Rede zum Volkstrauertag 2015 Sehr verehrte Damen, sehr verehrte

Rede zum Volkstrauertag 2015
Sehr verehrte Damen, sehr verehrte Herren,
„Mama, was ist der Volkstrauertag?“ wollten meine Kinder wissen, als ich
Ihnen erzählt habe, dass ich dieses Jahr die Ansprache bei der
Isenburger Gedenkstunde halten darf.
Ja, was ist der Volkstrauertag?
Brauchen wir ihn?
Müssen steife Gedenkveranstaltungen heute noch sein? Sind diese
sogenannten stillen Tage nicht langsam out?
Der Volkstrauertag ist ein Gedenktag, mit dem viele Menschen in
unserer heutigen Gesellschaft nichts mehr anzufangen wissen, weil sie
den Sinngehalt dieses Tages nicht kennen.
Nicht nur junge Menschen haben mit diesem Tag große Schwierigkeiten,
weil ihnen der Sinn nicht klar ist. Volkstrauertag hat irgendetwas
mit Krieg, mit Soldaten, mit Schicksalen, mit den Erlebnissen einer
anderen Generation, mit Vergangenem, mit Tod und Trauer zu tun, so
lauten viele Antworten auf die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung
des Volkstrauertages.
Stimmen diese Antworten denn nicht?
Haben wir etwas in dieses neue Jahrhundert mitgenommen, was
eigentlich Geschichte des vergangenen Jahrhunderts sein sollte?
Brauchen wir, nachdem wir zum Glück so lange keinen Krieg in unserem
eigenen Land hatten, überhaupt noch einen Volkstrauertag?
Sollten die offiziellen Gedenkstunden nicht doch lieber abgeschafft
werden? Belastet uns und vor allem die jüngere Generation, die den
Krieg nicht mehr erlebt hat, dieses Erbe nicht zu stark?
Müssen wir immer wieder aufs Neue die Schuldfrage der Deutschen
diskutieren? Warum blicken wir nicht lieber in die Zukunft, wo unsere
Chancen liegen?
Ist der Volkstrauertag tatsächlich etwas Altmodisches,
Verstaubtes und Vergangenes, der in unserem Jahrhundert keinen Platz
mehr hat?
Das sind sicherlich Fragen, die sich viele stellen, die sich nicht näher mit
dem Volkstrauertag beschäftigt haben und seine Bedeutung nicht
kennen.
Bedenkt man aber, dass niemals in der Geschichte der Menschheit so
viele Menschen Opfer von Kriegen, brutaler Gewalt und
Terroranschlägen geworden sind wie im vergangenen und diesem
Jahrhundert, stellt sich die Frage vielleicht anders.
Über 55 Millionen Menschen starben allein im Zweiten Weltkrieg.
Mit den heutigen Massenvernichtungswaffen könnten in kürzester Zeit
noch mehr Menschen getötet werden. Darüber nachzudenken
verdrängen wir doch lieber, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind….
Der Volkstrauertag ist notwendig, gibt er doch den Menschen die
Möglichkeit, inne zu halten, sich wieder einmal die Folgen von Krieg und
Gewalt zu vergegenwärtigen, die eigene Haltung zu überdenken und an
die Verantwortlichen, die Politiker und jeden Einzelnen zu appellieren,
andere Wege einer Konfliktlösung zu finden.
Der Volkstrauertag unserer Zeit ist kein Heldengedenktag, denn nicht
Kriegshelden stehen im Mittelpunkt, sondern alle Opfer von Krieg und
Gewalt, in der Vergangenheit und Gegenwart.
Die schrecklichen Ereignisse in Paris am vergangenen Freitag machen
diesen Tag aktueller denn je.
129 Menschen sind dem Terror zum Opfer gefallen, 352 Menschen
wurden verletzt. Und das 571 km von uns entfernt!
Aus der Trauer um die Opfer entsteht die Verpflichtung, alles zu tun,
damit nicht erneut Menschen Opfer von Kriegen, Gewalt und Terror
werden.
Die demokratische westliche Welt muß sich geschlossen gegen
Terroristen stellen, die eine Religion als Rechtfertigung zum Morden
missbrauchen.
Gegen Terror hilft nur Entschlossenheit und Einigkeit.
