FU Berlin, Boltzmannstraße 20, D-14195 Berlin GAW mbH, Sparkassenplatz 2/1/115, 6020 Innsbruck Titel / Thema der Pressemeldung Steuerreform 2016 erhöht Arbeitsanreize kaum Bearbeitet durch Prof. Dr. Viktor Steiner [email protected] Dr. Florian Wakolbinger [email protected] Pressemeldung vom Juni 2015 Steuerreform 2016 erhöht Arbeitsanreize kaum In der aktuellen Debatte zur Steuerreform wurden die damit verbundenen Entlastungswirkungen und verbesserten Arbeitsanreize meist positiv bewertet. Diese Analysen übersehen jedoch, dass der Steuertarif nur eine von vielen Komponenten des Abgaben- und Transfersystems ist, und daher geringere Grenzsteuersätze alleine nicht entscheidend für die Arbeitsanreize sind. So bringt beispielsweise Mindestsicherungsempfängern, die zusätzlich ein Erwerbseinkommen erzielen, die geplante Ausweitung der Negativsteuer nichts, da die Mindestsicherung reduziert wird, wenn nach der Steuerreform netto mehr vom Erwerbseinkommen übrig bleibt. Eine aktuelle Analyse der GAW in Kooperation mit Prof. Dr. Viktor Steiner von der Freien Universität Berlin zeigt denn auch, dass die finanziellen Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung für Arbeitslose und Bezieher von Sozialtransfers trotz der deutlichen Reduktion des Eingangssteuersatzes von 36,5 auf 25 Prozent nicht wesentlich verbessert werden. Aber auch die Anreize zur Ausweitung des Stundenumfangs von bereits Beschäftigten werden durch die Steuerreform lediglich in geringem Umfang erhöht. Daher fallen die zu erwartenden Beschäftigungseffekte der Reform mit ca. 10.000 „vollzeitäquivalent“ Beschäftigten relativ gering aus. In der aktuellen Debatte zur Steuerreform wurden die damit verbundenen Entlastungswirkungen und verbesserten Arbeitsanreize meist positiv bewertet. Das WIFO betonte beispielsweise das hohe Ausmaß relativer Entlastung im unteren Einkommensbereich aufgrund der Ausweitung der 1 Negativsteuer. Eine Studie des IHS im Auftrag des Finanzministeriums attestiert der geplanten Steuerreform die Schaffung „spürbar höherer Arbeitsanreize“ und begründet dies mit der Reduktion 2 der durchschnittlichen Steuerbelastung. 1 WIFO: „Steuerreform 2015/16 – Maßnahmen und Gesamteinschätzung – Presseinformation vom 12. Juni 2015. http://www.wifo.ac.at/jart/prj3/wifo/resources/person_dokument/person_dokument.jart?publikationsid=58193&mime_type=applic ation/pdf 2 IHS: „Steuerreform erhöht Arbeitsanreize“, https://www.ihs.ac.at/fileadmin/public/media_corner/user_upload/Steuerreformerhoeht_Arbeitsanreize__2_.pdf; abgerufen: 26.05.2015. GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung mbH 6020 Innsbruck, Sparkassenplatz 2/1/115 · Telefon: +43 (0)699 1905 8801 · E -Mail: [email protected] · www.gaw-mbh.at UID: ATU65011827 · Firmenbuch-Nr.: FN 327387 b · Gewerberegister-Nr.: 701 30745 · Firmenbuchgericht: Landesgericht Innsbruck Bankverbindung: Tiroler Sparkasse Bank AG, BLZ 20503; Kto. -Nr.: 03300-629510, IBAN: AT60 2050 3033 0062 9510, BIC SPIHAT22 Die Arbeitsanreize hängen jedoch weder von der durchschnittlichen Steuerbelastung noch alleine von den Grenzsteuersätzen ab. Vielmehr hängen diese von der Grenzbelastung ab. Gemeint ist damit die zusätzliche