Der Botticelli- Coup Schätze der Sammlung Hamilton im Kupferstichkabinett für das Kupferstichkabinett Staatliche Museen zu Berlin herausgegeben von Dagmar Korbacher mit Essays von Stephanie Buck und Frauke Steenbock und weiteren Beiträgen von Beatrice Alai und Georg Josef Dietz Wienand Inhalt Heinrich Schulze Altcappenberg / Ernst Vegelin van Claerbergen 11 Vorwort Frauke Steenbock 15 Die Sammlung Hamilton Dagmar Korbacher 21 »Ich bin sehr sehr glücklich daß wir ihn haben.« Botticellis Dante und die Sammlung Hamilton im Kupferstichkabinett Stephanie Buck 33 Unvollendet und autonom Botticellis »Dante auf Pergament« als gefeierte Meisterzeichnungen 44 Katalog Die Handschriften der Sammlung Hamilton 77 Das Juwel der Sammlung Hamilton 43 Die Zeichnungen Sandro Botticellis zu Dantes Göttlicher Komödie 151 Die Göttliche Komödie Frühe Illustrationen in gedruckten Ausgaben 160 Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur 167 Abbildungsnachweis Dagmar Korbacher »Ich bin sehr sehr glücklich daß wir ihn haben.« Botticellis Dante und die Sammlung Hamilton im Kupferstichkabinett I quisit schöne Zeichnungen von Sandro Botticelli« enthielt (Abb. 1).1 Alexander Douglas, Marquis von Douglas und Clydesdale (1767– 1852) (vgl. Abb. 1, S. 15), hatte – bereits bevor er 1819 der 10. Herzog von Hamilton wurde – zahlreiche bibliophile Kostbarkeiten erworben und eine ansehnliche Bibliothek zusammengestellt. Die erste Erwähnung findet diese 1819 in William Clarkes Repertorium Bibliographicum or Some Account of the Most Celebrated British Libraries.2 Darin taucht der Band bereits in der Liste der Highlights auf. Da Clarke Hamilton Palace etwa drei Jahre zuvor besucht hatte, muss der Marquis den Codex vor 1816/1817 erworben haben. Aufgrund der Inhaltsbeschreibung, die vorn in den Band, in dem sich die Zeichnungen damals (und bis zu ihrer Ankunft in Berlin) befanden, eingeklebt ist (Abb. 2), können wir die Spur von Botticellis Commedia-Zeichnungen zurückverfolgen bis zu Giovanni Claudio Molini (1724 –1812). Der gebürtige Florentiner hatte diese am 27. April 1803 in Paris verfasst, wo er seit 1765 als imprimeur-libraire m Jahr 1882 gelang den Berliner Museen ein beispielloser Coup: Sie konnten nahezu die gesamte, über 700 wertvolle Handschriften umfassende Bibliothek des Herzogs von Hamilton en bloc noch vor der bereits angesetzten Auktion erwerben. Dieses Ereignis ist einzigartig in der Geschichte des Kunstsammelns, des Kunsthandels und der Ankaufspolitik der Museen. Doch was bewog die preußische Regierung dazu, die riesige Summe von anderthalb Millionen Goldmark aufzubringen? Warum war es ein Kunstmuseum – das Kupferstichkabinett –, das den Erwerb dieser Bibliothekssammlung maßgeblich in die Wege leitete und vorantrieb? Und was machte gerade die Sammlung Hamilton von allen hochkarätigen Handschriftensammlungen in England, die damals auf den Markt kamen, so überaus begehrenswert? Die Antwort auf all diese Fragen ist einfach: Es ging vor allem um einen einzigen Codex, den unter Losnummer 201 auf Seite 31 des zwar gedruckten, aber nie ausgelieferten Auktionskataloges verzeichneten Bandes (»Dante Alighieri, Commedia«), der laut Beschreibung »88 ex- Abb. 1 Losnummer 201 im annotierten Auktionskatalog The Hamilton Palace Libraries. The