In der Zwischenzeit

In der Zwischenzeit
Luk 17,20-25
NT-Lesung: Röm 13,8-12
8. November 2015
Uzwil
«Jetzt ist uns unser Heil näher, denn als zu dem Zeitpunkt, an dem wir zum Glauben gekommen
sind», schreibt Paulus der Gemeinde in Rom. «Näher», sagt er – und doch noch nicht ganz da!? Eine
«Zwischenzeit» entsteht, eine Zeit zwischen den Zeiten. In dieser Zwischenzeit leben wir.
«Du kannst ja in der Zwischenzeit schon mal die Fahrkarten lösen», ruft eine Person einer anderen
zu, bevor sie Richtung Toiletten verschwindet. «Du kannst ja in der Zwischenzeit einmal dein Zimmer aufräumen», sagt die Mutter der Tochter, die fragt, wann denn nun endlich der erwartete Besuch kommt. Was tun wir nicht alles «in der Zwischenzeit»! Dabei wird die «Zwischenzeit» zu einer
eigentlich unerwünschten Zeit, die dann halt wenigstens noch mit irgendetwas gefüllt wird, das
auch nur annähernd sinnvoll erscheint.
Die letzten Sonntage des Kirchenjahres richten den Blick auf die zuende gehende Zeit und wollen
vorbereiten auf die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus. Auch hier, so scheint es, tut sich eine
Zwischenzeit auf. Und dahinein hören wir den Predigttext heute, der aus einem Gespräch Jesu mit
zwei unterschiedlichen Personenkreisen besteht:
Luk 17,20-25
Weil er von den Pharisäern befragt wurde: «Wann kommt die Herrschaft Gottes?», antwortete Jesus ihnen und sagte: «Die Herrschaft Gottes kommt nicht beobachtbar, auch werden sie nicht sagen: ‹Siehe, hier!› oder: ‹Dort!› Denn siehe, die Herrschaft Gottes ist in eurer Mitte!»
Und zu den Jüngern sagte er: «Es werden Tage kommen, in denen ihr sehnsüchtig danach verlangen werdet, auch nur einen von den Tagen des Menschensohnes zu sehen – und ihr werdet nichts
sehen! Und sie werden euch sagen: ‹Sieh, hier!›, ‹Sieh, dort!› – Geht nicht hin! Folgt ihnen nicht!
Denn gleich wie der Blitz, wenn er aufblitzt, vom einen Ende des Himmels bis zum anderen Ende
des Himmels leuchtet, ebenso wird auch der Menschensohn sein an seinem Tag.
Zuerst aber muss er vieles leiden und verworfen werden von diesem Geschlecht.
1.
Jesus wird von den Pharisäern befragt. Mir sind diese Pharisäer sympathisch. Warum? Nun einfach
darum, weil sie fragen. Also ganz genau darum: Weil sie Fragen haben – und dazu stehen. Sie haben
eine Frage, die sogar das Zentrum ihrer Hoffnung und ihres Glaubens betrifft: «Wann kommt die
Herrschaft Gottes?»
Man könnte auch übersetzen: Sie fragen Jesus um Rat. Vielleicht, weil sie ratlos sind. Denn ratlos
kann man werden, wenn man nicht ganz blind durch die Welt läuft. Ratlos, dass es so viel Elend
gibt. Laut und sichtbar – in den Medien vorgetragen. Aber auch ganz still. Unsichtbar. Dort, wo niemand oder fast niemand hinschaut: Ein Kollege erzählte mir von einer Familie, die er begleitet. Die
Kinder werden wohl bald den Eltern weggenommen werden. «Und», sagt er, «ich bin froh, wenn
das geschieht. Es ist so schlimm, was da in der Familie vor sich geht.» Oder die Frau, die an Krebs erkrankt ist. Grade hatte sie sich auf den Ruhestand mit ihrem Mann gefreut. Jetzt müssen sie das
neu gebaute Haus verkaufen. Jetzt zeichnet sich der Tod ab.
