Clara Harder, Pseudoisidor und das Papsttum

Francia­Recensio 2015/4
Mittelalter – Moyen Âge (500–1500)
Clara Harder, Pseudoisidor und das Papsttum. Funktion und Bedeutung des apostolischen Stuhls in den pseudoisidorischen Fälschungen, Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2014, 290 S. (Papsttum im mittelalterlichen Europa, 2), ISBN 978­
3­412­22338­0, EUR 39,90.
rezensiert von/compte rendu rédigé par
Clemens Gantner, Wien
Das vorliegende Buch von Clara Harder basiert auf ihrer im Herbst 2012 an der Universität zu Köln vorgelegten Dissertation. Ebenda hat sie auch aktuell eine Postdoc­Stelle inne. Das Buch ist dem Andenken des viel zu früh verstorbenen Klaus Zechiel­Eckes gewidmet, der die Dissertation zu Beginn betreut hat. Es handelt sich hier um ein sehr wichtiges Buch für die Forschung zum pseudoisidorischen Fälschungskomplex, dem sich Harder in seiner Gesamtheit widmet. Dabei konzentriert sie sich auf die Frage, inwiefern der päpstliche Primatsanspruch in den gefälschten Texten eine Rolle spielt, wie er ausgestaltet wurde und welchen Zweck die Fälscher dabei verfolgt haben könnten. Die gefälschten (pseudopäpstlichen) Dekretalen selbst, also die namensgebende Sammlung des sogenannten Isidor Mercator, stehen zwar deutlich im Zentrum der Untersuchung (Kapitel 2, S. 95–
143), doch auch die Capitula Angilrami (S. 145–152), die Kapitularien des Benedictus Levita (S. 153–
169) und die verfälschten Exzerpte aus den Akten des Konzils von Chalkedon (S. 171–180) wurden genau analysiert. Die Forschungsgeschichte zu diesen vier Texten wird außerdem in Kapitel 1.2 präzise nachvollzogen. Harder versucht zudem in Kapitel 6 S. 181–212), das eine Art Appendix­
Charakter hat, auch die unter dem Namen Gregors IV. verfasste Dekretale JE † 2579 dem pseudoisidorischen Komplex zuzuweisen und hat dafür auch durchaus überzeugende Gründe vorzubringen, sowohl was die Überlieferung des Stücks als auch inhaltliche Kriterien betrifft. Allerdings weist sie selbst darauf hin, dass die Dekretale in der jüngeren Forschung des Öfteren auch für echt gehalten wurde (S. 211f.). Fünf praktische Tabellen zu allen hier genannten Themengebieten gibt es dann noch im Anhang von S. 244 bis 283.
In Kapitel 1.3 widmet sich Harder der Frage, wer denn nun hinter dem Fälschungskomplex stand. Sie schließt sich der Ansicht von Zechiel­Eckes an, der Radbert von Corbie (Paschasius Radbertus) als »Mastermind« hinter dem Projekt identifiziert hat1. Tatsächlich kann sie in ihrem Fazit (Kapitel 7, S. 213–226) sogar noch weitere Argumente vorbringen, die diese Theorie noch wahrscheinlicher erscheinen lassen (S. 216f.). In ihrem Fazit schlägt sie zudem einige neue Hypothesen zur Beispielsweise: Klaus Zechiel­Eckes, Ein Blick in Pseudoisidors Werkstatt. Studien zum Entstehungsprozeß der falschen Dekretalen. Mit einem exemplarischen editorischen Anhang (Pseudo­Julius an die orientalischen Bischöfe, JK †196), in: Francia 28 (2001), S. 37–90. 1
Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
Entstehung der pseudoisidorischen Fälschungen vor. So erwägt sie folgende Chronologie für die Abfolge der Fälschungen: Zunächst seien in der ersten Phase ab Beginn der 830er Jahre in Corbie eine Version der Hispana Gallica Augustodunensis (ein Text, der von Harder kein eigenes Kapitel erhalten hat, aber auch zum Komplex gehört), die falsche Dekretale Gregors IV. (ab 833) und die Chalkedon Exzerpte (ab 835). Den Abschluss bildeten die gefälschten Dekretalen selbst, ebenfalls ab der Mitte des Jahrzehnts zusammengestellt, die aber nicht mehr unter der Regie Radberts fertiggestellt worden seien. Harder postuliert, dieser sei knapp vor der Vollendung dieses Teils aus dem Fälschungsprojekt ausgestiegen. Radbert habe auch nicht mehr an den später vom Team erstellten weiteren Teilen der Fälschungen mitgewirkt (S. 218f.). Die Argumentation Harders klingt hier sehr schlüssig, sie schränkt aber selbst ein, dass sich ihre Theorie sich nur auf ihre eigenen Teiluntersuchungen stützt. In der Frage der Entstehungsgeschichte der pseudisidorischen Falsifikate, so schreibt sie zu Recht, seien wohl »auch in Zukunft weder einfache noch endgültige Antworten zu erwarten« (S. 220). Relativ wenig äußert sich die Verfasserin zur Wirkung Pseudoisidors, doch diese Fragestellung war für das vorliegende Werk auch nicht zentral; vielleicht darf man sich für die Zukunft hierzu noch mehr wünschen?
