Klaus Busch Januar 2016 Droht die europäische Integration zu scheitern? Die Eurokrise und die Flüchtlingskrise gefährden die Existenz der EU Die europäische Integration befindet sich aktuell in der schwierigsten Phase seit Inkrafttreten der Römischen Verträge. Die EU ist trotz verschiedener Anläufe nicht in der Lage, die Strukturmängel der Maastrichter Wirtschafts- und Währungsunion zu heilen, und aufgrund der Flüchtlingskrise steht das Schengen-System kurz vor dem Zusammenbruch, weil sich die Mitgliedstaaten nicht auf eine gemeinsame Verteilung der Flüchtlinge verständigen können. Aufgrund dieser beiden Prozesse verstärken sich in vielen Teilen Europas die Re-Nationalisierungstendenzen rapide. In diesem Beitrag wird die Gefahr eines Scheiterns der europäischen Integration diskutiert. Der Text beginnt mit einem kurzen Blick auf die bisherigen Krisenphasen der Integration, die nach einiger Zeit stets überwunden werden konnten. Danach werden die vergeblichen Versuche dargestellt, die Strukturmängel der WWU zu überwinden, und darüber hinaus die gravierenden negativen ökonomischen und sozialen Folgen der Austeritätspolitik erörtert, der sich die EU zur Überwindung der Eurokrise verschrieben hat. Es folgt eine Analyse des nahezu kompletten Versagens der EU, sich in der Flüchtlingskrise auf eine gemeinsame solidarische Politik zu verständigen. Ein weiteres Kapitel zeigt auf, dass die EU aufgrund der Nichtbewältigung der Euro- und der Flüchtlingskrise in eine immer stärker werdende Legitimationskrise gerät. Am linken und am rechten Rand des Parteienspektrums wächst die grundsätzliche Kritik an der europäischen Integration und die Ablehnung der EU deutlich. In den Schlussfolgerungen wird die These vertreten, dass der Zusammenbruch des Schengen-Systems äußerst negative Auswirkungen auf die Konjunktur und auf die Finanzmärkte haben würde. Auch ein Wiederaufleben der Eurokrise wäre sehr wahrscheinlich. Das alles würde die EU weiter destabilisieren. 1 Integrationskrisen in der Geschichte der EU Der europäische Integrationsprozess hat sich seit Beginn der 1950er Jahre immer in Aufschwungs- und in Abschwungsphasen vollzogen. Im 1 historischen Trend hat sich dabei jedoch eine stetige Vertiefung der Integration ergeben (Pfetsch/Beichelt 2005). Nach der Gründung der EGKS (Montanunion) durch sechs Staaten im Jahre 1951 scheiterte 1954 der Vertrag zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), der auch die Möglichkeit der Gründung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) beinhaltete, am Votum der französischen Nationalversammlung. Aus diesem gravierenden Rückschlag für die militärischen und die politischen Integrationsbemühungen zogen die sechs EGKS-Staaten den Schluss, sich zunächst auf den weniger souveränitätsgeladenen Prozess der wirtschaftlichen Integration zu konzentrieren. Mit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge im Jahre 1958 gründeten sie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die sich die Bildung einer Zollunion und eines Gemeinsamen Marktes zum Ziele setzte. Kaum begonnen, schienen diese Bemühungen 1965 schon wieder gestoppt zu werden, als der französische Präsident Charles de Gaulle mit seiner „Politik des leeren Stuhles“ verhinderte, dass im Ministerrat Mehrheitsentscheidungen gegen die Interessen Frankreichs getroffen werden konnten. Mit dem Luxemburger Kompromiss von 1966 und dem darin enthaltenen Beschluss, Mehrheitsentscheidungen zu vermeiden, wenn ein Staat „vitale Interessen“ geltend machen kann („to agree to disagree“), wurde diese erste