Hamilton Collection of Manuscripts, Sotheby, Wilkinson & Hodge (Berlin, Bibliothek des Kupferstichkabinetts, Staatliche Museen zu Berlin) Abb. 2 Inhaltsangabe des Codex Hamilton 201, verfasst von Giovanni Claudio Molini, Paris, 27. April 1803 (Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Cim. 33) 21 1 Bibel (sogenannte Hamilton-Bibel) Neapel, 14. Jahrhundert (1350er-Jahre), geschrieben von Magister Johannes de Ravenna, illuminiert von Cristoforo Orimina Handschrift auf Pergament, 37,5 x 26,5 cm; 497 Bll. (Gewebeeinband, roter Samt, vergoldete Silberbeschläge, 41,0 x 29,5 x 13,0 cm) Provenienz: Familie Beaufort, Avignon; Papst Leo X., Rom; Königin Christina von Schweden (?); Sammlung Hamilton, Hamilton Palace (Ms. 85); 1882 für das Kupferstichkabinett erworben (78 E 3) D ie Hamilton-Bibel ist eine der berühmtesten Handschriften der Neapolitaner Buchmalkunst um die Mitte des 14. Jahrhunderts; geschrieben wurde sie vom Kopisten Magister Johannes de Ravenna, der sie auf Seite 497v signiert hat. Verschiedene Seiten tragen die Wappen der Familie Beaufort, dessen berühmtester Spross Pierre Roger etwa zu der Zeit, als das Werk entstand, als Papst Clemens VI. (1342 –1352) amtierte. Traditionell wurde die Bibel daher als Geschenk der Königin Johanna I. von Anjou an den Papst angese- hen, wegen ihrer Verbindungen zu den Beaufort, denen sie die Herrschaft über die Stadt Avignon verlieh. Gleichwohl tragen die Wappen im Codex keine Spur eines Hinweises, weder auf das Pontifikat noch auf die Kardinalswürde von Beaufort, was vermuten lässt, dass der Codex ganz allgemein für die Familie Beaufort in Auftrag gegeben wurde. Es ist wahrscheinlich, dass die Bibel mit der Rückkehr des Papstsitzes von Avignon nach Rom 1376 dank des Bruders von Papst Clemens VI., Bertrand Beaufort, ebenfalls in die Ewige Stadt gelangte. Im 16. Jahrhundert war sie jedenfalls im Besitz von Papst Leo X., wie uns das berühmte Bildnis von der Hand Raffaels bezeugt, auf dem der Papst in Gesellschaft der Kardinäle Giulio de’ Medici und Luigi de’ Rossi dargestellt ist (Florenz, Galleria degli Uffizi, ca. 1518). Auf dem Gemälde ist die Bibel dargestellt, wie sie auf Seite 400v am Beginn des Johannesevangeliums aufgeschlagen ist. Die Einzigartigkeit der Bibel liegt in ihrer überreichen, geradezu luxuriösen Bilderausstattung: Sie ist geschmückt mit zahlreichen figurierten Initialen, vier ganzseitigen Darstellungen und weiteren 36, die drei Viertel einer Seite einnehmen, organisiert nach Art von Vignetten, wie beispielsweise die in 16 Szenen unterteilte Miniatur mit Darstellungen der Schöpfungsgeschichte zeigt (Seite 4r; Abb.). Sie stehen am Beginn beinahe aller Bücher der Bibel, des Zwölfprophetenbuchs und der Briefe. Das komplexe Zusammenspiel des Seitenlayouts, in der sich Text und Bild einträchtig und gleichberechtigt zusammenfinden, lässt vermuten, dass es eine enge Zusammenarbeit zwischen Schreiber und Buchmaler gab. Letzterer musste darüber hinaus auch den Anregungen des Auftraggebers folgen, für den die Bibel eine Art Selbstlob und zugleich ein politisches Manifest darstellte: Dies wird im Frontispiz deutlich, auf dem in den vier Ecken und am oberen Rand die Wappen der Beaufort dargestellt sind, während in der Initiale F der hl. Ambrosius mit Bischöfen und