Wie viel Medizin brauchen wir?

Berliner Kurier vom 24.01.2016
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KATRIN GROTH
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Tageszeitung
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2016
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Wie viel Medizin brauchen wir?
In kaum einem anderen Land der Welt lassen sich Menschen so oft untersuchen und operieren
wie bei uns. Eine kritische Bestandsaufnahme
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Von KATRIN GROTH
Ein Mann klagt über Schmerzen. Seit
einer Woche steche und reiße es im
Rücken, ansonsten habe er keine
Beschwerden. Der Arzt will ein Röntgenbild machen lassen. Für den Laien
eine gute Maßnahme, aus medizinischer
Sicht völliger Quatsch. Weder ein Röntgenbild noch eine Computertomographie (CT) kann die Ursache von erst
kürzlich aufgetretenen Rückenschmerzen erhellen. Aber ein solches Vorgehen ist Alltag in deutschen Arztpraxen.
Und ein typisches Beispiel für eine
unnötige Behandlung.
Dass hierzulande überdurchschnittlich
oft und teilweise überflüssig behandelt
wird, belegen Statistiken. Herzkatheter,
Leiste, Hüftgelenk - nirgendwo auf der
Welt werden diese Eingriffe häufiger
vorgenommen als bei uns. Bei Gallenblase, Kniegelenk und Bypass liegen wir
weltweit auf dem zweiten Platz. Gesünder als andere sind wir trotzdem nicht in der Statistik rangieren wir stets im
hinteren Mittelfeld.
Es gibt große regionale Unterschiede,
wann operiert wird und wann nicht.
Medizinisch lässt sich das nicht erklären. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung fand heraus, dass in Bremerhaven,
Cloppenburg und der Prignitz seit Jahren achtmal so vielen Kindern die Mandeln herausgenommen werden wie zum
Beispiel in Berlin. Die Daten sind nach
Alter und Geschlecht standardisiert,
demografische Unterschiede allein können die Differenz also nicht erklären.
Ähnliche regionale Unterschiede gibt es
bei Blinddarm- und Prostata-OPs sowie
Kaiserschnitten. Während in einigen
Landkreisen nur 17 Prozent der Kinder
per Kaiserschnitt zur Welt kommen,
sind es anderswo 52 Prozent. Bemerkenswert: Die regionalen Differenzen
sind seit 2007 relativ konstant. Entscheidet der Wohnort, ob jemand operiert
wird?
"Es gibt klare Leitlinien zu den Themen,
wann zum Beispiel die Entfernung von
Mandeln, Blinddarm oder ein Kaiserschnitt notwendig ist", erklärt Professor
Gerd Hasenfuß, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin.
"Es müssen jedoch noch mehr Leitlinien entwickelt werden zu der Frage,
wann spezifische Eingriffe nicht durchgeführt werden sollten. Negativ-Empfehlungen sind klar unterrepräsentiert."
Auf große regionale Unterschiede stieß
auch die OECD, die in 13 Staaten die
Kaiserschnittrate untersuchte. Werden in
Finnland 18 Prozent der Babys per Kaiserschnitt entbunden, sind es in Australien, Portugal und Italien 35 Prozent.
Eine wahre "Kaiserschnitt-Epidemie"
herrscht in Brasilien. Mehr als jedes
zweite Kind (55,6 Prozent) wird dort
chirurgisch auf die Welt geholt, berechnete die Weltgesundheitsorganisation
(WHO). Die OP birgt Risiken für Mutter und Kind - und ist in vielen Fällen
medizinisch gar nicht notwendig.
"Große regionale Unterschiede in der
Gesundheitsversorgung sind ein klares
Zeichen für Qualitäts-, Effizienz- und
Gerechtigkeitsprobleme", sagt OECDDirektor Mark Pearson.
Der Mediziner Gerd Hasenfuß sieht
viele Ursachen für unnötige Behandlungen: Unkenntnis der Leitlinien, die
rasante Entwicklung von neuen Verfahren, die noch nicht in Leitlinien abgebildet sind, eine zunehmende Arbeitsverdichtung, die Angst vor Behandlungsfehlern und der Wunsch, eine schwere
Erkrankung auszuschließen. Zeitmangel
für ausführliche Patientengespräche,
falsche Anreize des Finanzierungssystems und die Erwartungshaltung der
Patienten spielten auch eine Rolle .