Wenn man an die Bilder denkt, wo man das Brandenburger Tor, das
neue World Trade Center, das Opernhaus in Sydney, die Klagemauer
und noch viele andere Orte in der Welt in Blau-Weiss-Rot erstrahlen
sieht, macht diese Anteilnahme Hoffnung.
Der diesjährige Volkstrauertag steht unter dem Motto „70 Jahre Ende
Zweiter Weltkrieg“.
Der Zweite Weltkrieg begann am 1. September 1939 um 4.45 Uhr. Er
endete in Europa am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr, in Asien am 2.
September 1945 um 9.25 Uhr.
Er dauerte sechs Jahre und einen Tag. Oder 2 194 Tage, oder 52 641
Stunden.
Durch den Krieg verloren 55 Millionen Menschen ihr Leben. Als
Soldaten, als Opfer des Luftkrieges, als Flüchtlinge und Vertriebene, als
Opfer der Gewaltherrschaft aber auch als Deserteure, Regimegegner
und als getötete KZ-Opfer.
Die Zahl 55 Mio entspricht in sechs Kriegsjahren 17 Menschen pro
Minute – alle drei Sekunden ein Opfer!
Nicht zu vergessen gilt es die 1,3 Mio Soldaten, die noch immer vermisst
werden und über deren Schicksal ihre Familien nie etwas erfahren
haben.
Dieses unsagbare Leid darf sich nicht wiederholen. Wir müssen alles
daran setzen, dass ein derartiges Unrecht nicht noch einmal geschehen
kann.
Markus Meckel, Präsident des Volksbundes Deutsche
Kriegsgräberfürsorge e. V., schreibt in seinem Geleitwort zum
Volkstrauertag 2015 folgende Zeilen:
„Sind wir also, wenn wir der Kriegstoten des 20. Jahrhunderts gedenken,
in einer weit zurückliegenden Vergangenheit, die uns ohne
Berührungspunkte zum Hier und Jetzt nicht mehr ängstigen muss? Die
Schreckensbilder in den Abendnachrichten machen rasch deutlich, dass
die Welt auch heute nicht vom Frieden regiert wird und Menschen nach
wie vor unter Hunger, Krieg und Verfolgung leiden. So sind unsere
Gedanken in diesem Jahr auch bei den Menschen im Irak und in Syrien,
im Nahen Osten und in der Ukraine, bei allen Opfern von Konflikten auf
dieser Welt. Um die Fehler von gestern heute und in der Zukunft nicht
wieder zu machen, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Indem wir die
Toten und die Orte des Schreckens nicht vergessen, wird ein
unerlässlicher Beitrag zum Frieden und zur Demokratie in der
Gegenwart geleistet.
Mit dem Sieg von Freiheit und Demokratie in den weitgehend friedlichen
Umbrüchen vor 25 Jahren begann ein neues Zeitalter für Europa. Indem
wir an diejenigen erinnern, denen diese universellen Werte nicht
zuteilwurden, unterstreichen wir ihre Bedeutung als ein hohes und
schützenswertes Gut. „
Ich habe in den letzten Wochen viel über den Krieg, Vertreibung,
Antisemitismus und Flucht gelesen und nachgedacht. Umso mehr kam
ich wieder auf die einleitenden Fragen zurück, ob wir den Volkstrauertag
heute noch brauchen: Die Antwort ist ein klares lautes JA!
Wenn unsere beiden Kinder, und alle Kinder mit ihnen, in Frieden
weiterleben sollen, dann müssen sie schon früh verstehen, dass Krieg
nichts mit Videospielen oder Rambofilmen zu tun hat, sondern dass
Krieg echt ist und echte Menschen leiden oder sogar sterben.
Ich bin Gott dankbar, dass Alexander und Katharina nicht wissen, was
Hunger ist und wie sich Kälte in Luftschutzbunkern anfühlt! Ich bete
dafür, dass sie es auch nie wissen werden. Und ich ermutige sie stets,
auch NEIN zu sagen, wenn sie etwas für falsch halten, Schwächeren zu
helfen und nicht anderen nachzulaufen oder anderen alles nachzureden.
