Ex_US-Geheimdienstchef über den IS und die

"Wir waren zu dumm"
Ex-US-Geheimdienstchef über den IS
29. November 2015 / Ein Interview von Matthias Gebauer und Holger Stark
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AP
Kämpfer des "Islamischen Staat" in Rakka, Irak (Archiv)
Ohne den Irakkrieg würde es den "Islamischen Staat" heute nicht
geben - das gibt der damalige Chef der Special Forces, Mike Flynn,
zu. Hier erklärt er, wie der IS sich professionalisierte und warum
er dessen Chef Baghdadi laufen ließ.
Zur Person
Michael Flynn, 56, diente mehr als 30 Jahre in der US-Armee, zuletzt als
Chef des Militärgeheimdienstes DIA. Zuvor war er stellvertretender Geheimdienstkoordinator der US-Regierung. Von 2004 bis 2007 war er in Afghanistan und dem Irak stationiert, als Kommandeur der US-Spezialkräfte
jagte er im Irak den Top-Terroristen Abu Mussab al-Sarkawi, einen der
Vorgänger des heutigen Chefs des "Islamischen Staats", Abu Bakr alBaghdadi. Nachdem Flynns Männer Sarkawi lokalisiert hatten, wurde
Sarkawi im Juni 2006 durch einen US-Luftschlag getötet. Matthias Gebauer und Holger Stark trafen Flynn bei Washington zum Interview.
SPIEGEL ONLINE: In den vergangenen Wochen hat der "Islamische
Staat" (IS) nicht nur Anschläge in Paris verübt, sondern auch im Libanon
und gegen ein russisches Passagierflugzeug auf dem Sinai. Was hat die
Organisation bewogen, nun auch international zu operieren?
Flynn: Es gab jede Menge strategische und taktische Warnungen und Berichte. Der IS selbst hat gesagt, er plane im Ausland Anschläge. Die Leute
haben die Warnungen nur nicht ernst genommen. Als ich von Paris hörte,
dachte ich: Oh, Gott, jetzt geht es wieder los - und wir waren nicht aufmerksam genug.
Die Veränderung, um die wir uns mehr kümmern sollten, ist, dass es in
Europa mittlerweile in jedem Land eine eigene Führungsstruktur gibt. Das
gilt wohl auch für die USA, auch wenn wir es noch nicht erkennen können.
SPIEGEL ONLINE: Sie meinen eine Art regionale Führung, mit eigenen
Emiren?
AP
US-General Mike Flynn: "Der Irakkrieg war ein riesiger Fehler"
Flynn: Genau. Schon Osama Bin Laden redete von Diversifizierung, von
einer breiten Aufteilung. Operiere in kleineren, dezentralen Einheiten, mit
denen es leichter ist, zu agieren, die aber schwerer aufzuspüren sind. In
Paris waren es acht Leute, in Mali zehn. Nächstes Mal reichen vielleicht ein
oder zwei.
SPIEGEL ONLINE: Kann ein solcher Anschlag ohne Koordination und Autorisierung aus Syrien erfolgt sein?
Flynn: Natürlich. Wir dürfen nicht den Fehler machen, in westlichem Denken verhaftet zu sein. Ich halte es für sehr gut möglich, dass ein 30Jähriger nach Diskussionen mit der Führung nach dem Training den Auftrag erhält, etwas im Namen seiner Religion zu tun. Die Ziele sucht er
dann selbst aus, organisiert ein Angreifer-Team und schlägt zu.
SPIEGEL ONLINE: An der Spitze des IS steht der selbst ernannte Kalif
Abu Bakr al-Baghdadi. Was für eine Art Führer ist er?
Flynn: Ich halte es für entscheidend, die Unterschiede zu Osama Bin Laden oder Aiman al-Sawahiri zu verstehen. Bin Laden und Sawahiri saßen
in ihren Videos stets im Schneidersitz vor einer Flagge, mit einer AK-47 im
Schoß. Sie präsentierten sich als Krieger.