große Krise der EWG überwunden. Die Haager Gipfelkonferenz von 1969 leitete die nächste Aufschwungsphase der Integration mit den Beschlüssen ein, bis 1980 schrittweise eine Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) einzuführen (Werner-Plan) und mit den EFTA-Staaten Verhandlungen über den Beitritt zur Gemeinschaft zu beginnen. Während die Nord-Erweiterung der Gemeinschaft um Großbritannien, Irland und Dänemark 1973 erfolgreich abgeschlossen werden konnte, zerbrach der Werner-Plan zur Einführung der WWU Mitte der 1970er Jahre an den Folgen der Weltwirtschaftskrise. Die 9er-Gemeinschaft schaltete daraufhin einen Gang zurück und beschloss 1978, zunächst mit einem System fester Wechselkurse die Währungsintegration fortzusetzen (Europäisches Währungssystem, EWS). Dennoch geriet der Integrationsprozess von Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er wieder in eine Stagnationsphase, weil aufgrund der Wirtschaftskrise die Bildung des Gemeinsamen Marktes durch die Zunahme nicht-tarifärer Handelshemmnisse in den Mitgliedstaaten untergraben wurde. Es kam hinzu, dass in diesen Jahren Streitigkeiten um Agrar- und Haushaltsfragen, die gemessen an den Integrationsproblemen der Gemeinschaft in Handels- und Währungsfragen Nebensächlichkeiten 2 darstellten, die Tagesordnung der Gemeinschaft in unangemessener Weise belasteten. Diese Phase wurde auch mit dem Begriff der „Eurosklerose“ charakterisiert. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 und dem darin enthaltenen Programm, bis 1992 einen einheitlichen Binnenmarkt mit einem freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr zu verwirklichen, gelang es der Europäischen Gemeinschaft, sich am eigenen Schopfe aus der zehnjährigen Desintegrationskrise zu befreien. Ja, noch mehr: das Projekt 1992 war das Fanal für eine lange Aufschwungsphase des Integrationsprozesses, die erst 2005 mit dem Scheitern des Verfassungsvertrages der EU enden sollte. In dieser Aufschwungsphase traten der Vertrag von Maastricht (1993) mit dem Stufenplan zur Einführung des Euro, der Vertrag von Amsterdam (1999) mit der Verankerung einer europäischen Beschäftigungspolitik und der Vertrag von Nizza (2003) mit einer weiteren Demokratisierung der EU durch die vermehrte Anwendung der Mehrheitsregel (Ratsentscheidungen mit qualifizierter Mehrheit) in Kraft. In dieser Periode wurde ferner die Gemeinschaft um Spanien und Portugal (1986), um Österreich, Schweden und Finnland (1995) und um acht osteuropäische Staaten sowie Malta und Zypern (2004) erweitert. Schließlich wurde 2004 in Rom der Vertrag für eine Verfassung für Europa unterzeichnet, der als Krönung des mehrjährigen Vertiefungsprozesses betrachtet wurde. Dass das Inkrafttreten dieses Verfassungsvertrag 2005 an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte, wurde als große Niederlage für die ambitionierten Vertiefungspläne wahrgenommen. Zwar wurden mit dem Vertrag von Lissabon, der 2007 unterzeichnet wurde, viele Teile des Verfassungsvertrages gerettet (Ausdehnung der Anwendung des Mitentscheidungsverfahrens in den Bereichen Polizei und Justiz, Einführung des Amtes eines Präsidenten der Europäischen Rats, Stärkung der Kompetenzen des Hohen Beauftragten der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik, Europäische Bürgerinitiative, Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtscharta), dennoch markiert dieser Zeitpunkt auch den Beginn einer langen Krisenperiode des Integrationsprozesses, die bis heute anhält, ohne dass bislang ein Licht am Ende des Tunnels sichtbar werden würde, im