Was können Eltern sonst noch tun, außer zu betonen, welch ein Glück
wir haben, in Deutschland im 21. Jahrhundert zu leben? Die Realität in
vielen anderen Ländern ist leider eine andere…..
Meine Damen und Herren, Erinnerungen gehören zu unserer
individuellen und nationalen Identität. Erinnerungen an Geschehnisse
und Personen sind es, die uns prägen.
Erinnerungen an unsere eigene Geschichte beeinflussen das politische
Handeln und den verständnisvollen Umgang mit unseren ehemaligen
Kriegsgegnern und Opfern.
Diese Erinnerung an unsere Vergangenheit darf daher niemals aus
unserem persönlichen und nationalen Denken und Gedächtnis
verschwinden!
Am 20.12.1943 traf ein Bombenangriff unsere Stadt.
Die ev. Reformierte Kirche am Marktplatz wurde zerstört, ebenso viele
schöne alte Häuser im Ortskern. 46 Menschen starben in dieser Nacht,
5.000 wurden obdachlos. In der Publikation des GHK „Eine Nacht des
Schreckens“ schildern Neu-Isenburger ihre Erlebnisse während des
Bombenangriffs am 20.12.1943.
Die Schilderungen von Frau Hildegard Lindemann, geborene Chantrè,
möchte ich mit Ihnen teilen:
Vorlesen Seite 17
Es ist eine biologische Tatsache, dass die Kriegsgeneration stirbt und
mit ihr verschwindet die persönliche Erinnerung. Junge Menschen der
heutigen Zeit – die Enkel und Urenkel dieser Generation – können sich
durch Fragen an die Zeitzeugen kein eigenes Bild mehr machen.
Ihr Wissen haben sie aus Büchern, Filmen oder Erzählungen. Sie haben
die damalige Zeit, die Not, die Zwänge, die damalige Werteordnung und
die Hierarchie der Nationalsozialisten mit dem „Führer“, der auch
„Anführer“ und Symbolfigur eines ganzen Volkes war, nicht erlebt.
Er war das „Idol“ vieler, wie man im heutigen Sprachgebrauch sagen
könnte. Aufarbeitungsarbeit ist auch für junge Menschen notwendig und
wichtig, um daraus für die eigene Gegenwart und Zukunft zu lernen.
Dank des GHK`s haben wir die große Chance, in Büchern wie „Eine
Nacht des Schreckens“ oder „Ende und Anfang“ zu lesen, wie es wirklich
war. Schicksale bekommen so ein Gesicht und werden greifbar.
Meine Damen und Herren, der Zweite Weltkrieg endete für Neu-Isenburg
am Mittag des 26.03.1945. Von Sprendlingen kommend, rückten
Amerikanische Panzereinheiten ungehindert in die Gemeinde ein und
besetzten das Stadthaus.
Nach Augenzeugenberichten hatten zuvor mutige Bürger durch beherzte
Appelle einen Verteidigungseinsatz und die bereits von NS-Funktionären
vorbereitete Sprengung des Elektrizitäts- und Wasserwerks verhindert.
Nach den schrecklichen Bombenangriffen der vergangenen Monate
konnte so weiteres Blutvergießen und zusätzlicher Schaden vermieden
werden.
Der Zusammenbruch des nationalistischen Deutschland und das Ende
des Zweiten Weltkriegs sind historische Ereignisse, die tief in das Leben
der Deutschen einschnitten. Der totale Krieg hatte zur totalen Niederlage
geführt.
Die Jahre nach Kriegsende sind vielen Menschen als eine Zeit der Not
und Entbehrung in Erinnerung geblieben. Der Rückblick auf die Zeit
zwischen 1945 und 1948 ist mit den Begriffen Hunger, Not, Besatzung,
Entnazifizierung und Zwangswirtschaft verknüpft.
Die Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren nicht zuletzt
die entscheidende Periode des politischen und gesellschaftlichen
Aufbruchs der Deutschen in die Demokratie. In dieser Zeit wurden die
wichtigsten Grundlagen für unseren heutigen parlamentarischdemokratischen Bundesstaat geschaffen.
Ein entscheidendes Problem der Jahre nach 1945 war die Wohnungsnot
in den Städten, hervorgerufen durch die Bombenangriffe der Alliierten.
