pflegwickelt hat. Ich will damit
einrichtungen einarbeiten
sagen, dass der Tod, dieser
musste, präsentierte sie
unglaublich konsequenmir Fach- und InsiderinKristina Merz-Sprandel
te Beender aller irdischen
nenwissen gepaart mit
geboren am
Beziehungen, gerade in
Gelassenheit und einem
3. Mai 1962
unserer eine zentrale Steldirekten und nicht immer
verstorben am
lung für sich beansprucht
dezenten Humor. Mit ei21. November 2014
hat. Alles, was ich schreibe
nem fröhlichen Pfeifen
und erinnere, sehe ich aus
auf den Lippen lockerte sie
seiner Warte. Alles, was an Tiefe in unse- – manchmal zum Leidwesen der Leitung
rer Beziehung gewachsen ist, hat unmit- – die würdevolle Atmosphäre unserer
telbar mit ihm zu tun. Und wenn er über- Einrichtung auf.
haupt zu etwas gut ist, dann dazu, das
Was uns damals auch einte, war dass
Leben als etwas unendlich Kostbares zu wir beide junge Mütter waren mit der
erkennen, was vielleicht überhaupt nur Mehrfachbelastung durch anscheinend
gelingt, wenn wir ihn als Partner am Tisch ständig kranke Kinder, Schwimmkurse,
und am Bett akzeptieren und ihm nicht Kitaausfälle und dem Bemühen, adrett
gleich die Tür weisen.
und seriös vor Pflegedienstleitungen
Ich habe Kristina 1997 kennengelernt. und Referent/innen zu stehen, während
Wir arbeiteten beide in einem Fortbil- uns noch kurz vor Dienstbeginn ein Kind
Der Bote 1/2015
auf die Jacke gespuckt hatte. Unsere Autos waren vollgestopft mit Kindersitzen
und übersät mit Kekskrümeln. Ich habe
zwei Kinder, Kristina sogar drei, und uns
beiden war klar, dass wir berufstätig sein
wollten – auch wenn der Preis dafür hoch
(und das Einkommen niedrig) war.
Kristina blieb trotz mancher Widersprüche in dieser Einrichtung, während
ich meinen Weg woanders weiterging.
Da auch ich dem Bereich Seniorenarbeit,
Pflege und Demenz die Treue hielt, blieben wir bis zum Schluss im regen beruflichen Austausch. In den letzten Jahren hat
sie mit dem Bereich Palliativ Care etwas
ganz Eigenes geschaffen und aufgebaut
und sich damit in Hamburg viel Anerkennung erworben, worauf sie sehr stolz war.
In diesem Feld konnte sie die Verbindung
von Pflege und Spiritualität ausbauen,
die ihr sehr am Herzen lag.
Niemand hätte damals vermutet, dass
sie selbst so schnell von dieser Arbeit
profitieren würde. Noch in den letzten
Krankenhaustagen erzählte sie mir von
einer jungen Krankenschwester, die ganz
begeistert von ihrer Weiterbildung auf
diesem Gebiet erzählte und Kristina einerseits stolz war, aber auch neidisch auf
ihre Nachfolgerin, die diese Arbeit an ihrer Stelle weiterführte.
Ihr Mann Anselm erzählte mir voller
Dankbarkeit vom ambulanten Dienst,
der zu ihnen nach Hause kam: Endlich begreife ich, worüber Kristina früher ganze
Frühstücke lang schwärmen konnte, was
für einen wertvollen Beitrag sie damit zu
p e rs ö n li c h e s
einem guten Sterben geleistet hat. Ach ja
unsere Männer, beider eher sachlich und
an harten Fakten interessiert, eher spröde, was spirituelle Entwicklungen angeht
– eine weitere Gemeinsamkeit.
Zu unserer beruflichen Verbundenheit
gesellte sich bald eine viel tragfähigere: Nach einigen gemeinsam verlebten
geschwisterlichen
Familienfreizeiten
des Konviktes Hamburg West gehörten
wir zu den ersten Teilnehmerinnen des
mittlerweile traditionellen Wochenendes Stille und Begegnung, damals noch
mit Frank Puckelwald und Volker Krolzik.
Dieses feste Band von spiritueller Praxis
und geistlicher Nähe – noch verstärkt
durch viele gemeinsame Klosterfahrten
zu den Benediktinern nach Meschede –
bildete die eigentliche Basis unserer
Freundschaft, die sich bis zu den letzten
Minuten des Abschieds als tragfähig erwiesen hat. Ich werde nie ihre warme
tiefe Stimme vergessen, mit der sie jeden
unserer Gesänge veredelte, mit dem sie
mir direkt ins Herz sang und mit dem sie
mich zu Tränen rühren konnte. Ich weiß
von einigen Brüdern und Schwestern, die
ihr sehr dankbar sind, dass sie genau im
richtigen Moment „Meine Hoffnung und
meine Freude“ angestimmt und damit
etwas in ihrer Seele zum Schwingen gebracht hat. In den Jahren dieser gemeinsam verlebten Stillezeiten und geistlicher Auseinandersetzung haben wir uns
gegenseitig Geheimnisse anvertraut, die
unserer schwesterliche Solidarität sehr
intensiviert haben.
47
p ersön l i c h e s
48
Ich möchte unsere Beziehung nicht
verklären. Es hat durchaus Situationen
gegeben, die mich ärgerlich stimmten,
und Kristina hatte auch eine verschlossene Seite. Ich habe diese Anteile akzeptiert, auch wenn sie mich irritierten; in
dieser letzten Phase haben sie keine Rolle
mehr gespielt.