Ratlos kann man werden, wenn man nicht ganz blind durch die Welt geht. Fragen stehen auf.
Grundfragen. Grundlegende Fragen: Wann – wann kommt die Herrschaft Gottes? Kann Gott diesem
Elend einfach zuschauen? Berührt es ihn nicht? Fragt er nicht danach? Wie lange soll sich denn Tag
für Tag Elend auf Elend häufen? – Natürlich: Nicht nur! Es gibt auch viel Schönes. Es gibt auch viel
Helles. Aber das kann man ja nicht gegeneinander aufwiegen, nicht gegeneinander ausspielen. Und
spätestens dann, wenn es die trifft, die wehrlos sind – wie die Kinder, von denen mein Kollege erzählte –, spätestens dann frage ich: Wann – wann kommst Du, Herr der ganzen Welt?
Das fasziniert mich immer wieder, wenn ich in der Bibel lese: dass diese Fragen Raum haben, mehr
noch: dass in diesem Glaubenszeugnis auch der Zweifel eine Stimme erhält. Ich darf solche Fragen
haben. Und ich darf sie stellen. Ich darf sie Jesus stellen!
Sigmar Friedrich
1
2.
Jesu Antwort fordert mich heraus. Wir müssten sie zuerst einmal so hören: «Gottes Herrschaft
kommt nicht – sie ist schon da in eurer Mitte!» – Meine Fragen waren getragen von einer seltsamen
Vorstellung: als wäre Gott in dieser Welt gar nicht da, als wäre seine Herrschaft, sein Wirken vielleicht einmal irgendwann in der Vergangenheit und ansonsten nur in der Zukunft zu erwarten. Und
ja: Auf diese Zukunft hoffe ich. Danach sehne ich mich. Aber in der Zwischenzeit… – Jesus sagt mir:
«Ich bin heute da. Wenn Du nach Gottes Gegenwart und Wirken fragst, dann träume dich nicht in
eine Zukunft, die dir unerreichbar ist, sondern dann lebe heute!»
«Ja, aber wo?», möchte ich zurückfragen. «Wo zeigt sich denn etwas von der Herrschaft Gottes? Wo
sind ihre Zeichen? Wo wird sie aufweisbar und erkennbar?» – Jetzt muss ich also die ganze Antwort
hören: Die Herrschaft Gottes kommt nicht aufweisbar, nicht beobachtbar, nicht berechenbar, nicht
objektiv beweisbar, nicht feststellbar. Eben nicht so, dass man sagen kann: «Da schau, hier!» Oder:
«Siehst du? Dort!» Und dann weiss jeder Bescheid und alles ist klar.
Sie ist nicht beweisbar. – Lukas erzählt uns von der Zeit Jesu. Und diesen Eindruck habe ich manches Mal: Damals, da war das viel leichter mit der Herrschaft Gottes und mit dem Vertrauen. Da war
Jesus ja direkt da. Hier aber lerne ich: Nein, auch damals schon war die Frage: Glaubst Du das? Vertraust Du darauf: In Jesus ist Gott dir in seiner ganzen Liebe und mit seiner ganzen Macht ganz
nahe!? Das lässt sich nicht beweisen. Aber es ist erfahrbar. Das gibt Deinem Leben Halt. Das bringt
Dich heilvoll in Bewegung. Weil Gott Dir bis ins Innerste Deines Lebens nahe kommt. Hier, mitten
unter uns, ist Jesus gegenwärtig. Hier mitten unter uns ist Gottes Herrschaft da. Glaubst Du das?
Vertraust Du darauf?