Die Beschlagnahmung von Wohnraum durch die Besatzungstruppen und
der Zustrom von Flüchtlingen und Vertriebenen aus Polen, der
damaligen CSSR und Ungarn nach Hessen kamen, verschärften die
Situation zusätzlich.
1952 zählte man in Hessen 750.000 Heimatvertriebene, das waren 17%
der hessischen Bevölkerung. Hinzu kamen noch einmal 20.000
Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone. Die insgesamt
freundliche und hilfsbereite Aufnahme der Flüchtlinge war eine große
Solidaritätsleistung der Hessen.
Der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen in Neu-Isenburg lag 1950 bei
7,8%, im Jahr 1961 bereits bei 16%. Den Heimatvertriebenen ist sogar
ein Ehrenmal auf dem Alten Friedhof gewidmet.
Die Integration der „Neubürger“ verlief in unserer Stadt ohne größere
Reibungen.
In dem Historischen Lesebuch „Ende und Anfang“ berichtet Berta Parsch
von ihrem Weg aus Nordböhmen nach Neu-Isenburg. Gerne möchte ich
Sie mit auf ihre Reise nehmen:
Vorlesen Seite 238
Und an dieser Stelle, sehr verehrte Damen und Herren, sind wir wieder
am Punkt „Was geht uns die „alte“ Geschichte heute noch an?“
Wenn wir hören, wie die Ostdeutschen mit dem Verlust ihrer Heimat und
ihres Eigentums für das Grauen des Naziregimes büßen mußten,
werden unsere Gedanken doch automatisch auf die aktuelle Situation in
der Welt gelenkt:
Weltweit sind aktuell knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor
Kriegen, Konflikten und Verfolgung.
Diese Entwicklung begann 2011 mit dem Ausbruch des Krieges in
Syrien, der mittlerweile weltweit die größten Fluchtbewegungen
verursacht hat.
Weiterhin zeigt der aktuelle Bericht des Flüchtlingswerks der Vereinten
Nationen auf, dass in allen Regionen sowohl die Zahl der Flüchtlinge als
auch der Binnenvertriebenen steigen.
In den letzten fünf Jahren sind mindestens 15 neue Konflikte
ausgebrochen oder wieder aufgeflammt: Acht davon in Afrika, drei im
Nahen Osten, einer in Europa (Ukraine) und drei in Asien.
Nur wenige Krisen konnten beigelegt werden, die Mehrzahl verursacht
weiterhin Flucht und Vertreibung. So konnten vergangenes Jahr nur
126.800 Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren – die niedrigste Anzahl
seit 31 Jahren.
Jahrzehntelange Instabilität und Konflikte in Afghanistan, Somalia und
anderswo bedeuten, dass Millionen von Menschen weiterhin nicht
zurückkehren können und immer häufiger als Flüchtlinge und
Binnenvertriebene mit ungewisser Zukunft an den Rändern der
Gesellschaft leben müssen.
In der vergangenen Woche legten die sogenannten Wirtschaftsweisen
ihr Jahresgutachten vor. Die zentrale Aussage lautete: Deutschland kann
die Herausforderungen der Flüchtlingskrise stemmen. Demnach dürften
auch die bisher absehbaren Ausgaben verkraftbar sein.
Eine erfolgreiche Integration erfordere erhebliche Bildungs- und
Qualifikationsanstrengungen, schreiben die Autoren in dem fast 500
Seiten dicken Werk.
Also sollten wir uns vor Ort und deutschlandweit weiterhin auf die
wichtigsten Aspekte bei der Bewältigung dieser großen Aufgabe
konzentrieren: Das Erlernen der Deutschen Sprache und Menschlichkeit!
Und bitte lassen Sie es nicht zu, dass nun jedem Flüchtling, der bei uns
Schutz sucht, unterstellt wird, ein Terrorist zu sein!
In Neu-Isenburg leben aktuell 180 Flüchtlinge, die uns zugewiesen
wurden, die also bei uns bleiben werden. Etwa 700 Menschen leben in
der Erstaufnahmeeinrichtung auf dem alten Rundschaugelände, bald
werden es 1000 sein.