Kurz vor ihrer Diagnose waren wir gemeinsam mit einigen Geschwistern zu
Besuch bei unserem benediktinischen
Lieblingsbruder Emmanuel in seiner Cella in Hannover. Kristina war sehr in sich
gekehrt und still; wir tippten auf „überarbeitet“. Heute wissen wir es besser.
Mit der Diagnose bekam unsere Beziehung eine neue Dimension. Es ging
schlicht ums Überleben; es blieb wenig
Energie für anderes. Kristina veränderte sich: Sie wurde sehr viel ernster, hatte
keine Zeit mehr für Geplänkel und Analysiererei. Mir wurde schmerzlich bewusst, wieviel wir oft in Ereignisse und
Schicksalswendungen hineininterpretieren, wenn es nicht ums Ganze geht. Wie
viele fromme Sprüche wir oft brauchen
als Trost, den wir selbst nicht geben können. Kristina selbst hat Fragen wie: Warum ich? Was will mir Gott damit sagen?
Habe ich etwas falsch gemacht? so nicht
gestellt – jedenfalls nicht mir. Solange sie
noch Hoffnung hatte, kam sie gar nicht
auf die Idee.
Als ich sie einmal fragte, ob sie sich
Sorgen um ihre Kinder macht, sagte sie:
Dazu habe ich keine Zeit, ich brauche
alle Zeit und Energie fürs Gesundwer-
Der Bote 1/2015
den – und dieser Kampf gegen einen sehr
bösen Krebs hat wirklich ihre ganze Aufmerksamkeit und Energie verschlungen.
Aggressive Chemotherapien, zwei Knochenmarkstransplantationen, die sie an
den Rand ihrer Kraft brachten.
Gleichzeitig aber solche großen Hoffnungsträger waren: was für ein Glück,
dass zuerst bei ihr gesunde Stammzellen
und dann tatsächlich bei ihrer Schwester
übertragbare Zellen gefunden wurden;
was hat sie für diese Chance an Strapazen auf sich genommen ... wie bitter jedes Mal die Enttäuschung, wenn die der
Kampf „Spender gegen Wirt“ negativ für
die neuen Zellen ausging.
Wie lange saß ich oft vor einer SMS zur
Nacht; angesichts des Ernstes kam mir
jeder fromme Spruch banal vor. Ich konnte meine Unsicherheit und Sprachlosigkeit äußern und sie war gnädig mit mir.
Im Grunde ging es ihr ähnlich; sie selbst
sagte: Jetzt mache ich so eine Welle und
ich weiß gar nicht wie Sterben geht. Und
mir wurde so deutlich, dass Sterben ein
Teil des Lebens ist und wir taffen Frauen
es genauso angehen wie alle Großereignisse unseres Lebens, wie die Konfirmationen der Kinder etwa; was muss organisiert werden, wie kann ich bestimmen,
was passiert, wie bleibe ich Teil des Geschehens? Wie gestalte ich meinen Abschied – auch gegen den Widerstand der
Familie, die sich ja verständlicherweise
überhaupt nicht mit dieser Option des
Lebens beschäftigen will. Ich glaube, da
hatte ich eine wichtige Rolle inne.
Der Bote 1/2015
Bei mir konnte sie mal sagen: Du Ute,
ich glaub, das wird nichts mehr mit mir.
Und ich konnte es hören, ohne ihr zu widersprechen. Ich konnte den bis dahin immer weit von mir gewiesenen Gedanken
an mich heranlassen, dass vielleicht ein
Zeitpunkt in unserem Leben kommt, an
dem wir den Tod als mögliche Alternative
ins Auge fassen, an dem wir das Kämpfen
aufgeben möchten.
Dass dieser Zeitpunkt für Kristina vielleicht nur deswegen kam, weil es ihr so
lange so dreckig ging, war ein schwer
erträglicher Gedanke. Es zeigt mir aber
auch, wie sehr wir am Leben hängen,
was wir auf uns nehmen, bevor wir uns
ins Unvermeidliche fügen. Kristina hat –
gerade in den tristen Krankenhauszeiten
– offen darüber nachgedacht, was das Leben denn noch lebenswert halten könnte, und freute sich dann über das Aufblühen einer kleinen Rosenknospe, bei der
wir jedes Mal auf unseren Minirunden an
der frischen Luft vorbeischauen mussten
und über jeden Sonnenstrahl, den sie auf
ihr Gesicht lenken konnte.
p e rs ö n li c h e s
Mir fiel es sehr schwer, die Hoffnung zu
bewahren, die ich ihr versprochen hatte
und die sie selbst irgendwann nicht mehr
aufbringen konnte. Da war mir die treue
Solidarität der Geschwister in meinem
Rücken eine große Hilfe.
Kristina musste einen Umweg erleben, den ich lange als zynisch empfunden habe: Es gab plötzlich Hoffnung, der
Krebs schien in den Laboranalysen verschwunden, Ärzte sprachen von „Wiederfit-kriegen“ für den Wiedereinstieg in
den Beruf. Wir sprachen plötzlich wieder
über unsere Arbeit, es gab eine Phase der
Hoffnung, die Kraft gegeben hat.
Als es dann doch ganz anders kam,
habe ich sie gefragt wie es für sie ist: Ich
bin erleichtert, hat sie gesagt. Endlich
stimmt die Diagnose mit meinem Gefühl
überein.
Sie wirkte sehr entspannt, konnte für
die letzten Tage ihr Leben wieder in die
Hand nehmen und nach Hause gehen.