Nun noch genauer zur Kernfrage Harders, zum päpstlichen Primatsanspruch: Zu Beginn, in Kapitel 1.1 (S. 21–60) rekapituliert sie konzis die Entwicklung der Vorstellung vom päpstlichen Primat im Westen. Den politischen und theologischen Einfluss der Päpste im 7. und 8. Jahrhundert stellt sie als sehr gering dar, vielleicht ist sie hier sogar ein wenig zu pessimistisch, denn gerade nach 754 bis zum Ende des Pontifikats Hadrians I. († 795) sollte man den realen Einfluss des Papsttums über Italien hinaus nicht unterschätzen. Das soll aber nicht bedeuten, dass die Fälscher der Pseudoisidor­Dokumente nicht dennoch eine revolutionär stärkere Vision der päpstlichen Position in der Kirche vertraten. Genau das zeigt Harder sehr gut an den gefälschten Dekretalen (Kapitel 2, siehe insbes. S. 95–102). In minutiöser Kleinarbeit illustriert sie sehr schön die Arbeitsweise der Fälscher an diesem Kernstück der Falsifikate, beispielsweise: »Aus einer einzelnen, sachlich unzutreffenden und nicht kanonisierten Aussage eines päpstlichen Legaten zu einer bestimmten Synode machte Pseudoisidor ein generelles Verbot, Synoden ohne päpstliche Zustimmung abzuhalten. An dieser Stelle fälschte man eindeutig zugunsten des Papstes« (S. 138) In diesem Kapitel werden auch ganz intensiv die Quellen und Vorlagen Pseudoisidors durchleuchtet (Kapitel 2.5, wobei sich der Liber Pontificalis hier vielleicht noch ein eigenes Kapitel verdient hätte, auch wenn seine Verwendung zuvor schon gut demonstriert wurde). Insbesondere zeigt sie auch, dass die Einrichtung einer derart zentralen Position für die Päpste nicht, wie in älterer Forschung immer wieder behauptet, nur ein Mittel zur Stärkung bestimmter Gruppen innerhalb der fränkischen Kirche oder des fränkischen Reichs im Allgemeinen war, sondern dass die Fälscher ihre Vision einer gerechten Hierarchie in der ecclesia verwirklicht sehen wollten (so auch Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
noch einmal S. 216)2. Auch äußerlich und vom Layout her liegt hier ein schöner Band vor, der auch weitgehend frei von Tippfehlern ist. Leider beginnen mitten in Kapitel 2.1.1 die Fußnoten auf S. 97 noch einmal unvermittelt bei 1, was ein wenig verwirrend und verwunderlich ist. Insgesamt handelt es sich hier um einen sehr wertvollen neuen Beitrag zur Forschung an Pseudoisidor und zur Geschichte des frühen Mittelalters im Allgemeinen. Aufgrund der sehr spezialisierten Thematik richtet sich das Buch zwar nicht an allgemein interessierte Leserinnen und Leser, doch dafür ist es ab sofort zur Pflichtlektüre für jeden zu zählen, der sich näher mit Pseudoisidor beschäftigen möchte.
Harder hat diese Position auch unlängst in einem Artikel noch einmal bekräftigt: Clara Harder, Der Papst als Mittel zum Zweck? Zur Bedeutung des römischen Bischofs bei Pseudoisidor, in: Karl Ubl, Daniel Ziemann (Hg.) Fälschung als Mittel der Politik? Pseudoisidor im Licht der neuen Forschung. Gedenkschrift für Klaus Zechiel­
Eckes, Wiesbaden 2015 (Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte, 57), S. 187–206. 2
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