Finnische Wissenschaftler fanden heraus: Der Nutzen einer Behandlung wird
von Ärzten häufig übertrieben, weil sie
Statistiken falsch interpretieren. Stattdessen werde die Gefahr bei ausbleibender Therapie drastischer dargestellt als
sie ist. "Einem Menschen ein ,hohes
Risiko' zu attestieren, ist mittlerweile zu
einer eigenen Krankheit geworden",
urteilt Teppo Järvinen, der Autor der
Studie. "Auf diese Weise werden
Gesunde krank gemacht und krank geredet."
Du fühlst dich gesund? Geh zum Arzt,
der wird schon was finden! Ärzte entdecken auch Krankheiten, von denen die
Patienten gar nichts merken. Normabweichungen, auffällige Befunde, kleinste Details. Für den Arzt ist das oft ein
Anlass zu behandeln, obwohl sich der
Patient rundum gesund fühlt.
Das Problem ist, dass die Grenzwerte
für Knochendichte, Cholesterin oder
Harnsäure immer strenger ausgelegt
werden, so dass fast jeder als krank gilt.
Dabei sind Messwertüberschreitungen
kaum relevant. Entscheidend ist vielmehr der Gesamtzustand des Patienten.
Aber weil viele Ärzte das anders sehen,
verschreiben sie auch in solchen Fällen
eine Behandlung und mitunter auch
Medikamente, die bei den Betroffenen
nichts bewirken.
Tabletten gegen Osteoporose zum Beispiel. Mit dem Alter steigt das Risiko
eines Oberschenkelhalsbruchs, weil die
Knochendichte abnimmt. Bei jeder vierten Frau über 50 ist sie zu niedrig. Doch
Tabletten senken das Risiko um schmale
1,2 Prozent - sie sind quasi nutzlos.
Sinnvoller wäre es, alten Menschen
Bewegung zu verschreiben. Das kann
helfen, Stürze zu vermeiden.
Gerd Hasenfuß geht davon aus, "dass
eher der Wunsch, alles hundertprozentig zu machen und ja nichts unversucht
zu lassen, um dem Patienten zu helfen
oder dem Patientenwunsch zu entsprechen, häufig die Ursache von Überversorgung darstellt."
Und so verschreiben Ärzte massenhaft
Medikamente - und die Risikofaktorindustrie macht Milliardenumsätze. Beispiele gibt's genug: Chemotherapie für
einen todkranken Krebspatienten, die
ihm den Rest seiner Lebenskraft raubt.
Eine Magensonde für einen siechen
Menschen, dessen Leben nicht selten
zwangsverlängert wird.
Doch was können Patienten tun? Sie
sind dem Arzt und seinem Wissen ausgeliefert.
"Tatsächlich kann man es mühelos
schaffen, einen fröhlichen Menschen,
der angibt, es gehe ihm hervorragend, in
kurzer Zeit durch Diagnostik zu einem
chronisch kranken, ja multimorbiden
Patienten zu machen", schreibt Thomas
Kühnlein von der Uniklinik Erlangen im
"Bayrischen Ärzteblatt".
Für die Überversorgung gibt es vielfältige Ursachen. Da ist das Geld, das eine
Untersuchung lohnenswerter macht als
ein ausführliches Patientengespräch.
Manchmal sind Ärzte unsicher und verordnen eine Behandlung aus Angst,
etwas zu übersehen. Manchmal fühlen
sich aber auch Patienten unwohl, wenn
sie ohne Rezept oder Überweisung aus
der Praxis gehen.
Dabei spielt auch die hierzulande starke
Kultur der Vorsorge und Früherkennung eine Rolle. Auch ohne Beschwerden zweimal im Jahr zum Zahnarzt,
zweimal im Jahr aus Routine zum Frauenarzt, Kontrolle beim Augenarzt, Kontrolle zur Krebsfrüherkennung, Kontrolle beim Kardiologen.
Man könnte jetzt auf die Mediziner
schimpfen. Aber, das legen Studien
nahe: Die Deutschen gehen gern zum
Arzt, statistisch 9,7 Mal im Jahr. Im
europäischen Vergleich ist das der
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zweite Platz, nur die Ungarn gehen noch
häufiger (11,8 Mal). Franzosen dagegen
reichen 6,8 Arztbesuche, Norwegern nur
5,2 - und zwar ohne dass ihr Gesundheitszustand schlechter wäre als der der
Deutschen.
