Berliner Kurier vom 24.01.2016 Autor: Seite: Rubrik: KATRIN GROTH 13 JOURNAL Jahrgang: Nummer: Auflage: Gattung: Tageszeitung Reichweite: 2016 0 125.258 (gedruckt) 91.449 (verkauft) 91.683 (verbreitet) 0,26 (in Mio.) Wie viel Medizin brauchen wir? In kaum einem anderen Land der Welt lassen sich Menschen so oft untersuchen und operieren wie bei uns. Eine kritische Bestandsaufnahme Foto: fotolia Von KATRIN GROTH Ein Mann klagt über Schmerzen. Seit einer Woche steche und reiße es im Rücken, ansonsten habe er keine Beschwerden. Der Arzt will ein Röntgenbild machen lassen. Für den Laien eine gute Maßnahme, aus medizinischer Sicht völliger Quatsch. Weder ein Röntgenbild noch eine Computertomographie (CT) kann die Ursache von erst kürzlich aufgetretenen Rückenschmerzen erhellen. Aber ein solches Vorgehen ist Alltag in deutschen Arztpraxen. Und ein typisches Beispiel für eine unnötige Behandlung. Dass hierzulande überdurchschnittlich oft und teilweise überflüssig behandelt wird, belegen Statistiken. Herzkatheter, Leiste, Hüftgelenk - nirgendwo auf der Welt werden diese Eingriffe häufiger vorgenommen als bei uns. Bei Gallenblase, Kniegelenk und Bypass liegen wir weltweit auf dem zweiten Platz. Gesünder als andere sind wir trotzdem nicht in der Statistik rangieren wir stets im hinteren Mittelfeld. Es gibt große regionale Unterschiede, wann operiert wird und wann nicht. Medizinisch lässt sich das nicht erklären. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung fand heraus, dass in Bremerhaven, Cloppenburg und der Prignitz seit Jahren achtmal so vielen Kindern die Mandeln herausgenommen werden wie zum Beispiel in Berlin. Die Daten sind nach Alter und Geschlecht standardisiert, demografische Unterschiede allein können die Differenz also nicht erklären. Ähnliche regionale Unterschiede gibt es bei Blinddarm- und Prostata-OPs sowie Kaiserschnitten. Während in einigen Landkreisen nur 17 Prozent der Kinder per Kaiserschnitt zur Welt kommen, sind es anderswo 52 Prozent. Bemerkenswert: Die regionalen Differenzen sind seit 2007 relativ konstant. Entscheidet der Wohnort, ob jemand operiert wird? "Es gibt klare Leitlinien zu den Themen, wann zum Beispiel die Entfernung von Mandeln, Blinddarm oder ein Kaiserschnitt notwendig ist", erklärt Professor Gerd Hasenfuß, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. "Es müssen jedoch noch mehr Leitlinien entwickelt werden zu der Frage, wann spezifische Eingriffe nicht durchgeführt werden sollten. Negativ-Empfehlungen sind klar unterrepräsentiert." Auf große regionale Unterschiede stieß auch die OECD, die in 13 Staaten die Kaiserschnittrate untersuchte. Werden in Finnland 18 Prozent der Babys per Kaiserschnitt entbunden, sind es in Australien, Portugal und Italien 35 Prozent. Eine wahre "Kaiserschnitt-Epidemie" herrscht in Brasilien. Mehr als jedes zweite Kind (55,6 Prozent) wird dort chirurgisch auf die Welt geholt, berechnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Die OP birgt Risiken für Mutter und Kind - und ist in vielen Fällen medizinisch gar nicht notwendig. "Große regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung sind ein klares Zeichen für Qualitäts-, Effizienz- und Gerechtigkeitsprobleme", sagt OECDDirektor Mark Pearson. Der Mediziner Gerd Hasenfuß sieht viele Ursachen für unnötige Behandlungen: Unkenntnis der Leitlinien, die rasante Entwicklung von neuen Verfahren, die noch nicht in Leitlinien abgebildet sind, eine zunehmende Arbeitsverdichtung, die Angst vor Behandlungsfehlern und der Wunsch, eine schwere Erkrankung auszuschließen. Zeitmangel für ausführliche