Ute Zeißler
49
p ersön l i c h e s
Der Bote 1/2015
Nachruf für Bruno Jung
50
Am 26. Januar 2015 nahmen wir in einem Allendorf stammte, hatte ihm den Weg
Gottesdienst auf dem Öjendorfer Friedhof geebnet, und eine warmherzige EmpfehAbschied von Bruno Jung, der am 10. Janu- lung seines Ortspfarrers begleitete ihn.
Am 21. April 1952 trat er im Rauhen
ar verstorben war. Die tröstenden Worte
Jochen Kleppers im Dritttextes der Herrn- Haus ein und durchlief die damalige Aushuter Losungen des Sterbetages sprechen bildung bis zur abschließenden Diakonenprüfung am 12. März
zu uns und machen den
1957. Ein Jahr zuvor hatte
Grund unserer Verbundener die Wohlfahrtspflegerheit deutlich: „Der du allein
prüfung und bald danach
der Ewge heißt und Anauch die Religionslehrerfang, Ziel und Mitte weißt
und die Kirchliche Verim Fluge unserer Zeiten:
waltungsprüfung bestanbleib du uns gnädig zugeden. Während des letzten
wandt und führe uns an
Ausbildungsjahres war er
deiner Hand, damit wir siim Bodelschwinghheim,
cher schreiten“.
einem Jugendwohn- und
Bruno Jung wurde am
Bruno Jung
Männerdurchgangsheim,
18. Oktober 1933 in Allengeboren am
tätig. Danach bewarb er
dorf im Oberlahnkreis
18. Oktober 1933
sich bei der Hauptkirche
geboren Er war das dritte
verstorben am
St. Michaelis. Hier wurKind seiner Eltern. Nach
10. Januar 2015
de er zum 1. Mai 1957 als
der Volksschule besuchte
Kirchenbuchführer angeer das Gymnasium, das er
nach der Untersekunda aus familiären stellt und begann damit seine berufliche
Gründen verließ. Er fand danach keine Laufbahn in der Kirchenverwaltung, die
geeignete Lehrstelle, wollte aber auch ihn schließlich bis zum Revisor des Kirgern Diakon werden. Nach kurzer Tätig- chenkreises Alt-Hamburg führte.
keit in einem Industriebetrieb bewarb
Am 8. Mai 1959 heirateten Bruno Jung
er sich bei der Diakonenanstalt des Rau- und Irma Hoyler. Eine Tochter wurde ihhen Hauses zur Ausbildung. „Ich bin wil- nen geboren. Irma Jung starb am 7. Delens, meine ganze Kraft in den Dienst zu zember 2011 und ging ihm in die Ewigkeit
stellen“, so lesen wir in seinem Bewer- voraus. Dankbar schreibt er von der über
bungsschreiben. Unser Mitbruder Robert 50-jährigen Ehe, in der „wir ein harmoniKühmichel (1907 – 1985), der ebenfalls aus sches Leben führen konnten“.
Der Bote 1/2015
Am 1. Juli 1961 verließ Bruno Jung die
Hauptkirche St. Michalis und wurde Kirchenrendant der Bugenhagenkirche
West-Barmbek. Im Zuge der strukturellen
Veränderungen im Verwaltungsbereich
bei der Übernahme der Hamburgischen
Kirche in die neu zu bildende Nordelbische Kirche wurde Bruno Jung am 1. Dezember 1973 Leiter der neuen Kirchlichen
Verwaltungsstelle Barmbek. Am 1. April
1983 übernahm er schließlich die Stelle
eines Revisors in der Kirchenkreisverwaltung des Kirchenkreises Alt Hamburg.
Am 1. Oktober 1998 wurde Bruno Jung
in den Ruhestand verabschiedet. Die Zeit
nach seiner hauptberuflichen Tätigkeit
war angefüllt mit ehrenamtlicher Arbeit
in der Hamburger Kirche und darüber hinaus.
Auch innerhalb unserer Gemeinschaft
hat er sich in den letzten Jahren als Prüfer
der Jahresabschlüsse betätigt. Die Konviktmeisterin hat ihm in ihrer Ansprache
p e rs ö n li c h e s
am Sarge einen lobenden und danksagenden Nachruf gesprochen.
Bruno Jung hat nie laute Worte gemacht. Er war einer der Stillen im Lande.
Die ihm näher verbunden waren, kannten seine Gründlichkeit und Nachhaltigkeit. Wenn man seine schriftlichen Äußerungen liest, kann man erkennen, wie
tiefgreifend er sich mit seinen Aufgaben
beschäftigte und wie wohlbegründet er
die Ergebnisse vorstellen konnte. Was
sein Konfirmator ihm vor über 60 Jahren
als die besonderen persönlichen Kennzeichen in seine Empfehlung schrieb, hat
sich in seinem Leben bewahrheitet: „Er
hat ein ruhiges, bescheidenes Wesen und
eine gediegene Einstellung zum Leben,
den guten Willen, das einmal Begonnene
auch zu Ende zu bringen, ist gewissenhaft und hat Freude an geistiger Arbeit.“
Wir nehmen Abschied von einem bewährten Bruder.
Gert Müssig
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p ersön l i c h e s
Der Bote 1/2015
Nachruf für Alberdine „Dini“ Geers
52
hatten, zum Essen an den Tisch gebeten.
Ein Vorbild im Glauben!
„Ihr Lieben, da ist eine wunderbare, herz- Diese einladende und jeden ohne Vorbeliche Grande Dame von uns gegangen. halte schätzende, immer wieder Chancen
Für mich war sie ein Vorbild. Sie wusste gebende Haltung hat sich Dini bis zum
von ihrer Beziehung zu Gott authentisch Schluss bewahrt.