Aber, meine Damen und Herren, bei allem Verständnis für geäußerte
Sorgen und viele offene Fragen der Isenburger, die es ernst zu nehmen
und zu beantworten gilt: Wir können stolz und dankbar sein für das, was
zahlreiche Isenburger und so viele Ehrenamtliche für die Flüchtlinge tun!
Das in Isenburg die Stimmung positiv ist, verdanken wir zu einem großen
Teil auch ihnen!
Bundespräsident Joachim Gauck hat sich anlässlich des ersten
bundesweiten Gedenktages für die Opfer von Flucht und Vertreibung im
Juni genau mit dieser Thematik befaßt, nämlich dem Bezug von damals
zu heute.
Lassen Sie mich Ihnen einige Auszüge aus seiner Rede vorlesen:
„….Zum ersten Mal gedenkt nun Deutschland an einem offiziellen
bundesweiten Gedenktag jener Millionen von Deutschen, die am Ende
des Zweiten Weltkrieges zwangsweise ihre Heimat verloren.
Zum ersten Mal begeht Deutschland damit auch regierungsamtlich den
internationalen Weltflüchtlingstag, wie er vor fünfzehn Jahren von der
Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde.
Auf eine ganz existenzielle Weise gehören sie nämlich zusammen – die
Schicksale von damals und die Schicksale von heute, die Trauer und die
Erwartungen von damals und die Ängste und die Zukunftshoffnungen
von heute.
Ich wünschte, die Erinnerung an die geflüchteten und vertriebenen
Menschen von damals könnte unser Verständnis für geflüchtete und
vertriebene Menschen von heute vertiefen. Und umgekehrt: Die
Auseinandersetzung mit den Entwurzelten von heute könnte unsere
Empathie mit den Entwurzelten von damals fördern.
Hunderttausende Menschen kamen durch Kriegshandlungen, Krankheit,
Hunger, Vergewaltigungen, auch durch Entkräftung und Zwangsarbeit in
der Nachkriegszeit um. Insgesamt verloren 12 bis 14 Millionen Deutsche
am Ende des Zweiten Weltkrieges durch Flucht und Vertreibung ihre
Heimat. Die Bevölkerung in jenen Gebieten, die später Bundesrepublik
Deutschland und Deutsche Demokratische Republik heißen sollten,
wuchs um nahezu 20 Prozent.
Das sollten wir uns gerade heute wieder bewusst machen: Flucht und
Vertreibung verändern nicht nur das Leben der Aufgenommenen,
sondern auch das Leben der Aufnehmenden, nicht nur das der "neuen",
sondern auch das der "alten" Bewohner eines Landes oder eines
Landstriches.
Heute weiß ich: Wer die Gefühle des anderen abwehrt, der wehrt auch
eigene Gefühle ab. Offenheit für das Leid der anderen hingegen führt zu
Verständnis, führt zu Nähe. Daran sollten wir heute auch denken, wenn
in unserem Ort, in unserem Stadtteil oder in unserer Nachbarschaft
Fremde einquartiert werden oder des Schutzes bedürfen. Verständnis für
das Leid des anderen ist eine Grundvoraussetzung mitmenschlichen
Zusammenlebens.
Vor 70 Jahren hat ein armes und zerstörtes Deutschland Millionen von
Flüchtlingen zu integrieren vermocht. Denken wir heute nicht zu klein
von uns. Haben wir Vertrauen in die Kräfte, über die dieses Land verfügt.
Wir brauchen immer auch ein Selbstbild, das uns trägt. Und wir werden
uns selbst auf Dauer nur akzeptieren können, wenn wir heute alles tun,
was uns heute möglich ist. Warum sollte ein wirtschaftlich erfolgreiches
und politisch stabiles Deutschland nicht fähig sein, in gegenwärtigen
Herausforderungen die Chancen von morgen zu erkennen?“
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen, die Bedeutung des
Volkstrauertages steht außer Frage, auch für die jüngere Generation, die
wir mitnehmen müssen auf dem Weg vom Gestern ins Morgen!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und möchte schließen mit
einem Gebet von Mutter Teresa:
„Das Gebet nützt der ganzen Welt, denn der Frieden beginnt zu Hause
und in unseren eigenen Herzen. Wie können wir Frieden in die Welt
bringen, wenn wir keinen Frieden in uns haben?“