Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Urs Kindhäuser Skript zur Vorlesung Strafrecht AT § 18: Pflichtenkollision Fall 1: In einem Einfamilienhaus bricht plötzlich ein Brand aus. Der Vater V kann nur eines seiner beiden im oberen Stock befindlichen Kinder vor dem Erstickungstod retten. Er rettet Kind A. Strafbarkeit wegen Totschlags durch Unterlassen von Kind B? §§ 212, 13 StGB 1. oTb: Erfolg, (unterlassene) Handlung, Kausalität (+) Garantenstellung (+) 2. sTb: Vorsatz (+) 3. RW: § 34 (–) Pflichtenkollision? Eine Pflichtenkollision ist gegeben, wenn eine Person Adressat wenigstens zweier Pflichten ist, von denen sie aber nur eine auf Kosten der anderen erfüllen kann (Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“). Gewöhnlich handelt es sich um konkurrierende Handlungspflichten; ein Notarzt kann z.B. bei einem Unglücksfall nicht allen Opfern gleichzeitig die erforderliche Hilfe leisten. Es können in seltenen Ausnahmesituationen aber auch Unterlassungspflichten aus Verboten kollidieren (vgl. Hruschka Larenz-FS 257 [261]). Nicht als Fall der rechtfertigenden Pflichtenkollision i.e.S. wird es angesehen, wenn eine Handlungspflicht nur durch Verletzung einer Unterlassungspflicht (= Ausführen einer an sich verbotenen Handlung) erfüllt werden kann; hier soll unmittelbar nach den Regeln des rechtfertigenden Notstands entschieden werden, ob die an sich verbotene Handlung vorgenommen werden darf (vgl. Baumann/Weber/Mitsch § 17/133; Hruschka JZ 1984, 241 f.; Jakobs 15/8 ff.; Lenckner GA 1985, 295 [305]; anders Otto § 8/206). Exemplarisch: Vater V reißt den widerspenstigen A aus seinem Pkw, um mit dem Wagen sein schwerverletztes Kind in das nächstgelegene Krankenhaus transportieren zu könne; einerseits Verstoß gegen § 249 StGB, andererseits Erfüllung der Pflicht aus §§ 212, 13 StGB. Kein Fall der Pflichtenkollision i.e.S. ist es auch, wenn eine der kollidierenden Pflichten aus Gründen der Subsidiarität hinter die andere zurücktritt, da hier von vornherein nur eine Pflicht Geltung beansprucht. Lösung der Pflichtenkollision: Ist eine Pflicht höherwertiger als die andere, so hat der Täter jene zu erfüllen, während die Verletzung der anderen gerechtfertigt ist. Bei gleichwertigen Pflichten ist dem Normadressaten die Auswahl der Pflicht überlassen, die er erfüllen will; kommt er dieser Pflicht nach, ist er hinsichtlich der anderen gerechtfertigt (vgl. Hruschka Dreher-FS 189 [192 ff.]; Schönke/Schröder-Lenckner/Sternberg-Lieben Vor § 32 Rn. 73 ff.; LK-Rönnau Vor § 32 Rn. 115 f; Roxin AT I § 16/118 ff.). Gewichtung der konkurrierenden Pflichten nach den Grundsätzen des rechtfertigenden Notstands. Bei der Abwägung sind der Wert der gefährdeten Güter und die jeweilige Schadenswahrscheinlichkeit zu berücksichtigen. Ferner soll, soweit es um Pflichten zugunsten gleichwertiger Güter geht, die Garantenpflicht der allgemeinen Hilfspflicht vorgehen (NK-Paeffgen Vor § 32 Rn. 176; Roxin AT I § 16/123). Allerdings gebührt bei gleichartigen Pflichten (z.B. konkurrierenden Garantenpflichten) in Abweichung von § 34 StGB nicht nur der wesentlich überwiegenden, sondern schon der geringfügig höheren Pflicht der Vorrang (Jakobs 15/6 f.). 1 Ergebnis: RW (–) *** Fall 2: Wie Fall 1, aber Vater V rettet keines der Kinder. Lösung str.: Strafbarkeit nur wegen Verletzung einer der zu erfüllenden Pflichten (NK-Paeffgen Vor § 32 Rn. 177 m.w.N.; LK-Rönnau Vor § 32 Rn. 126). Argument: Ein strafrechtlich missbilligtes Fehlverhalten kann nur hinsichtlich einer der Pflichten angenommen werden, da nur insoweit eine Vermeidbarkeit besteht. Strafbarkeit wegen Verletzung aller Pflichten, da V hinsichtlich keiner der Pflichten gerechtfertigt ist (LK-Hirsch, 11. Auflage, Vor § 32 Rn. 81). 2
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