Gegenteil. Mit der Großen Weltfinanzkrise von 2008/2009 gerieten viele Eurostaaten in eine tiefe Verschuldungskrise. Im Zuge dieser Eurokrise wurden die Strukturmängel der Maastrichter WWU-Konstruktion immer stärker sichtbar, Defizite, welche die EU bis heute nicht zu überwinden in der Lage war. Gleichzeitig führte das rigide Euro-Sparregime dazu, dass sich die 3 ökonomischen und sozialen Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten vergrößerten. Belasteten bereits diese Probleme die Beziehungen zwischen den EU-Staaten (Griechenlandkrise), wurden die innereuropäischen Spannungen aufgrund der Unfähigkeit der EU, eine gemeinsame Politik in der Flüchtlingskrise durchzusetzen, 2015 und 2016 immer größer. Obwohl das Feld der Asyl- und Flüchtlingspolitik seit dem Vertrag von Amsterdam 1999 von der intergouvernementalen Säule in den Bereich der Supranationalität überführt worden ist, sperren sich viele Mitgliedstaaten gegen die Vorschläge der Europäischen Kommission zur Bewältigung der Flüchtlingskrise, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung eines Verteilungssystems. Dieser kurze Abriss des Auf und Ab in der Geschichte des Integrationsprozesses lehrt zunächst, dass es wesentlich schwieriger ist, im Bereich der souveränitätsgeladenen Politikfelder (so genannte „high politics“), wie der Außen- und Sicherheitspolitik, Integrationsfortschritte zu erzielen als im Bereich der Wirtschaft (so genannte „low politics“). Allerdings muss hier ergänzt werden, dass sich zwar im Bereich der Binnenmarktpolitik die Vergemeinschaftung vorantreiben ließ, aber in der Währungspolitik dann nationale Schranken nicht überwunden werden konnten, wenn es um die Kompetenzen in der Haushalts- und in der Fiskalpolitik ging. Es zeigt sich darüber hinaus, dass es selbst dann zu nationalen Widerständen gegen eine gemeinsame Politik kommen kann, wenn das Politikfeld prinzipiell in die Supranationalität transferiert worden ist. Dies wurde von Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre deutlich, als viele Mitgliedstaaten vertragswidrig mit der Einführung nicht-tarifärer Handelshemmnisse gegen die Prinzipien des Gemeinsamen Marktes verstießen. Dies wird auch aktuell deutlich, wenn sich die Mitgliedstaaten im Bereich der supranationalen Asyl- und Flüchtlingspolitik gegen die Annahme und Umsetzung einer gemeinsamen Politik zur Wehr setzen. In Zeiten der ökonomischen Bedrohung (Weltwirtschaftskrise) oder der Bedrohung der nationalen Souveränität und Identität (Flüchtlingskrise) ist offensichtlich die Gefahr sehr groß, dass der Integrationsprozess durch ReNationalisierungstendenzen unterhöhlt oder gar rückgängig gemacht wird. 2 Die Strukturmängel der Wirtschafts- und Währungsunion und das bisherige Scheitern aller Reformbemühungen Während der seit 2010 schwelenden Eurokrise wurde sehr deutlich, dass die Wirtschafts- und Währungsunion, wie sie im Maastrichter Vertrag 4 konzipiert worden ist, sehr große Defizite aufweist. Eine gemeinsame Währung einzuführen, ohne gleichzeitig die Politische Union zu vollenden und ohne parallel eine Europäische Wirtschaftsregierung zu installieren, war schon mit dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages im Jahre 1993 als Fehlkonstruktion zu erkennen (Busch 1990). Und zwar als dreifache Fehlkonstruktion. Erstens: Nur die Geldpolitik zu europäisieren, nicht aber die Fiskalpolitik, beinhaltet die Gefahr, dass sich die nationalen Staatshaushalte unterschiedlich entwickeln, Staaten im unterschiedlichen Maße Schulden machen. Und genau das ist eingetreten. Zweitens: wenn man europäisch nur die Geldpolitik zur Verfügung hat, lassen sich Wirtschaftskrisen nicht gut bekämpfen, denn die andere Komponente der Wirtschaftspolitik, die Haushaltspolitik, fehlt dann als supranationales Instrument. Und auch das wurde schmerzlich sichtbar bei der europäisch schlecht abgestimmten Wirtschaftspolitik in der Großen Krise 2008/2009. Drittens: die Währung zu europäisieren, nicht aber die Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik, muss systembedingt zu Wettbewerbsverzerrungen führen, und zwar aufgrund von Lohn-, Sozial- und Steuerdumping. Und auch das ist in vieler Hinsicht eingetreten, insbesondere durch die unterdurchschnittliche Entwicklung der Reallöhne in Deutschland vor der Großen Krise, aber auch durch die Praxis des Steuerdumpings, die in vielen Staaten zu beobachten ist. Wegen der Integrationseuphorie in den 1990er Jahre sind alle diese Fehler übersehen worden, Bedenken als antieuropäisch beiseite gefegt worden. Im Verlaufe der Eurokrise sind in Politik und Gesellschaft jedoch diese Defizite der Maastrichter WWU immer stärker in den Blickpunkt gerückt. Dies führte in den Jahren 2011/12 dazu, dass der Präsident der Europäischen Kommission, Barroso, und auch der Präsident des Europäischen Rates, von Rompuy, unter dem Titel „Für eine echte und vertiefte WWU“ Vorschläge vorgelegt haben, welche die Mängel von Maastricht heilen sollten (Europäische Kommission 2012; Van Rompuy 2012). In einer kurzen Frist sollten danach die bereits begonnenen Schritte zur Härtung des Stabilitätspaktes abgeschlossen werden, die unter den Namen „Two-Pack“, „Six-Pack“ und „Verfahren zur Vermeidung makroökonomischer Ungleichgewichte“ bekannt geworden sind. Lassen sich diese Reformen noch als Maastricht konform bezeichnen, wurde aber darüber hinaus im Grundsatzpapier der Europäischen Kommission, „Blaupause“ genannt, der Maastrichter Vertrag schonungslos kritisiert. Für eine mittlere und längere Frist wurden die Einführung einer europäischen Fiskalkapazität (also ein größerer EU-Haushalt) und Eingriffsrechte einer Europäischen Fiskalregierung in die nationale Haushaltspolitik gefordert. Gleichzeitig sollte parallel auch der Ausbau der Politischen Union stattfinden, und zwar durch die Realisierung des vollen legislativen 5 Mitbestimmungsrechts des Europäischen Parlaments, auch in Fragen der Haushalts- und Wirtschaftspolitik. Nach der Wahl des Sozialisten Hollande zum Präsidenten Frankreichs, im Jahre 2012, flackerte auch für kurze Zeit die Forderung nach einer sozialen Dimension der WWU erneut auf. Im März 2013 wurde unter dem Titel „Stärkung der sozialen Dimension der WWU“ ein sehr weitergehender Vorschlag aus dem Kabinett des EUSozialkommissars Andor bekannt (Non-Paper 2013). Dieses inoffizielle Dokument, ein sogenanntes Non-Paper, geißelte nicht nur die sozialen Folgen der Austeritätspolitik, sondern forderte neben einem europäischen Indikatorensystem zur Messung sozialer Ungleichheiten auf den Arbeitsmärkten (Arbeitslosenraten) und Disparitäten in der Einkommensentwicklung (Reallöhne, Lohnstückkosten) auch ein Instrumentarium zur Bekämpfung dieser sozialen Missstände. Dazu sollten nationale oder europäische Mindeststandards geschaffen und die Staaten beim Überschreiten bestimmter Schwellenwerte zu Korrekturmaßnahmen verpflichtet werden. Dies war der bislang progressivste Vorschlag zur Vertiefung der sozialen Dimension der EU, der je in Kreisen der Europäischen Kommission formuliert worden ist (vgl. dazu Bsirske/Busch 2013). Die Diskussionen über die Vertiefung der