Die Zahlen sind nicht unumstritten. So
variieren laut einer Berechnung des
Zentralinstituts für die kassenärztliche
Versorgung in Deutschland die Arztkonsultationen stark. Während rund ein
Viertel der Patienten höchstens vier Mal
im Jahr zum Arzt geht, nimmt ein anderes Viertel 40 Mal im Jahr beim Mediziner Platz.
Und es gibt Fälle, in denen Vorsorge
nicht nur sinnvoll, sondern lebensnotwendig ist. Darmkrebs im Anfangsstadium zu erkennen hilft Leben retten. Mit
einer Darmspiegelung geht das relativ
sicher. Bluthochdruck zu erkennen und
zu senken kann Lebensqualität zurückbringen - und auch Leben retten. Impfungen verhindern, dass Krankheiten
ausbrechen - Pocken wurden so ausgerottet, Masern sollen folgen.
Doch nicht jede Vorsorge ist in jedem
Fall richtig. Beispiel Brustkrebsfrüherkennung. Mit Mammografie sterben nur
sechs statt acht von 1000 Frauen innerhalb von zehn Jahren an Brustkrebs. Ein
Erfolg. Aber: Fünf von 100 Frauen werden wegen falscher Befunde weiteren,
eventuell schädlichen Untersuchungen
unterzogen. Frauen überschätzen aus
Angst vor der Krankheit den Nutzen der
Screenings und unterschätzen gleichzeitig deren Schadenspotenzial. Eine ausgewogene Aufklärung, eine realistische
Einschätzung des Risikos wäre hilfreicher.
Helfen soll die Initiative "Klug entscheiden" der Deutschen Gesellschaft für
Innere Medizin, die Empfehlungen für
sinnvolle und sinnlose Behandlungen
sammelt. Gerd Hasenfuß: "Die Initiative beruht auf der Erkenntnis, dass
sowohl Unterversorgung als auch Überversorgung häufig vorkommen. Dabei
bedeutet Überversorgung: häufig durchgeführte Maßnahmen, die wissenschaftlich nachweislich nicht nutzbringend
sind. Unterversorgung bedeutet: häufig
unterlassene Maßnahmen, deren Nutzen
wissenschaftlich belegt ist."
Profitieren sollen Ärzte und Patienten,
die schwarz auf weiß lesen können,
wann eine Maßnahme sinnvoll ist.
Hasenfuß glaubt, "dass durch diese
Debatte neben der Erstellung klarer
Empfehlungen eine Sensibilisierung für
dieses Thema stattfindet. Es muss nicht
immer alles durchgeführt werden, was
machbar ist". Fallen unsinnige Therapien weg, bleibt mehr Zeit für den Einzelnen, die Qualität steigt, so die Hoffnung. Ab März sollen die Empfehlungen im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht werden.
Künftig könnten nicht nur überflüssige
ärztliche Behandlungen, sondern auch
Krankenhausaufenthalte vermieden werden. Zu diesem Schluss kommt die Studie der Gesundheitsökonomin Leonie
Sundermacher. Etwa ein Fünftel aller
stationären Behandlungen in deutschen
Krankenhäusern, das sind mehr als 3,7
Millionen Aufenthalte, hält sie für verzichtbar.
Aber: Weil sich Operationen vor allem
fürs Krankenhaus lohnen, wird sich das
wohl nicht so schnell ändern. Denn
sobald die Krankenkassen die Fallpauschale für eine Behandlung erhöhen,
steigt die Zahl der Operationen merklich, fanden Wissenschaftler der TU
Berlin und des Hamburger Center for
Health Economics heraus. Die Studie
erhärtet den Verdacht, dass in Deutschland zu schnell und zu oft nur wegen des
Geldes operiert wird. Ein Armutszeugnis.
Skalpell, Tupfer ... Herzkatheter implantieren, Leistenbruch richten, Hüftgelenk ersetzen - nirgendwo auf der
Welt werden diese Eingriffe so oft vorgenommen wie bei uns. In Sachen Gallenblase, Kniegelenk und
Bypass liegen wir auf dem zweiten Platz. Wir sind trotzdem nicht gesünder als andere.
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