Mönchen im Gebet gezeigt ist und darunter die Madonna mit Engeln und Propheten. Auf diese Weise wird eine Verbindung zwischen der päpstlichen Familie und der Kirche erklärt, die durch Gott sanktioniert ist. Die Bibel, die Heilige Schrift, nahm so eine emblematische Bedeutung an, die darauf zielte, die Macht ihres Besitzers zu untermauern. Das Berliner Exemplar ist das Werk des Neapolitaner Malers und Buchmalers Cristoforo Orimina, dessen Raffael, Bildnis von Papst Leo X. mit den Kardinälen Giulio de’ Medici und Luigi de’ Rossi, ca. 1518, Öl auf Holz (Florenz, Galleria degli Uffizi, Inv.-Nr. Palatina 40) 46 47 Niccolò Mangona, Text von Dante Alighieri, Commedia, Paradiso XXX (Pergamentbogen ohne Zeichnung auf der Vorderseite), um 1490 –1500 (Berlin, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Botticelli Paradiso XXXI) besser nachkommen konnte.10 Eine solche Öffentlichkeit hatte Botticelli ihnen wohl ursprünglich niemals zugedacht, in ihrer Feinheit bedürfen die Zeichnungen der konzentrierten Betrachtung aus nächster Nähe. Wir sollten heute davon ausgehen, dass sie – wohl etwa wie in Peter Dreyers Rekonstruktionsvorschlag im Faksimile – nicht lose oder gar gerahmt, sondern in einem Codex gebunden waren. Dies erscheint inzwischen als überzeugendster Vorschlag, zumal eine Aufbewahrung eines solchen Konvoluts tatsächlich am besten in Buchform erfolgt. So dachte der Künstler sie wohl eher nicht als Vorzeichnungen für einen Freskenzyklus11 oder gar als tabulae, also lose Blätter, die aufgestellt werden sollten, sondern tatsächlich zusammen mit dem Text als Bilderfolge.12 Dies darf uns jedoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Botticellis Arbeit an den einzelnen Blättern auch vor allem in der Tradition und vor dem Hintergrund des technisch-konzeptuellen Entstehungsprozesses von Zeichnungen zu verstehen ist. Sie sind also nicht unbedingt in jeder Hinsicht mit den Buchmalerei-Illustrationen von Handschriften vergleichbar, auch wenn die Beschäftigung Botticellis mit der Commedia in ihrer Auseinandersetzung mit dem geschriebenen Text als ein »regelrechter Prozess der Aneignung – im Sinne von imitatio und aemulatio«13 angesehen werden muss. Den Zeichnungen liegt offenbar eine intensive, auch persönliche Beschäftigung des Künstlers mit dem Werk des Dichters zugrunde, die sicherlich Anregung fand durch den Auftraggeber Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici selbst sowie sein humanistisch geprägtes Umfeld. Dabei sucht und findet Botticelli mit dem Zeichenstift eine Bildsprache, ein »visibile parlare«14, die sich der universalen Perspektive Dantes annähert. Bild und Text sind Auftraggeber, wohl Lorenzo di Pierfrancesco de’ Medici, wie der sogenannte Anonimo Magliabechiano berichtet.6 Es ist der konkreteste Hinweis, den man mit diesem Zeichnungszyklus in Verbindung bringt: Botticelli »malte und erdachte einen Dante auf Pergament für Lorenzo di Pierfranceso de’ Medici, der eine wunderbare Sache war«7. Eine »wunderbare Sache« sind diese Zeichnungen ganz zweifellos, doch birgt das Konvolut gerade in seiner Einzigartigkeit zahlreiche offene Fragen, deren tiefere Diskussion und Beantwortung nicht Hauptgegenstand dieser Ausstellung und dieses Katalogs sein wollen. Den beiden letzten umfangreichen