Belastung, die in Summe auf einem zusätzlich verdienten Euro liegt. Diese zusätzliche Belastung hängt naturgemäß vom jeweiligen Grenzsteuersatz ab, aber eben auch von den zusätzlich anfallenden Sozialbeiträgen und der Transferentzugsrate. Letzteres spricht das Phänomen an, dass bei bedürftigkeitsgeprüften Sozialtransfers zusätzliches Erwerbseinkommen eine Reduktion der Sozialtransfers, wie der Bedarfsorientierten Mindestsicherung (BMS), der Notstandshilfe oder dem Arbeitslosengeld (ALG), nach sich zieht. Diese Grenzbelastung ist es, die letztlich für die Aufnahme einer Arbeit und die Ausweitung der Arbeitsstunden entscheidend ist. Eine Betrachtung des Steuertarifs alleine – also einer einzigen Komponente des Abgaben- und Transfersystems – greift jedenfalls zu kurz. Ergebnisse Auch die Steuerreform 2016 ändert nichts an der Tatsache, dass den Beziehern von Arbeitslosengeld, Notstandshilfe oder bedarfsorientierter Mindestsicherung ihr zusätzliches Einkommen fast vollständig auf ihre Transfers angerechnet wird. Die Reduktion des Eingangssteuersatzes auf 25% bleibt für diese Gruppe damit wirkungslos. Erst ab einem Einkommen, bei dem der Transfer bereits vollständig entzogen ist, greift die Senkung des Eingangssteuersatzes. Für Personen mit Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe wird der Transfer erst ab der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung entzogen. Bei sehr geringem Einkommen verbessert sich für diese Gruppe das Nettoeinkommen daher auf Grund der Negativsteuer lediglich geringfügig (Abb. 1a). Bei Mindestsicherungsempfängern hängt die Transfergrenze wesentlich von der Haushaltszusammensetzung ab. Für die meisten Bezieher von BMS bleibt die Grenzbelastung daher trotz Steuerreform unverändert bei 100 Prozent (Abb. 1b). Für Personen ohne Transferanspruch und mit durchschnittlichem Stundenlohn sinkt durch die geplante Steuerreform die für die Arbeitsanreize relevante Grenzbelastung (bei Vernachlässigung der Konsumbesteuerung) erst ab einer Arbeitszeit von etwas weniger als 20 Wochenstunden (Abb. 1c). Tabelle 1 zeigt die Verteilung der Grenzbelastung vor und nach der Steuerreform 2016. Die 3 Darstellung erfolgt getrennt in Dezilen des persönlichen Erwerbseinkommens. Dabei ist zu beachten, dass in dieser Darstellung auch Arbeitslose und erwerbsfähige Nichterwerbstätige berücksichtigt sind. Dies ist entscheidend, da sich diese Gruppe nicht nur dadurch auszeichnet, dass sie in der Ausgangssituation mit einem Erwerbseinkommen von Null in die Verteilung eingeht, sondern auch dadurch, dass sie unter einer besonders hohen Transferentzugsrate leidet. Letzteres ist ein wesentlicher Grund für die Arbeitslosigkeit bzw. Nichterwerbstätigkeit in dieser Gruppe. Eine Vernachlässigung dieser Gruppe würde daher der Steuerreform 2016 eine zu große Reduktion der Grenzbelastung zuschreiben und damit eine zu starke Erhöhung der Arbeitsanreize diagnostizieren. Der Vergleich der in Tabelle 1 dargestellten Grenzbelastungen vor und nach der Steuerreform zeigt, dass sich diese in den untersten Erwerbseinkommensdezilen nicht nennenswert verbessert und damit 3 In einem Dezil befinden sich jeweils 10% der Einkommensbezieher. Seite 2 in diesem Bereich kaum verbesserte Arbeitsanreize zu erwarten sind. Im Detail zeigt sich folgendes Bild. 1. und 2. Dezil In den ersten beiden Dezilen ist die Änderung gering, da die Reduktion des Eingangssteuersatzes noch nicht greift, und sich auch die erweiterte Negativsteuer aufgrund der geringen Einkommenshöhe nur marginal auswirkt. 