politischen, der ökonomischen und der sozialen Dimension der WWU hatten jedoch nur eine kurze Halbwertzeit. Hierfür gibt es zwei Gründe: einerseits die Wiederauferstehung des Neoliberalismus, den manche nach der Großen Finanzkrise bereits als tot betrachtet hatten, andererseits die Zunahme des Rechtspopulismus und der Re-Nationalisierungstendenzen in Europa. Aufgrund der Stärke der neoliberalen Ideologie in Europa haben die Sozialminister der EU-Staaten und die Europäische Kommission den progressiven Vorschlag aus dem Hause Andor in der Mitteilung der Kommission im Oktober 2013 zu einem unverbindlichen Indikatorensystem zurückgestutzt (Europäische Kommission 2013) . Eine soziale Dimension der WWU gibt es damit nicht. Und die spätestens mit dem Erstarken des Rechtspopulismus bei den EP Wahlen im Mai 2014 sichtbar gewordenen Re-Nationalisierungstendenzen machen jeden Versuch zunichte, die WWU durch eine europäischen Fiskalkapazität größeren Volumens und eine Europäische Wirtschaftsregierung ökonomisch zu stärken. Beides würde ebenso eine Änderung der EUVerträge erfordern wie eine Stärkung der Mitbestimmungsrechte des EP, und dafür sind keine Mehrheiten erkennbar. Wie gering die Ambitionen auf EU-Ebene mittlerweile sind, die WWU zu vertiefen, macht das im Sommer 2015 veröffentlichte Papier der fünf Präsidenten unter Federführung von Kommissionspräsident Juncker 6 deutlich, das den Titel trägt: „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“ (Juncker 2015). Dieses Papier ist nicht einmal ein schwacher Abglanz der oben erwähnten „Blaupause“ von Ende 2011. Von der Forderung nach einer europäischen Fiskalkapazität und einer Europäischen Wirtschaftsregierung finden sich vier Jahre später im Fünf-PräsidentenPapier kaum noch Spuren. „Ein neuer beratender Europäischer Fiskalausschuss“ soll eingerichtet werden, der die Umsetzung der europäischen Vorgaben in die nationale Haushaltspolitik zu bewerten hat, und zwar ganz unverbindlich, versteht sich. Die stärkeren Mitbestimmungsrechte des EP werden darauf reduziert, dass dieses über den Jahreswirtschaftsbericht der Kommission vor und nach dessen Verabschiedung diskutieren darf. Von der Stärkung der sozialen Dimension der WWU ist im neuen Papier eine Rubrik übrig geblieben, die sich „Stärkere Focussierung auf Beschäftigung und Soziales“ nennt, die aber nicht einen konkreten neuen Vorschlag oder gar ein neues Instrument enthält. Substanz haben in diesem Papier nur zwei Forderungen: Die Komplettierung der Bankenunion durch die Einführung eines europäischen Einlagensicherungssystems sowie die Errichtung eines europaweiten Systems zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Dieses System soll aus nationalen Einrichtungen bestehen, die beurteilen sollen, ob die Nominallöhne sich entsprechend der Produktivität entwickeln. Darüber hinaus sollen diese Einrichtungen Vergleiche mit anderen Mitgliedsstaaten und wichtigen Welthandelspartnern in Bezug auf die Lohnentwicklung ziehen. Als vorläufiges Fazit lässt sich formulieren: Der Versuch, die Wirtschaftsund Währungsunion durch Reformen zu vertiefen und damit die Defizite der Maastrichter WWU-Konstruktion zu überwinden, ist in allen Dimensionen gescheitert, der politischen, der ökonomischen und der sozialen. Damit befindet sich die EU allerdings integrationspolitisch in einer äußerst misslichen Lage. Der Weg nach vorne, der eine Vertiefung der Integration in den genannten Bereichen bedeuten würde, ist versperrt. Dies haben die Ergebnisse der EP-Wahlen noch einmal in aller Brutalität sichtbar gemacht. Der Weg