Als ihr Geert am 25. 5. 1990 verstarb,
zu reden und war trotz Bescheidenheit
wusste sie nicht, ob die
eine vornehme und immer
Gemeinschaft des Rauhen
korrekte Frau.“ Das waren
Hauses für sie noch ein
die Worte, die ich spontan
Ort war. Oft erzählte Dini
an meine Konviktältesten
davon, wie sie sich das ersschrieb, als ich vom Tod Dite Mal allein auf den Weg
nis erfuhr.
zu einem Konvikttreffen
Dini Geers war bereits
machte und auf halbem
im Konvikt Schleswig
Weg den Mut verlor und
Holstein-Süd/Altona als
schon wieder nach Hause
aufgenommene Schwesumkehren wollte. Doch da
ter, als ich in die VorbereiAlberdine Geers
begegnete ihr Schwester
tungszeit eintrat. Sie war
geboren am
Dreessen, die sie mit zum
alle Jahre eine feste Grö1. Juli 1920
Treffen nahm.
ße des Konviktes, und ich
verstorben am
Immer mehr wurde sie
kann mich kaum an ein
2. März 2015
ihr Platz, die Brüder- und
Treffen ohne sie erinnern.
Schwesternschaft blieb
Sie hat maßgeblich daran
mitgewirkt, dass das Konviktleben über fester Bestandteil in Dinis Leben. Als
alle Generationen offen und füreinander emanzipierte Frau war es ihr wichtig,
„nun so ganz zur Brüder- und Schwesinteressiert war.
Ihrem Mann, Geert Geers, der seit Ap- ternschaft zu gehören“, und sie wurde im
ril 1952 Rauhhäusler Diakon war, war sie Mai 1994 in die Gemeinschaft aufgenomstets eine liebevolle Diakonenfrau. Seine men.
Tätigkeit als Seelsorger im Gefängnis und
Unsere Schwester Dini Geers ist bis
Ansprechpartner für die jungen Straf- zum Schluss, mit ihren 95 Lebensjahren,
fälligen prägten auch ihre Ehe und ihr aktiv und engagiert gewesen. Sie verfolgLeben. So wurden die jungen Menschen te die Weltgeschichte und lebte allein in
wie eigene Kinder, die die beiden nicht ihrer Wohnung in Blankenese.
p e rs ö n li c h e s
Der Bote 1/2015
Auch als die Kräfte weniger wurden,
hat sie sich mit ihrem Rollator auf den
Weg gemacht und gelernt, auch einmal
Hilfe von anderen anzunehmen.
Viele Jahre war Dini als Kirchenhüterin
in der Hauptkirche St. Petri ehrenamtlich
tätig. Sie wusste mit ihrer einfühlsamen
und doch direkten Art auf Menschen in
Not zuzugehen und Begegnungen und
Gespräche in Krisen auf Augenhöhe zu
gestalten. So hat sie vielen Mut und Hoffnung gegeben.
Ich habe noch nie einen Menschen
getroffen, der wie Schwester Geers von
ihrem Gott authentisch und wahrhaftig
sprechen konnte. Sie war gottesfürchtig,
demütig, dankbar und durch ihren Glauben gestärkt. Sie war eine starke Frau, die
eine Meinung hatte und zugleich offen
für andere Sichtweisen war.
In den letzten Begegnungen mit ihr erzählte sie mir, dass sie jeden Tag mit einem Gebet beendet, und dass sie dieses
Gebet mit dem Satz „Nicht wie ich will,
sondern wie Du willst!“ beschließt.
Sie wusste sich in Gotteshänden gehalten und geborgen!
Doris Hamer
Nachruf für Werner Huppe
Werner Huppe lebte 1961 als Jugendlicher in der Lehrlingsfamilie des Rauhen
Hauses. Die positive Beeinflussung durch
die dort tätigen Brüder – ganz besonders
durch den Familienleiter Gert Schmidt
– waren nach seinen Worten „sein ganz
großes Glück“. Hier reifte sein Entschluss,
selbst Bruder zu werden, in die Ausbildung des Rauhen Hauses einzutreten
und seinen geliebten Beruf als Maschinenschlosser aufzugeben.
Er war in der damals größten Ausbildungsfirma Hamburgs, „Heidenreich und
Harbeck“ in Barmbek, wegen seiner überdurchschnittlichen handwerklich-technischen Begabung ein „Vorzeigelehrling“,
für den die Firma den Aufenthalt im Rauhen Haus bezahlte. Durch diese positiven
Erfahrungen motiviert, trat er sein Vorpraktikum im Erziehungsdienst auf dem
Kattenhof im Haus Brabant an, wo wir
uns kennenlernten.
Im Gepäck hatte er ein großes Tonbandgerät und versorgte sehr bald alle
Räume mit Lautsprechern, und fortan ertönte zur Freude der Jungen und Brüder
stets aktuelle Musik, wozu er immer gute
Hintergrundinformation geben konnte. Das Musikhören, sein Musikwissen
und sein Sammeln von Musik auf immer
neuester Tontechnik, aber auch das Weiterverschenken, gehörte zu seiner Begabung und machten ihm Freude bis zu seinem Lebensende.
Der erzieherische Umgang mit den
Jungen und sein hohes Maß an Empathie
53
p ersön l i c h e s
54
Der Bote 1/2015
Die beruflichen Stationen hat die Konund Einfühlungsvermögen sowie das
immer größer werdende Fachwissen lie- viktmeisterin in ihrem Brief vom 31. 3.