Baghdadi hingegen inszeniert sich in einer großen Moschee in Mossul, auf
dem Balkon, wie der Papst. Er trat in einer schwarze Robe auf, als heiliger
Gelehrter und deklarierte das Kalifat. Das war ein sehr, sehr symbolischer
Auftritt, der den Kampf auf eine neue Ebene gehoben hat, von einer militärischen, taktischen und lokalen Auseinandersetzung zu einem religiösen
und globalen Krieg.
SPIEGEL ONLINE: Was würde sich ändern, wenn Baghdadi getötet würde?
Flynn: In der Vergangenheit haben wir immer gesagt: Lasst uns die Führer ausschalten, der Nachfolger wird nicht so gut sein. Das hat nicht funktioniert. Baghdadi ist besser als Abu Mussab al-Sarkawi, und Sarkawi war
bereits besser als Bin Laden.
SPIEGEL ONLINE: Durch Baghdadis Tod würde sich also nicht viel ändern?
Flynn: Überhaupt nicht. Er könnte sogar jetzt tot sein, vielleicht ist er es
bereits, man hat ihn ja länger nicht in der Öffentlichkeit gesehen. Ich hätte Bin Laden und Sarkawi viel lieber gefangen genommen als getötet, weil
man ihnen einen Gefallen tut, wenn man sie umbringt. Sarkawi war ein
wildes Tier, das den Rest seines Leben in einer Zelle hätte verbringen sollen. Durch das Töten macht man sie zu Märtyrern. Das werden wir im
Westen nie ganz verstehen.
SPIEGEL ONLINE: Was macht Baghdadi anders als sein Vor-Vorgänger
Sarkawi, der al-Qaida im Irak zwischen 2003 und 2006 anführte?
Flynn: Sarkawi hat sich zwar um ausländische Kämpfer bemüht, aber
selbst zu seinen Hochzeiten kamen nicht mehr als 150 pro Monat aus einem Dutzend Ländern. Baghdadi zieht bis zu 1500 ausländische Kämpfer
pro Monat an, aus mehr als hundert Ländern. Er nutzt die modernen Waffen des Informationszeitalters in einer grundsätzlich anderen Art, um online die Attraktivität seiner Ideologie zu steigern. Der zweite Punkt ist die
Auswahl der Ziele. Sarkawi war brutal, er hat beliebig Menschen im Stadtzentrum von Bagdad in die Luft gesprengt, die sich beispielsweise auf der
Suche nach Arbeit in einer Schlange auf der Straße angestellt hatten.
Baghdadi ist viel smarter und präziser in seiner Zielauswahl, aber trotzdem sehr bösartig.
SPIEGEL ONLINE: Wer entscheidet über die militärischen Operationen?
Flynn: Al-Baghdadi oder der aktuelle Führer hat sicherlich einen Zugriff
auf die militärischen Operationen, aber die Organisation hat sehr flache,
netzwerkartige militärische Strukturen.
In Syrien, dem Irak und der Levante gibt es unterhalb von Baghdadi Untergebene, die für die militärischen, logistischen und finanziellen Operationen verantwortlich sind, das sind Ägypter, Saudis, Tschetschenen, Dagestani, Amerikaner und Europäer. Wir wissen aus Verhören, dass Rakka in
internationale Zonen unterteilt ist, in denen es Dolmetscher gibt, um die
Kommunikation zu gewährleisten. Das alles erfordert eine militärartige
Struktur und Führung.
SPIEGEL ONLINE: Wie lässt sich dieser Gegner bekämpfen?
Flynn: Die traurige Wahrheit ist, dass wir Soldaten am Boden einsetzen
müssen. Wir werden den Feind nicht aus der Luft besiegen. Zuerst gilt es,
dem IS sein Territorium wegzunehmen, dann für Sicherheit und Stabilität
zu sorgen, die Flüchtlinge müssen ja in ihre Heimat zurückkehren. Natürlich wird das nicht schnell gehen, wir müssen die gesamte Führung des IS
finden und ausschalten, ihr Netzwerk zerstören und ihre Finanzflüsse
stoppen - und dort auch bleiben, bis Normalität eingekehrt ist.