Patientengespräche, falsche Anreize des Finanzierungssystems und die Erwartungshaltung der Patienten spielten auch eine Rolle . Finnische Wissenschaftler fanden heraus: Der Nutzen einer Behandlung wird von Ärzten häufig übertrieben, weil sie Statistiken falsch interpretieren. Stattdessen werde die Gefahr bei ausbleibender Therapie drastischer dargestellt als sie ist. "Einem Menschen ein ,hohes Risiko' zu attestieren, ist mittlerweile zu einer eigenen Krankheit geworden", urteilt Teppo Järvinen, der Autor der Studie. "Auf diese Weise werden Gesunde krank gemacht und krank geredet." Du fühlst dich gesund? Geh zum Arzt, der wird schon was finden! Ärzte entdecken auch Krankheiten, von denen die Patienten gar nichts merken. Normabweichungen, auffällige Befunde, kleinste Details. Für den Arzt ist das oft ein Anlass zu behandeln, obwohl sich der Patient rundum gesund fühlt. Das Problem ist, dass die Grenzwerte für Knochendichte, Cholesterin oder Harnsäure immer strenger ausgelegt werden, so dass fast jeder als krank gilt. Dabei sind Messwertüberschreitungen kaum relevant. Entscheidend ist vielmehr der Gesamtzustand des Patienten. Aber weil viele Ärzte das anders sehen, verschreiben sie auch in solchen Fällen eine Behandlung und mitunter auch Medikamente, die bei den Betroffenen nichts bewirken. Tabletten gegen Osteoporose zum Beispiel. Mit dem Alter steigt das Risiko eines Oberschenkelhalsbruchs, weil die Knochendichte abnimmt. Bei jeder vierten Frau über 50 ist sie zu niedrig. Doch Tabletten senken das Risiko um schmale 1,2 Prozent - sie sind quasi nutzlos. Sinnvoller wäre es, alten Menschen Bewegung zu verschreiben. Das kann helfen, Stürze zu vermeiden. Gerd Hasenfuß geht davon aus, "dass eher der Wunsch, alles hundertprozentig zu machen und ja nichts unversucht zu lassen, um dem Patienten zu helfen oder dem Patientenwunsch zu entsprechen, häufig die Ursache von Überversorgung darstellt." Und so verschreiben Ärzte massenhaft Medikamente - und die Risikofaktorindustrie macht Milliardenumsätze. Beispiele gibt's genug: Chemotherapie für einen todkranken Krebspatienten, die ihm den Rest seiner Lebenskraft raubt. Eine Magensonde für einen siechen Menschen, dessen Leben nicht selten zwangsverlängert wird. Doch was können Patienten tun? Sie sind dem Arzt und seinem Wissen ausgeliefert. "Tatsächlich kann man es mühelos schaffen, einen fröhlichen Menschen, der angibt, es gehe ihm hervorragend, in kurzer Zeit durch Diagnostik zu einem chronisch kranken, ja multimorbiden Patienten zu machen", schreibt Thomas Kühnlein von der Uniklinik Erlangen im "Bayrischen Ärzteblatt". Für die Überversorgung gibt es vielfältige Ursachen. Da ist das Geld, das eine Untersuchung lohnenswerter macht als ein ausführliches Patientengespräch. Manchmal sind Ärzte unsicher und verordnen eine Behandlung aus Angst, etwas zu übersehen. Manchmal fühlen sich aber auch Patienten unwohl, wenn sie ohne Rezept oder Überweisung aus der Praxis gehen. Dabei spielt auch die hierzulande starke Kultur der Vorsorge und Früherkennung eine Rolle. Auch ohne Beschwerden zweimal im Jahr zum Zahnarzt, zweimal im Jahr aus Routine zum Frauenarzt, Kontrolle beim Augenarzt, Kontrolle zur Krebsfrüherkennung, Kontrolle beim Kardiologen. Man könnte jetzt auf die Mediziner schimpfen. Aber, das legen Studien nahe: Die Deutschen gehen gern zum Arzt, statistisch 9,7 Mal im Jahr. Im europäischen Vergleich ist das der Abbildung: Ganzseiten-PDF: Wörter: Urheberinformation: © 2016 PMG Presse-Monitor GmbH zweite Platz, nur die Ungarn gehen noch häufiger (11,8 Mal). Franzosen dagegen reichen 6,8 