Beweisbar ist das nicht. Auch nicht beobachtbar. Das ist in zweiter Akzent. Wer beobachtet, der
tritt einen Schritt zurück, nimmt sich aus der Sache heraus, gewinnt Abstand. Und dann schaut er
einmal: Was zeigt sich, was sehe ich. Möglichst unbeteiligt, unvoreingenommen. Gottes Herrschaft
kann ich auf dies Weise nicht wahrnehmen. Wer Zuschauer sein will, wird Gottes Herrschaft nicht
entdecken. Ich kann nicht abwarten, bis ich objektive Zeichen dafür sehe, dass Gottes Herrschaft
anbricht. Nur wer es wagt darauf zu vertrauen, dass in Jesus Gott da ist – und aus diesem Vertrauen
heraus zu handeln. Nur die und der werden entdecken: er ist ja wirklich da. Das ist ein Wagnis, ein
Risiko. Wenn mein Kollege die Kinder einige Tage in der Woche zu sich in die Familie nimmt, weil er
sagt: Wenigstens ein kleines Stück Familie können wir sie erleben lassen und hoffen, dass es ihnen
hilft für ihren weiteren Weg. Oder wenn ich der Frau im Gespräch einen Raum öffne, um über ihre
Ängste und den Tod und das Sterben zu sprechen. – Es ist oft so wenig, das wir tun können. So wenig, dass niemand auf die Idee kommt zu sagen: Da schau, hier! Oder Da schau, dort! Da ist Gott am
wirken!
3.
«Da schau, dort!» und «Da schau, hier!» – das ist die entscheidende Brücke zum zweiten Teil, in dem
Jesus nicht mehr die Pharisäer anspricht, sondern die Jünger – die also, die keine Fragen haben.
Jesus spricht zu ihnen von ihrer Sehnsucht, etwas vom kommenden Heil, von den «Tagen des Menschensohnes» zu sehen. Er schaut voraus in die Zukunft – in die Zeit der Kirche. In unsere Zeit also
hinein. Was er sagt, ist, wie ich finde, schneidend scharf: Ihr werdet, sagt er, immer wieder die
Sehnsucht haben, dass auch nur für eine kurze Zeit etwas von der Vollendung bei euch eintritt,
greifbar wird. Sie werden zu euch sagen: «Siehe, dort!» und: «Siehe, hier!»
Was ist dort oder hier? – Ereignisse oder Orte, an denen offenbar ein besonderer Segen Gottes
greifbar wird, ein besonders machtvolles Wirken Jesu erkennbar ist, an denen aufleuchtet: Doch er
ist da! Er hat die Sache in der Hand! Komm, und lass dich auch anstecken, auch begeistern, auch berühren. Sieh doch, dort! Sieh doch, hier!
Was sagt Jesus? – Er sagt: Geht nicht hin! Folgt ihnen nicht! Und davor schon: Ihr werdet keinen dieser tief ersehnten Tage sehen. Es ist nicht so, dass Jesus hier oder dort in besonderer Weise nahe
ist. Wenn er so greifbar, so unübersehbar kommt, dann kommt er wie ein Blitz. So hell, so unübersehbar, dass keine Fragen mehr sind. So plötzlich auch, dass für Berechnungen keine Zeit bleibt.
Jetzt aber gilt: Wenn sie sagen: Sieh, hier! Sieh, dort! Dann geht nicht hin! Jetzt gilt: Hier, in Niederuzwil, mitten unter euch ist Gottes Herrschaft da. Du entdeckst sie, wenn Du Dich darauf einlässt:
im Vertrauen und im Gehorsam – oder mit den Worten des Paulus: wenn ihr aus der Liebe, die ihr
Sigmar Friedrich
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selbst empfangen habt, liebevoll handelt: Bleibt niemandem etwas schuldig, ausser dass ihr einander liebt. Denn wer den andern liebt, hat die Weisung und den Willen Gottes erfüllt.
Und ihr werdet erleben: das ist mehr als Zwischenzeit. Das ist von Gottes Gegenwart erfüllte Zeit:
«Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!» (2.Kor 6,2) Eine erfüllte und
gefüllte Zeit, in der die Hoffnung auf Jesu Wiederkunft und die Vollendung der ganzen Welt lebendig bleibt.
Amen.
Sigmar Friedrich
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