SPIEGEL ONLINE: Dafür müsste der Westen mit den Russen kooperieren.
Flynn: Wir müssen jetzt konstruktiv mit Moskau zusammenarbeiten.
Russland hat sich entschieden, in Syrien militärisch zu handeln, und das
hat die Lage dramatisch verändert. Wir können nicht mehr sagen, dass
Russland böse ist und sich zurückziehen soll. Das wird nicht passieren,
seien wir realistisch. Schauen sie sich die letzten Tage an. Da kommt der
französische Präsident Hollande nach Washington und bettelt um militärische Hilfe. Als Amerikaner finde ich das merkwürdig. Wir als USA müssten
schon längst bei ihm gewesen sein und ihm Unterstützung angeboten haben, weil er angegriffen wurde. Nun geht er nach Moskau und versucht es
dort.
SPIEGEL ONLINE: Eine westliche Militärintervention birgt die Gefahr,
dass sie in der Region als ein neuer Eroberungsfeldzug des Westens angesehen würde.
Flynn: Deswegen brauchen wir die Araber als Partner, sie müssen das
Gesicht der Operation sein - auch wenn sie heute dazu nicht in der Lage
sind, das können nur die USA tun. Wir wollen Syrien nicht erobern oder
einnehmen. Unsere Botschaft muss sein, dass wir helfen wollen und wieder gehen werden, sobald die Probleme gelöst sind. Die arabische Welt
muss Teil dieser Strategie sein. Wir müssen sie einbinden. Und wenn wir
sie erwischen, Kuwait zum Beispiel, dass sie weiter den IS finanzieren,
müssen wir sie mit Sanktionen und anderen Aktionen bestrafen.
SPIEGEL ONLINE: Im Februar 2004 hatten Sie Abu Bakr al-Baghdadi bereits einmal in ihren Händen, als er festgenommen und in ein Gefangenenlager im Irak überstellt wurde. Doch eine US-Militärkommission stufte
ihn im Dezember 2004 als unbedenklich ein, er wurde entlassen. Wie
konnte es zu diesem fatalen Fehler kommen?
Flynn: Wir waren zu dumm. Damals haben wir nicht verstanden, mit wem
wir es zu tun hatten. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war
unsere emotionale Reaktion zu fragen: "Woher kamen die Bastarde? Lasst
sie uns töten!" Anstatt zu verstehen, warum sie angegriffen haben, haben
wir nach dem Wo gefragt: Woher kamen die Attentäter? Dabei sind wir
strategisch in die falsche Richtung marschiert.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind im Irak einmarschiert, obwohl Saddam
Hussein nichts mit 9/11 zu tun hatte.
Flynn: Zuerst sind wir nach Afghanistan gegangen, wo al-Qaida war. Danach sind wir in den Irak gezogen. Anstatt uns zu fragen, warum es dieses
Phänomen gibt, haben wir nach Orten gesucht. Diese Lektion müssen wir
lernen, um nicht immer wieder die gleichen Fehler zu machen.
SPIEGEL ONLINE: Den IS gäbe es nicht, wenn die Amerikaner
nicht 2003 in Bagdad eingefallen wären. Bedauern Sie…
Flynn: …ja, absolut…
SPIEGEL ONLINE: …den Irakkrieg?
Flynn: Das war ein riesiger Fehler. So brutal Saddam Hussein
war - ihn nur zu eliminieren, war falsch. Das Gleiche gilt für
Gaddafi und Libyen, das heute ein failed state ist. Die große
historische Lektion lautet, dass es eine strategisch unglaublich
schlechte Entscheidung war, in den Irak einzumarschieren. Die
Geschichte sollte und wird über diese Entscheidung kein mildes
Urteil fällen.