ßen ihn einen geachteten und beliebten 2015 stichwortartig alle benannt. Wo
Erziehungsbruder sein. Ein emotionales er in der Welt als Sozialarbeiter, DiaWohlfühlklima im Familienalltag war kon und Pastor auch tätig war, so war er
ständig bestrebt, sein Interesse an den
ihm immer wichtig.
Erst viele Jahre später erfuhr ich von er- unterschiedlichen Bibeln, theologischer
littenen Geschehnissen in seinem Eltern- Fachliteratur und Agenden in seine zum
haus, die ihn sein ganzes Leben unaufge- Pietismus neigende Grundhaltung einzubeziehen.
arbeitet begleitet haben. Er
Sein Theologiestudium
hat das Zuhausesein in der
und seine Ordination als
Lehrlingsfamilie als BefreiPastor ermöglichten ihm,
ung und Neuanfang empin seinen Gemeinden in
funden. Dieses bestimmte
Südafrika sehr engagiert
auch seine pädagogische
als Pastor und Seelsorger
Haltung im Umgang mit
tätig zu sein. Er berichteden anvertrauten Jungen.
te aber auch von reichen
Seinen Schwerpunkt hatFarmern, die sich ihren
te er deshalb eher in der
Pastor „hielten“, was zu
Begleitung der Jungen in
Werner Huppe
Problemen in einer Geden Lernstunden, bei den
geboren am
meinde und zu einem
Hausaufgaben und im Ge31. Dezember 1942
Stellungswechsel führte.
spräch als auf dem Fußverstorben am
Bis zu seinem vorzeitigen,
ballplatz.
26. Januar 2015
krankheitsbedingten RuWerner Huppe war mit
hestand war er sehr gern
meiner Frau in einem Ausbildungsjahrgang, und beide waren bis der angesehene „Reverend Charly Hupzu seinem Lebensende in Freundschaft pe“.
Er konnte aber auch eng sein: Die Einverbunden. Im Verlauf der Ausbildung
trat er zwischenzeitlich in die Christus- setzungsworte beim Abendmahl im Kreis
bruderschaft Selbitz ein, wo er auf ein unserer Rauhhaus-Gemeinschaft waren
tieferes religiöses Verständnis hoffte. Von für ihn nie ausreichend und ließen ihn
dort kam er ernüchtert zurück ins Rauhe öfter auf die Teilnahme verzichten. Auch
Haus, auch, weil ihm die Regel der Armut Weihnachten war für ihn nur das besonbesonders schwer gefallen war. Werner dere Zeichen des Anfangs. Der MittelHuppe ohne Technik (und später ohne punkt seines Christseins war für ihn stets
das Ostergeschehen und die Auferste„Conrad“-Katalog) war nicht vorstellbar.
Der Bote 1/2015
hung unseres Heilands. Werner Huppe
war ein Bruder, der in seinem Innersten
dem Rauhen Haus und seiner Heimatstadt Hamburg mit der Elbe und dem Hafen ganz eng verbunden war und nur mit
der Prinz-Heinrich-Mütze nach draußen
ging. Wegen der Verbindung zu Hamburg
und wegen seines Gesundheitszustandes zog es ihn in die Heimat zurück, und
er bezog im Schröderstift im Kiwittsmoor
eine Miniwohnung, die er randvoll mit
Technik und Hausrat anfüllte.
Der Aufenthalt im Schröderstift war
für ihn wie das Gelände im Rauhen
Haus: eine Insel des Friedens. Als er aus
Südafrika zurückkehrte, genoss er die
Möglichkeit, im Dunkeln nach draußen
gehen zu können, ohne Angst haben zu
müssen.
Vor seiner Rückkehr nach Hamburg
hatte er sich auf einem Friedhof bei Kapstadt, der nach dem Vorbild des Ohlsdorfer Friedhofs konzipiert war, einen Urnen-
p e rs ö n li c h e s
platz gekauft. Dort, in seinem „kleinen
Haus“, wie er es immer nannte, wird er
nun in der nachösterlichen Zeit im Kreis
seiner dortigen Freunde und Gemeindemitglieder seinen letzten Ruheplatz
finden und Osterlieder gesungen bekommen, wie wir das hier im Schröderstift
bei seiner ersten Trauerfeier mit „Christ
ist erstanden“ auch getan haben. Es bestand hier bei seinen Mitbewohnerinnen
und -bewohnern sowie bei Brüdern und
Schwestern und für unsere Familie, der
er sehr verbunden war, doch der Wunsch
nach einer Trauerfeier, um uns verabschieden zu können.
Dadurch habe ich seinem Wunsch, still
und ungenannt aus der Welt zu scheiden,
nicht entsprochen. Er wollte eigentlich
keinen Nachruf und keine Trauerfeier.
Er kann nun schauen, was er als Pastor
verkündigt und an das er selbst unerschütterlich und fest geglaubt hat.
Rolf Siebrecht
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p ersön l i c h e s
Der Bote 1/2015
Nachruf für Günter Semmler
56
Am Freitag, dem 13. Februar 2015, habe ich ben und fühlte sich sehr wohl. Als Halbmit Günter fernmündlich gesprochen. wüchsigen holte die Mutter ihn nach
Wir hatten vereinbart, am Montag, dem Kirchheim am Neckar zu sich. Die Mutter
16. Februar, an der Trauerfeier von Bru- hatte einen Mann geheiratet und zwei
der Werner Huppe in der Schröderstifts- Kinder geboren. Günter musste im Haus
kapelle in Hamburg teilzunehmen. Es und Hof helfen und sich um seine Halbkam alles ganz anders.
geschwister kümmern.