3. Dezil Im dritten Dezil bleibt die durchschnittliche Grenzbelastung trotz Steuerreform deutlich über 100 Prozent. Im Durchschnitt führt hier also eine Brutto-Einkommenserhöhung zu geringeren Nettoeinkommen! Der Grund dafür ist, dass sich in diesem Dezil Arbeitslosengeld- und Notstandshilfeempfänger befinden, die bei einer Einkommenserhöhung die Geringfügigkeitsgrenze überschreiten und somit ihre Unterstützung zur Gänze verlieren würden. Gleichzeitig fallen Sozialversicherungsbeiträge an. Daraus resultiert für diese beiden Gruppen eine sehr hohe Grenzbelastung. Bezieher von Mindestsicherung hingegen unterliegen einer Grenzbelastung von nahezu 100 Prozent, da die Mindestsicherung bei einer Einkommenserhöhung fast genau im Ausmaß der Einkommenserhöhung gekürzt wird. Im Durchschnitt resultiert daraus für diese drei Gruppen eine Grenzbelastung, wie sie in Tabelle 1 ausgewiesen ist. Tabelle 1: Dezil Verteilung der Grenzbelastung vor und nach der Steuerreform 2016 Obere Dezilgrenze Arbeitseinkommen (Jahresbrutto) Grenzbelastung in % Änderung Grenzbelastung vor Steuerreform nach Steuerreform in %-Punkten 1. Dezil €0 8,2% 7,7% -0,5 2. Dezil € 5.531 9,8% 9,5% -0,4 3. Dezil € 13.881 122,3% 117,9% -4,4 4. Dezil € 20.211 40,8% 39,3% -1,5 5. Dezil € 26.186 50,6% 44,4% -6,2 6. Dezil € 32.059 43,5% 41,6% -1,9 7. Dezil € 38.196 44,8% 42,6% -2,3 8. Dezil € 46.657 51,3% 46,7% -4,6 9. Dezil € 61.494 48,5% 47,4% -1,1 41,9% 41,5% -0,4 10. Dezil Durchschnitt € 30.839 46,1% 43,8% -2,3 Anmerkung: Nichterwerbstäitge erwerbsfähige Personen (ohne Pensionisten) gehen mit einem persönlichen Arbeitseinkommen von Null in die Berechnung ein. Die obere Dezilgrenze gibt das höchste Arbeitseinkommen in dem betreffenden Dezil an. Quelle: ATTM mit EU-SILC Daten fortgeschrieben auf 2015 4. Dezil Einkommen wird in Österreich aufgrund der begünstigten Besteuerung des 13./14. Monatsgehalts sowie diverser individueller Absetz- und Freibeträge erst bei knapp € 20.000 brutto pro Seite 3 Jahr besteuert. Daher greift die Steuerreform bei Bruttojahreseinkommen bis knapp unterhalb der Einkommensobergrenze in diesem Dezil (€ 20.211) noch nicht. 5. Dezil Erst im fünften Dezil greift die Steuerreform voll und reduziert die Grenzbelastung spürbar um durchschnittlich mehr als sechs Prozentpunkte. 6. bis 10 Dezil In den weiteren Dezilen ist die Reduktion des Grenzbelastung wiederum geringer, weil die vorgesehene Reduktion der Grenzsteuersätze für höhere Einkommen geringer ist als die Reduktion des Eingangssteuersatzes. So reduziert sich beispielsweise der Grenzsteuersatz bei einer Bemessungsgrundlage von € 50.000 von 43,2% auf 42%, der Eingangssteuersatz jedoch von 36,5% auf 25%. Keine größeren Beschäftigungseffekte durch die Reform Die zu erwartenden Beschäftigungseffekte der Steuerreform sind wegen der geringen Verbesserung der finanziellen