zurück, der die Auflösung der Eurozone und die Wiedereinführung nationaler Währungen beinhaltete, würde in Südeuropa, aber auch in Deutschland, wegen der ökonomischen Anpassungsprozesse eine weitere große Wachstums- und Beschäftigungskrise mit sich bringen und am Ende nicht nur die Eurozone, sondern auch den Binnenmarkt zu Fall bringen. Die EU ist damit in einem integrationspolitischen Dilemma . Sie kann nicht nach vorne, und sie kann nicht nach hinten. Sie befindet sich damit in einer 7 integrationspolitischen Stagnationskrise, welche die in den EP-Wahlen offenbarten Legitimationsprobleme nur noch weiter vergrößern wird. 3 Die Austeritätspolitik und ihre ökonomischen und sozialen Folgen Auch im sechsten Jahr nach der Großen Krise hat die Wirtschaft der Eurozone immer noch mit Wachstumsproblemen zu kämpfen, und das trotz eines extrem niedrigen Zinsniveaus, eines niedrigen Ölpreis und eines stark abgewerteten Euro. Im Anschluss an die beiden Rezessionsjahre 2012 und 2013 befindet sie sich seit 2014 in einer Stagnationsphase mit dürftigen Wachstumsraten zwischen ein und zwei Prozent. Die USA erleben dagegen seit 2010 eine deutliche Erholung von Produktion und Beschäftigung mit BIP-Wachstumsraten von zwei und drei Prozent. Während die Arbeitslosenrate in der Eurozone von 2010 10% auf 2014 12% angestiegen ist, sank die Arbeitslosenrate in den USA im selben Zeitraum von 9,6 auf 6,2%. 2015 lag diese Rate in der Eurozone bei 11,5% und in den USA bei 5,4% (vgl. European Commission (2015): Statistical Annex of European Economy, Brussels, Spring 2015; table 3 und 10) Dieser Vergleich zwischen der Eurozone und den USA ist insofern so interessant, weil er den unterschiedlichen Erfolg zweier gegensätzlicher Strategien zur Überwindung einer Krise verdeutlicht. Die Eurozone hat den Weg der Sparpolitik, der Austerität, gewählt, weil sie die Staatsschulden als den Hauptverursacher der Krise interpretiert. Dieser Weg dämpft die Nachfrage, erhöht die Arbeitslosigkeit, schwächt die Gewerkschaften und lässt die Lohnkosten sinken. Dieser Weg dauert lange, bis sich erneut eine Erholung abzeichnet, er ist mit sehr hohen sozialen Kosten verbunden, vor allem in Form einer hohen Arbeitslosigkeit. Die Erholung setzt ein, wenn sich die Sparpolitik dem Ende zuneigt, weil die Haushaltsdefizite weitgehend beseitigt sind, die Angebotsbedingungen der Produktion sich durch sinkende Löhne verbessert haben und so auch zu Erfolgen auf den Exportmärkten führen. Die Eurozone befindet sich im Moment in einer solchen Phase des Umschwungs. Der alternative Weg, den die USA gewählt haben, bekämpft die Krise durch eine expansive Geld- und Fiskalpolitik. Durch die Stützung der Nachfrage wird die Krise rasch überwunden. Zwar steigen zunächst noch die Staatsschulden, diese können aber in der Phase guter Wachstumsraten nach und nach reduziert werden. Die sozialen Kosten dieser Strategie sind wesentlich geringer als beim Austeritätsweg, den die Amerikaner deshalb auch als „cold turkey“ bezeichnen. Voraussetzung einer wirtschaftlichen Erholung nach einer Großen Finanzkrise, wie der von 2008/2009, ist darüber hinaus eine Sanierung des 8 Bankensektors, also eine Verbesserung der Eigenkapitalquote und der Rentabilität. Und auch auf diesem Felde waren die USA der Eurozone seit 2010 weit überlegen (IMF 2014a; IMF 2014b; BIZ 2014). Der Austeritätsweg war jedoch in der Eurozone nicht nur wegen der hohen Arbeitslosigkeit verhängnisvoll, er hat darüber hinaus auch die ökonomische Spaltung zwischen den Mitgliedstaaten deutlich verstärkt. Während die