Publikationen des Kupferstichkabinetts, Hein-Th. Schulze Altcappenbergs Ausstellungskatalog aus dem Jahr 2000 und Peter Dreyers Kommentarband zum Faksimile von 1986, gingen jeweils ausführliche Untersuchungen der Werke und des Bandes voraus.8 Sie bleiben damit die gültigen Referenzwerke zu diesen Zeichnungen, auch wenn hier und da weitere Antworten gefunden und neue Forschungsperspektiven aufgezeigt werden können. Im Auktionskatalog der Hamilton-Sammlung und allen vorherigen Erwähnungen galt der Band mit den Zeichnungen als »Handschrift«, denn die Zeichnungen befanden sich damals gebunden in einem Einband des späten 18. Jahrhunderts (vgl. Kat.-Nr. 47).9 Dem entsprach auch ihre Zuordnung zur Bibliothek innerhalb der umfangreichen Kunstsammlung des Duke of Hamilton. Kurz nach ihrer Ankunft im Museum jedoch wurden sie diesem entnommen und in Passepartouts gespannt. Diese Aufbewahrungsform entsprach eher ihrer Präsenz in einer öffentlichen Sammlung, da man die einzelnen Werke so einfacher ausstellen und damit dem Wunsch der Öffentlichkeit, sie zu sehen, 78 Sandro Botticelli, Der Höllentrichter, um 1481–1490, Deckfarben über Feder in Braun, auf Pergament (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Reg. Lat. 1896, fol. 101r) nicht auf einem Blatt kombiniert, sondern sie nehmen, gleichberechtigt, jeweils eine ganze eigene Seite ein, wobei der Text eines gesamten Canto von einer Zeichnung begleitet wird; jedem der hundert Gesänge sollte also eine Zeichnung beigegeben werden. In der Anordnung, die Dreyers vertikal aufgeschlagener Faksimileband vorschlägt, käme beim Betrachten der Text, der sich auf der Rückseite der nachfolgenden Zeichnung befindet, unterhalb des Bildes zu liegen (vgl. Abb. 5, S. 25). Vieles spricht dafür, dass in der Regel zuerst die Zeichnung, in einem zweiten Schritt erst der Text auf das Pergament kam. Unter anderem bietet das Blatt mit der verworfenen Skizze für den 31. Gesang des Paradiso, das dann für das Doppelblatt wiederverwendet wurde, welches das Inferno beschließt, einen Anhaltspunkt für diese These, da eine Beschriftung mit dem Text die Umordnung der Seite innerhalb des Ganzen unmöglich gemacht hätte (vgl. Kat. 25). Die Zeichnung zu einem Gesang beschränkt sich im Gegensatz zu früheren Illustrationen der Commedia zumeist nicht auf die Darstellung einer oder zweier einzelner Episoden, sondern versucht, den Inhalt des gesamten Gesangs zu visualisieren und global die Ereignisse in allen Einzelheiten nachzuvollziehen. Geleitet wird das Auge des Betrachters dabei durch die simultane Darstellungsweise, in der die mehrfach auf einem Bild erscheinenden Hauptfiguren den Betrachter von Etappe zu Etappe mitnehmen. Auch Elemente aus anderen Gesängen sind präsent und erleichtern uns die räumliche Orientierung. Der Zeichner Botticelli, ein Meister der bewegten Linie, macht so die innere und äußere Fortbewegung des Jenseitswanderers in allen Einzelheiten und sehr nahe am Text der Commedia nachvollziehbar. Während die wenigen kolorierten Blätter des Dante-Zyklus aufgrund ihrer besseren Reproduzierbarkeit und größeren wall power wesentlich bekannter sind (vor allem das in der Biblioteca Apostolica Vaticana aufbewahrte Blatt mit dem Höllentrichter, das eine Hauptrolle in Dan Browns Besteller Inferno spielt)15, ist der größte Teil unkoloriert geblieben. Letztlich ist nicht mit völliger Sicherheit zu sagen, ob die auf vier Blättern meist nur teilweise erfolgte Kolorierung (Höllentrichter, Inf. X, XV, XVIII) überhaupt von Botticellis Hand stammt, auch wenn wir zumindest beim äußerst qualitätvoll ausgeführten Berliner Blatt (Inf. XVIII, Kat.