Arbeitsanreize insbesondere unter Geringverdienern und Beziehern einkommensgeprüfter Transferleistungen gering. Der mit dem Mikrosimulationsmodell ATTM ermittelte gesamte Beschäftigungseffekt von ca. 10.000 „vollzeitäquivalent“ Beschäftigten (entspricht dem auf Vollzeitbeschäftigte umgerechneten höheren Stundenvolumen) entfällt überwiegend auf die Zunahme der Arbeitsstunden der bereits Beschäftigten und konzentriert sich auf Frauen in Paarhaushalten; die Zunahme der Erwerbsbeteiligung ist auch bei in Paarhaushalten lebenden Frauen gering und insgesamt vernachlässigbar. Was ist und was bleibt zu tun? Die geplante Steuerreform entlastet somit zwar die Einkommen, die oberhalb der Besteuerungsgrenze liegen, und sie bringt über die Negativsteuer einige Verbesserungen für Personen mit niedrigem Einkommen, sofern sie keine Transferempfänger sind (etwa weil sie in Haushalten mit Personen mit höherem Einkommen zusammenleben). Sie leistet aber keinen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Arbeitsanreize im unteren Einkommensbereich. Eine echte Reform müsste zunächst die längst überfällige Strukturvereinfachung vornehmen und die begünstigte Besteuerung des 13./14. Monatsgehalts abschaffen bzw. in den Tarif integrieren. Sollen darüber hinaus die Arbeitsanreize erhöht werden, darf sich die Reform nicht auf eine Steuertarifreform alleine beschränken. Zumindest wären auch die Bedarfsorientierte Mindestsicherung sowie die Notstandshilfe zu integrieren um zumindest für geringe Einkommen die Arbeitsanreize via reduzierter Transferentzugsraten zu erhöhen. Realisierbar wäre letzteres etwa durch eine höher dimensionierte Negativsteuer. Auch wenn die gegenständliche Reform die Arbeitsanreize kaum verändern wird, von der Reform kaum Wachstumsimpulse ausgehen werden und damit die erhoffte Selbstfinanzierung der Reform wohl Wunschvorstellung bleibt, sollte die Reform nicht klein geredet werden. Vielmehr sollte diese grundsätzlich positiv aufgenommen und als Startpunkt zu weiteren Reformen gesehen werden. Seite 4 Sperrfrist: Die Presse Zeichen (inkl. Leerzeichen): 10.285 (Fließtext exkl. Tabelle und Fußnoten: 9.113) Alle Rechte vorbehalten. Eine auch nur auszugsweise Wiedergabe ist nur mit genauer Quellenangabe gestattet! Seite 5 Abbildung 1: Grenzbelastungen mit/ohne Sozialtransfers monatl. Nettoeinkommen nach Reform 5 10 15 20 0 monatl. Nettoeinkommen vor Reform 25 30 35 40 a) Alleinstehend ohne Kind, mit ALG-Anspruch 67% des Durchschnittslohns monatl. Nettoeinkommen 1.800 € 1.500 € 1.200 € 900 € 600 € 300 € - € 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Wochenstunden b) Alleinstehend ohne Kind, mit BMS-Anspruch 67% ddes Durchschnittslohns monatl. Nettoeinkommen 1.800 € 1.500 € 1.200 € 900 € 600 € 300 € - € 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Wochenstunden Seite 6 c) Alleinstehend ohne Kind, ohne Leistungsanspruch 100% des Durchschnittslohns 2.400 € monatl. Nettoeinkommen 2.100 € 1.800 € 1.500 € 1.200 € 900 € 600 € 300 € - € 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Wochenstunden monatl. Nettoeinkommen nach Reform monatl. Nettoeinkommen vor Reform Seite 7
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