Arztbesuche, Norwegern nur 5,2 - und zwar ohne dass ihr Gesundheitszustand schlechter wäre als der der Deutschen. Die Zahlen sind nicht unumstritten. So variieren laut einer Berechnung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland die Arztkonsultationen stark. Während rund ein Viertel der Patienten höchstens vier Mal im Jahr zum Arzt geht, nimmt ein anderes Viertel 40 Mal im Jahr beim Mediziner Platz. Und es gibt Fälle, in denen Vorsorge nicht nur sinnvoll, sondern lebensnotwendig ist. Darmkrebs im Anfangsstadium zu erkennen hilft Leben retten. Mit einer Darmspiegelung geht das relativ sicher. Bluthochdruck zu erkennen und zu senken kann Lebensqualität zurückbringen - und auch Leben retten. Impfungen verhindern, dass Krankheiten ausbrechen - Pocken wurden so ausgerottet, Masern sollen folgen. Doch nicht jede Vorsorge ist in jedem Fall richtig. Beispiel Brustkrebsfrüherkennung. Mit Mammografie sterben nur sechs statt acht von 1000 Frauen innerhalb von zehn Jahren an Brustkrebs. Ein Erfolg. Aber: Fünf von 100 Frauen werden wegen falscher Befunde weiteren, eventuell schädlichen Untersuchungen unterzogen. Frauen überschätzen aus Angst vor der Krankheit den Nutzen der Screenings und unterschätzen gleichzeitig deren Schadenspotenzial. Eine ausgewogene Aufklärung, eine realistische Einschätzung des Risikos wäre hilfreicher. Helfen soll die Initiative "Klug entscheiden" der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, die Empfehlungen für sinnvolle und sinnlose Behandlungen sammelt. Gerd Hasenfuß: "Die Initiative beruht auf der Erkenntnis, dass sowohl Unterversorgung als auch Überversorgung häufig vorkommen. Dabei bedeutet Überversorgung: häufig durchgeführte Maßnahmen, die wissenschaftlich nachweislich nicht nutzbringend sind. Unterversorgung bedeutet: häufig unterlassene Maßnahmen, deren Nutzen wissenschaftlich belegt ist." Profitieren sollen Ärzte und Patienten, die schwarz auf weiß lesen können, wann eine Maßnahme sinnvoll ist. Hasenfuß glaubt, "dass durch diese Debatte neben der Erstellung klarer Empfehlungen eine Sensibilisierung für dieses Thema stattfindet. Es muss nicht immer alles durchgeführt werden, was machbar ist". Fallen unsinnige Therapien weg, bleibt mehr Zeit für den Einzelnen, die Qualität steigt, so die Hoffnung. Ab März sollen die Empfehlungen im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht werden. Künftig könnten nicht nur überflüssige ärztliche Behandlungen, sondern auch Krankenhausaufenthalte vermieden werden. Zu diesem Schluss kommt die Studie der Gesundheitsökonomin Leonie Sundermacher. Etwa ein Fünftel aller stationären Behandlungen in deutschen Krankenhäusern, das sind mehr als 3,7 Millionen Aufenthalte, hält sie für verzichtbar. Aber: Weil sich Operationen vor allem fürs Krankenhaus lohnen, wird sich das wohl nicht so schnell ändern. Denn sobald die Krankenkassen die Fallpauschale für eine Behandlung erhöhen, steigt die Zahl der Operationen merklich, fanden Wissenschaftler der TU Berlin und des Hamburger Center for Health Economics heraus. Die Studie erhärtet den Verdacht, dass in Deutschland zu schnell und zu oft nur wegen des Geldes operiert wird. Ein Armutszeugnis. Skalpell, Tupfer ... Herzkatheter implantieren, Leistenbruch richten, Hüftgelenk ersetzen - nirgendwo auf der Welt werden diese Eingriffe so oft vorgenommen wie bei uns. In Sachen Gallenblase, Kniegelenk und Bypass liegen wir auf dem zweiten Platz. Wir sind trotzdem nicht gesünder als andere. MDS-BKU-2016-01-24-bk_kur_k12-24_k13-24_2.pdf 1395 (c) M.DuMont Schauberg
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