Am 16. Februar überEr besuchte erfolgreich
brachte mir Bruder Wolfdie Volksschule, war in der
gang Giering die TodesJungschar und ging gern
nachricht. Sie traf mich
zum Konfirmandenunterwie ein Blitz.
richt. Nach der KonfirmaGünter Semmler ertion 1954 war er aktiv in
blickte am 19. März 1939
der jungen Gemeinde. Er
in Insterburg, Kreis Guabsolvierte eine Lehre als
binnen in Ostpreußen,
Oberlederzuschneider bei
das Licht der Welt. Seine
der Schuhherstellerfirma
Günter Semmler
Mutter kümmerte sich
Salamander in Kornwestgeboren am
nach ihren Möglichkeiten
heim. In der jungen Ge19. März 1942
mit Liebe um das Wohl des
meinde nahm er vor allen
verstorben am
Jungen. Der Vater war als
Dingen am Wochenende
14. Februar 2015
Soldat eingezogen und im
an Veranstaltungen teil.
Krieg gefallen. So wuchs
So spielte er Flügelhorn im
der Junge alleine ohne weitere Geschwis- Posaunenchor.
ter in Ostpreußen auf. Durch die KriegsGerhard und Richard Zimmer waren
wirren kamen Mutter und Kind 1945 mit seine Freunde. 1959 bewarb er sich mit
dem Treck erst nach Nord-, dann nach Richard bei dem Vorsteher des Rauhen
Süddeutschland.
Hauses, Propst Prehn, als DiakonenschüDa die Mutter den Lebensunterhalt ler. Am 1. April 1960 trat er als Diakonenverdienen musste, kam Günter zu Pflege- schüler ein und wurde Küchenbruder. Als
eltern, einem Dorfschullehrer in Mainau Praktikant kam er nach Halstenbek ins
am Bodensee. Hier erlebte der aufge- Lehrlingsheim zu Bruder Witte. Seit Mai
weckte Junge in frommer katholischer 1961 begann die weitere Ausbildung zum
Umgebung ein glückliches Familienle- Diakon, Sozialarbeiter und Religionsleh-
Der Bote 1/2015
rer. Nach Abschluss der Ausbildung 1966
wurde er Gemeindediakon nach Epiphanien und von 1970 bis 1973 in der Dreifaltigkeitskirche in Hamm.
Dann kam er zum Hamburger Staat.
In der Kaiser-Wilhelm-Straße 85, Sozialtherapeutischer Dienst der Sozialbehörde Hamburg, saßen wir uns jahrelang
in einem Zimmer gegenüber und haben
unsere Aufgaben wahrgenommen, den
Menschen, die uns anvertraut waren, in
jeglicher Form zu helfen und ihre Ange-
p e rs ö n li c h e s
legenheiten zu regeln. Sehr oft haben
wir im Dialog Lösungen gesucht und annehmbare Ergebnisse gefunden.
Günter war ein guter Zuhörer und ein
ausgezeichneter Analytiker. Im Kollegenkreis war er eine moralische Instanz.
Im gegenseitigen Vertrauen haben
wir uns vertreten und an einem Strang
gezogen, so dass die uns anvertrauten
Menschen kontinuierliche Hilfe erfahren
haben.
Henning Balzer
57
Te r mi n e
Der Bote 1/2015
Te r m i n e
Der Bote 1/2015
Termine
62
Juli
O ktob e r
1. ��� Seniorentreff
Vortrag von Bruder Müssig
1.–5.�� DIAKONIA, Bergen, Norwegen
3. ��� Sommerfest
Konvikt Hamburg Ost
4. ��� Konvikttreffen SchleswigHolstein Ost/Bergedorf
6.–2. 8. Urlaub Konviktmeisterin
20.��� Gottesdienst
Flussschifferkirche zu Hamburg
2.–4.� Konviktwochenende
Bremen/Oldenburg/Ostfriesland
3. ��� Konvikttreffen Hamburg Süd
7. ��� Konvikttreffen Hamburg West
9.–11.� Konviktwochenende
Süddeutschland
12. ��� Konvikttreffen Hamburg Ost
14.��� Seniorentreff
16.–18. Herbsttreffen
Konvikt Ostdeutschland
18. ��� Gottesdienst
Flussschifferkirche zu Hamburg
30.–1.� Konviktwochenende
Niedersachsen
Augu st
15. ��� Jubiläumsfahrt Seniorentreff
16.��� Gottesdienst
Flussschifferkirche zu Hamburg
26.��� Konvikttreffen SchleswigHolstein Ost/Bergedorf
29.��� Konvikttreffen Hamburg West
Septemb er
2. ��� Konvikttreffen Hamburg Nord
4.–6.� Klosterfahrt
Konvikt Hamburg Süd
6. ��� Einsegnungsgottesdienst
Dreifaltigkeit, anschl. festliches
Mittagessen im Wichern-Saal
20.��� Gottesdienst
Flussschifferkirche zu Hamburg
17.–11.10.Urlaub Diakonenbüro
24.–27. Klosterfahrt
Konvikt Hamburg West
29.��� Semestereröffnungsgottesdienst und kleines Abendbrot
N ove m b e r
6.–8.� Konviktwochenende
Rheinland/Westfalen
10.–12. VEDD Hauptversammlung
15. ��� Gottesdienst
Flussschifferkirche zu Hamburg
25.��� Konvikttreffen Hamburg Nord
28.��� Advents-Konvikttreffen
Bremen/Oldenburg/Ostfriesland
28.��� Adventstreffen Konvikt Schleswig-Holstein Ost/Bergedorf
Deze m b e r
1. ��� Offenes Kekskonvikt
Sieveking-Saal
2. ��� Adventstreffen
Konvikt Hamburg Ost
9. ��� Rauhäusler Adventskaffee
Wichern-Saal
9. ��� Adventstreffen
Konvikt Hamburg West
10.��� Adventstreffen
Konvikt Hamburg Süd
20.��� Gottesdienst
Flussschifferkirche zu Hamburg
21.–3.1. Urlaub Diakonenbüro
Feb r uar 20 1 6
5.–7.�� Einkehrtage
J u n i 20 1 6
17.–19. VEDD Diakonen- und
Diakoninnentag Eisenach
Septemb er 20 1 6
9.–11.� 44. Brüder- und Schwesterntag
11. ��� Einsegnungsgottesdienst
Dreifaltigkeit, anschl. festliches
Mittagessen im Wichern-Saal
Dezemb er 20 1 6
7. ��� Rauhhäusler Adventskaffee
63
Emp f eh lu n gen
Der Bote 1/2015
Göttliches ins Leben lassen
64
Irgendjemand hat mal das Apercu formuliert, Diakonie sei kirchliche Sozialarbeit mit christlicher Vergangenheit.