-Nr. 17) davon ausgehen.16 Eine vollständige Kolorierung der Zeichnungen muss zumindest zeitweise geplant gewesen sein, bevor dies wieder verworfen wurde. Einige auffällige Tilgungen und Pentimenti (Reuezüge, die uns heute vom künstlerischen Entstehungsprozess und einem Ringen um die adäquate Umsetzung des Wortes ins Bild Zeugnis geben) wären so verschwunden (vgl. Par. V, Kat.-Nr. 40), und bestimmte farbenfrohe Schilderungen der Commedia wären wohl noch wortgetreuer darstellbar gewesen (vgl. Purg. VII, Kat.-Nr. 29). Allerdings hätte eine Farbgebung sicherlich auch zahlreiche Details verschwinden lassen, unter anderem die winzige Signatur »sandro di mari ano« auf einem von einem Engel gehaltenen Täfelchen (Par. XXVIII, Abb.). Dass auf einigen Blättern Tinten von leicht unterschiedlicher Farbe zum Zeichnen verwendet wurden (hellrotbraun bis dunkelbraun)17, ist wohl in den meisten Fällen Unterbrechungen bzw. Wiederaufnahmen im Zeichenprozess geschuldet; nur in wenigen Ausnahmen mag dies inhaltlich motiviert beziehungsweise Ausdruck einer bewussten Wahl gewesen sein. Ob Lorenzo di Pierfrancesco de’ 79 17 Inferno XVIII Vergil und Dante im achten Kreis der Hölle (Malebolge), 1. und 2. Bolgia: Bestrafung der Kuppler und Verführer, der Schmeichler und Huren Deckfarben, Feder in Braun über Metallstift auf Pergament, 32,4 x 47,2 cm; auf dem Verso vierspaltiger Text von Inferno XVII (Feder in Braun) (nur in Berlin ausgestellt) N beginnt in der linken oberen Ecke, wo wir Geryon sehen, der Dante und Vergil zu den Malebolge (Elendsgruben) gebracht hat. Der halb menschliche, halb schlangenhafte Wächter am Übergang zu diesem achten Kreis des Inferno ist als einzige Gestalt unkoloriert geblieben. Dies ist umso erstaunlicher, als Dante gerade diese Gestalt in den prächtigsten Farben schildert, farbenfroher noch als gewebte orientalische Stoffe. »Botticelli fand offenbar keine Farbgebung, die Gerione von den mit Farben ausgestatteten Wanderern hätte ausreichend unterscheiden und dem nicht farbigen oder dunklen Reich der Sünder hätte zuordnen können« (Meier 2013, Anm. 44). Die beiden Wanderer bewegen sich zunächst nach rechts am Rande des Grabens entlang, in dem die Seelen der Kuppler von gehörnten Teufeln gepeitscht im Kreis getrieben werden. Dante geht ein paar Schritte zurück, weil er eine der Seelen erkannt hat und sich vergewissern will. Sodann passieren er und sein Anführer eine steinerne Brücke, von der aus sie die Gesichter der Verdammten sehen können, die sich auf sie zubewegen. Vergil weist Dante auf Jason hin, der hier, mit einer Krone ausgezeichnet, dafür büßt, die Liebe Medeas ausgenutzt zu haben. Aus der nächsten Grube schlägt den Wanderern schrecklicher Gestank entgegen, gegen den sich Dante schützen will, indem er eine Hand vors Gesicht schlägt. Hier verbüßen die Schmeichler und Dirnen in einem Sumpf von Kot ihre ewige Strafe. Dante spricht mit dem aus Lucca stammenden Alessio Interminei, der