Und in der Tat ist seit 15 Jahren der Aspekt des effektiven Managements im
Nonprofit-Bereich für die Führung der
evangelischen Diakonieunternehmen
und Verbände, aber auch für Aus- und
Fortbildung an die erste Stelle gerückt.
Da ist es gut, wenn ein Diakoniewissenschaftler der „alten Schule“, sprich
der befreiungstheologisch-solidarisch
orientierten 68er-Generation, in einem
Sammelband seine ihm wichtigen Beiträge zu den theologischen, anthropologischen und praktischen Grundfragen
von Sozialarbeit, Kirche und Diakonie
zusammenstellt und so die kirchlich-diakonische Öffentlichkeit an ihre eigenen
Ursprünge erinnert.
Ulfrid Kleinert muss ich nicht vorstellen, er war lange Jahre Professor an der
Evangelischen Hochschule des Rauhen
Hauses in Hamburg und hat mit seiner
entschiedenen Art das evangelische Profil dieser Hochschule und viele Soziarbeiter und Diakone geprägt.
Er ging dann bekanntlich 1991 nach
Dresden (seine Heimatstadt), wo er der
Gründungsrektor der Evangelischen
Hochschule für Soziale Arbeit (nach dem
Modell der hiesigen) wurde und dort bis
zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 lehrte. Kleinert hat seine Diakoniewissen-
schaft aber nicht nur im Elfenbeinturm
der Hochschule betrieben, sondern immer wieder auch praktisch umgesetzt –
als Seelsorger in der freien Straffälligenhilfe, als Berater von Kirchengemeinden,
aber auch als Aktiver in Bürgerinitiativen
und als Demonstrant in den Auseinandersetzungen um das Atomkraftwerk
Brokdorf. Da wurden wir zusammen bei
gewaltfreien Blockaden der Einfahrt des
AKW „We shall overcome“ singend nassgespritzt und wegen Nötigung angeklagt.
So wird der Sammelband „Göttliches
ins Leben lassen“ auch das Zeugnis eines
engagierten Christen und Zeitgenossen
in den Jahren 1970 bis 2010.
Den auf den ersten Blick merkwürdigen
Titel seines Buchs „Göttliches ins Leben
lassen“ begründet er feinsinnig damit,
dass ihm das neutrale Subjekt „Göttliches“ in der Tradition der Gotteserfahrung Elias‘ am Horeb – Gott erscheint „im
Hauch verschwebenden Schweigens“
(Martin Buber) – am ehesten den Transzendenzbezug auszudrücken schien, weil
in ihm nichts „von einer missverständlichen Überwältigung mitschwingt“.
So scheint mir der Titel auch die leise
Selbstkorrektur eines geschätzten Kollegen und Freundes zu sein, der in seinen
Beiträgen durchaus den in seiner Sicht
richtigen Weg für Kirche, Diakonie und
ihre Mitarbeiter anzugeben weiß.
Der Bote 1/2015
„Im Armen begegnet Gott“ – das ist
das Motto der Beiträge zu den „theologischen Grundlagen“ der Diakonie. Hier
steht auch ein origineller Beitrag zum
Ursprung unserer Kultur, „Von Adam und
Eva, Prometheus und dem Nibelungen
Siegfried“, gehalten zur Eröffnung des
Radebeuler Wandertheaterfestivals „Mythen und Märchen“. In den Beiträgen zu
„Anthropologie und Ethik“ geht es vor
allem um Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als den beiden Säulen christlicher
Ethik und diakonischen Handelns.
Zwei materialreiche Aufsätze zum Begriff Menschenwürde im Grundgesetz
und zu Schuld und Vergebung in der biblischen Tradition in ihrer Bedeutung für
das heutige Strafrecht zeigen Kleinerts
Fähigkeit, die christliche Tradition mit aktuellen Fragen zu verbinden.
Trockener und lehrhafter, eben Stoff
für Studenten (wenn sie doch nur mehr
lesen würden!), sind die Beiträge zu dem
Bereich „Soziale Arbeit, Diakonie und Kirche“, darunter der anspruchsvolle Artikel
„Soziale Arbeit im Bereich der Justiz“.
Deutlich wird, wie viel hier noch zu tun
ist, damit der Anspruch „gelingendes Leben“ gerade bei den straffällig gewordenen Menschen zu befördern, besser eingelöst wird.
Leider nur ein Beweis für die zeitweilige soziale Vergessenheit der Kirche ist
der Beitrag über den „Grundauftrag von
Gemeindediakonen“, den Kleinert besonders für die damalige Nordelbische Kirche bereits 1991 gemeinwesenorientiert
Emp f e h lu n g e n
Ulfrid Kleinert
Göttliches ins
Leben lassen
Diekoniewissenschaftliche
Beiträge, Reihe
Diakonik, Band 11
352 Seiten
29,90 EUR
ISBN 978-3-64312694-8
auslegte, was aber den fortschreitenden
Abbau von Diakonenstellen nicht verhinderte. Inzwischen ist in Diakonie und
Kirche die Gemeinwesendiakonie (u. a.
angeregt durch Impulse Kleinerts und
des Rezensenten) als um Sozialraumorientierung und Selbsthilfepotenziale angelegte Tätigkeit weithin akzeptiert.
Der anregende Sammelband schließt
mit drei Skizzen zu Paulus‘ Areopagrede,
der heiligen Elisabeth von Thüringen und
Nikolaus von Myra und zeigt so den weiten Horizont, den Kleinert mit seinem
Schreiben und Handeln umfasst. „Göttliches, ins Leben gelassen, lockt zum Exodus, heraus aus dem Vertrauten und auch
Festgefahrenen“, schreibt der Autor.
Das macht Kleinert auch ganz real als
Reisender auf den Sinai (dazu gibt es ein
schönes Buch) und in andere Gegenden
des Orients, als aktiver Unruheständler
in Radebeul (wo er jetzt wohnt) und als
Großvater bei den Enkeln in Hamburg
und Augsburg. Möge es noch lange so
bleiben! Hans-Jürgen Benedict
65
Emp f eh lu n gen
Präsentieren
und faszinieren
66
Was kann ich tun, damit meine Zuhörer
mir gern zuhören? Wie schaffe ich es,
meine Botschaften anschaulich zu verpacken? Welche Prinzipien von Präsentations-Profis kann ich mir aneignen?
Wann immer wir vor eine Gruppe etwas vortragen, eine Veranstaltung moderieren, eine Andacht halten oder ein
Grußwort sprechen – wir werben immer
um die Gunst und die Aufmerksamkeit
unserer Zuhörer.
In diesem Seminar geht es um Grundkenntnisse von Rhetorik, Dramaturgie
und Inszenierung, die helfen, unsere
Der Bote 1/2015
Tag es -S e m i n a r
Samstag, 19. September 2015, 10–18 Uhr
Anmeldungen bis zum 15. September im
Diakonenbüro, Tel. 040/655 91-170,
[email protected]
Ein Unkostenbeitrag wird erhoben.
Anliegen und Informationen besser zu
transportieren.
Christian Fremy (Diakon, Moderator
und Trainer) hat 2013 und 2014 bereits
ein Seminar-Modul zum Thema „Körpersprache“ bei uns durchgeführt. Dieses
zweite Modul hat er als Ergänzung konzipiert, für alle, die sich weiter verbessern
wollen. Die Teilnahme ist aber auch ohne
Vorkenntnis möglich, da die Inhalte nicht
aufeinander aufbauen.
Was Steine erzählen
„Perlen vor die Säue werfen“ und der
sprichwörtliche „Stein des Anstoßes“
sind nur zwei Beispiele für die leicht fassbare Bildsprache der Bibel, die eben auch
dem Stein „ein Denkmal setzt“.
Gott als
beständiger
Fels; Edelsteine als
Symbol der
Reinheit
Gottes;
Herzen
hart wie
Diamant …
Das reich bebilderte Geschenkbuch
geht neben Redewendungen und Symbolen auch den ganz „handfesten“ Geschichten nach, in denen Steine eine Rolle spielen und uns auch heute etwas erzählen.
Martin Hüls: Was Steine erzählen
Gedenk-, Stolper- und Bausteine, aufgelesen
in der Bibel. 48 S., 16,5 x 17 cm, gebunden, 4,99
Euro, ISBN 978-3-7600-1921-5. Passend dazu:
sechs Steine im Organza-Beutel, 2,49 Euro
Zu beziehen über die Reise- und Versandbuchhandlung des Rauhen Hauses Hamburg GmbH
Tel. 040/53 53 37-0, Fax 040/53 53 37-21
www.pfarrer-shopping.de
im p r essumR e dakti on ssc h lu ss B ote 2/ 1 5 : 1 5. OKTOB E R
Der Bote – Berichte aus der Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses – erscheint zweimal
im Jahr. Herausgegeben von Pastor Dr. Friedemann
Green und Diakonin Claudia Rackwitz-Busse
Redaktion: Johanna Kutzke, Tilman Lutz,
Uwe Mann van Velzen, Claudia Rackwitz-Busse
(verantwortlich), Beate Steitz-Röckener
Kontakt: Beim Rauhen Hause 21, 22111 Hamburg
Tel. 040/655 91-170, Fax 040/655 91-372
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Spendenbescheinigungen auf Wunsch
Zukunft
Mag sein, dass der jüngste Tag morgen anbricht,
dann wollen wir gern die Arbeit
für eine bessere Zukunft
aus der Hand legen,
vorher aber nicht.
Der Bote
Nr. 1 | Juli 2015 | 104. Jahrgang
Berichte aus der Brüder- und Schwesternschaft
des Rauhen Hauses
Dietrich Bonhoeffer
Schönheit der Gemeinschaft
40 Jahre Seniorentreff Seite 24
Moin Moin – Besuch aus Rummelsberg Seite 40