ebenso wie die frontal im Zentrum gezeigte Gestalt der Hetäre Thais exponiert dargestellt ist und zu Lebzeiten ein Schmeichler der übelsten Sorte war. Dante und Vergil verlassen die Szene am rechten unteren Rand und gehen weiter zum dritten Graben, von dem im folgenden Gesang die Rede ist. ur vier der erhaltenen Zeichnungen von Botticellis CommediaZyklus sind ganz oder teilweise koloriert – unter ihnen zählt diese Darstellung zu Inferno XVIII zu den am weitesten ausgeführten Blättern. Nur die beiden Jenseitswanderer sind in bunten Farben gezeigt, während die Hölle sowie ihre Bewohner und Insassen in unbunten Braun- und Grautönen gehalten sind. Die Bilderzählung 86 87 25 Inferno XXXIV, 2 Das Zentrum der Hölle: Luzifer in ganzer Gestalt (Der große Satan); Abschied vom Inferno Feder in Braun über Metallstift auf Pergament, 63,2 x 46,3 cm (im Passepartout sichtbarer Ausschnitt); auf dem Verso des unteren Blattes vierspaltiger Text von Inferno XXXIV (Feder in Braun) B is auf wenige Unterschiede in Details knüpft Botticelli hier an die vorherige Zeichnung an, zeigt dabei aber die ganze Gestalt Luzifers. Die – in diesem Zyklus völlig singuläre – Ausdehnung der Darstellung auf zwei zusammengeklebte Pergamentblätter erlaubt es dem Künstler nicht nur, den Weg zu zeigen, den Dante und Vergil hier zurücklegen, sie ermöglicht es ihm auch, diesen Punkt in der Er- zählung sogar im wörtlichen Sinne als Wendepunkt und als Übergang darzustellen. Er ist hier nicht nur äußerlicher, sondern auch innerlicher Natur, eine Wendung von der vita bestiale (dem tierischen Leben) zur vita humana (dem menschlichen Leben), wie es im Kommentar Landinos heißt (vgl. Dombrowski 1996, S. 61). Bei Luzifer angekommen, hält Vergil Dante zur Eile an, woraufhin dieser die Schultern seines Führers umschlingt. Die beiden Dichter hangeln sich so an dessen eisverkrusteten Fell hinab bis zur Mitte, zu der Stelle, wo der Schenkel an seiner breitesten Stelle in die Hüfte übergeht. Dort dreht sich Vergil und klettert in entgegengesetzter Richtung wieder empor. Aus dieser Perspektive sieht Dante die Füße Luzifers und dessen Gestalt, die für ihn nun kopfüber nach unten hängt. Für uns Betrachter müsste Botticellis Zeichnung um 180 Grad gedreht werden, um diese veränderte Perspektive zu erfahren. Schließlich kriechen Dante und Vergil durch ein Felsloch und steigen so aus der Hölle hervor, um die Sterne wiederzusehen. Am unteren Rand erahnen wir bereits den Schilfgürtel, der die Insel des Purgatorio umgibt, auf der die beiden Jenseitswanderer im Folgenden weitergehen. Diese Darstellung auf einem Doppelblatt war offenbar nicht von Anfang an vorgesehen, denn Botticelli hat dafür ein Pergament genutzt, das erst für den 31. Gesang des Paradieses vorgesehen war, wie wir aus der weitgehend getilgten Inschrift mit den Anfangsworten und der Nummer dieses Gesangs zwischen den Füßen Luzifers schließen können. Dies erlaubt Rückschlüsse auf Botticellis Vorgehensweise beim Bebildern der gesamten Commedia und lässt vermuten, dass er nicht nur einen Gesang nach dem anderen zeichnete, sondern im Laufe der inhaltlichen Auseinandersetzung auch wieder zurückkehrte zu bereits angefangenen Blättern, um an diesen weiterzuarbeiten. 102 103
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