Arbeitslosenraten nach 2010 in Ländern, wie Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Österreich, im einstelligen Bereich lagen, stiegen sie in Irland, Portugal, Italien, Frankreich und einigen osteuropäischen Staaten auf zweistellige Werte an und erreichten in Spanien mit 24% und in Griechenland mit 26% 2014 Negativrekorde. Statt die ökonomische Kluft in Europa durch eine europäische Wachstumsstrategie (Marshall-Plan) abzubauen, wurden die Gräben zwischen den Staaten durch die Spar- und vor allem die Troika-Politik noch vertieft. Dies hat nicht nur die ökonomischen, sondern auch die sozialen Differenzen in Europa verstärkt (Busch/Hermann/Hinrichs/ Schulten 2012) Durch massive Eingriffe in die Tarifvertragssysteme hat die Austeritätspolitik die Gewerkschaftsmacht in Europa stark geschwächt (vgl. Bsirske, Frank/ Busch, Klaus/ Höbel , Olivier-Andre/Knerler, Rainer/ Scholz, Dieter 2016). Das gilt vor allem für Irland und Rumänien, wo ehedem weitgehend zentralisierte Tarifvertragsstrukturen in ein jetzt überwiegend dezentrales System mit Verhandlungen auf Unternehmensebene transformiert wurden. Aber auch in den südeuropäischen Staaten Portugal, Spanien, Italien und Griechenland sind die Tarifvertragssysteme massiv verändert worden. Zwar sind die Flächenverträge formal erhalten geblieben, sie wurden aber durch Reformen, welche die internationalen Institutionen durchgesetzt haben, in starkem Maße unterminiert. Die Aushöhlung der Flächentarifvertragsstrukturen beruht in diesen Ländern im Wesentlichen auf den folgenden drei Maßnahmen: (1) dem Vorrang von Unternehmensvereinbarungen vor sektoralen Vereinbarungen, zum Beispiel durch die Abschaffung bzw. Umkehrung des Günstigkeitsprinzips. Dies bedeutet, dass in der Praxis Unternehmensvereinbarungen sektorale Standards unterlaufen können; (2) die weitgehende Rücknahme der rechtlichen Unterstützung des Flächentarifvertragssystems, zum Beispiel durch die Einführung restriktiverer Kriterien für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen; (3) die Ausweitung der Möglichkeiten für gewerkschaftlich nicht organisierte Gruppen von Arbeitnehmern, Verhandlungen auf Unternehmensebene zu führen (Müller/Platzer 2016). 9 Im Gefolge dieser Eingriffe ist in Portugal, Spanien und Griechenland die Zahl der sektoralen Tarifabkommen von 2008 bis 2013 dramatisch gesunken: in Portugal von 172 auf 27, in Spanien von 1448 auf 887 und in Griechenland von 202 auf 14. Mit Recht kann hier von einer DeKollektivierung der Arbeitsbeziehungen gesprochen werden (Müller/Platzer 2016) Auch in den anderen europäischen Ländern ist krisenbedingt die Zahl der Tarifvereinbarungen zurückgegangen, allerdings längst nicht in dem Umfang wie in den Programmländern. In Europa ist deshalb generell ein Rückgang des Tarifdeckungsgrades zu verzeichnen. Eine Ausnahme bilden hier nur Finnland, Österreich, die Niederlande und Belgien. In Deutschland nahm der Deckungsgrad von knapp 70% im Jahre 2000 auf knapp 60% im Jahre 2012 ab, in Schweden von 93% auf 88% und in Großbritannien von 36% auf 29%. Dagegen waren die Abnahmewerte in Portugal, Spanien und Griechenland dramatischer: in Portugal lauten die Werte 93% und 32%, in Spanien 83% und 67% und in Griechenland 85% und 50% (Müller/Platzer 2016) In Spanien ist der Wert bis 2014 noch weiter gefallen, und zwar auf 50% (Bellera-Kirchhoff 2016) Es ist nicht verwunderlich, dass im Gefolge dieser Schwächung der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht in der Zeit von 2008 bis 2014 tarifpolitische Erfolge in vielen Ländern ausblieben. In 13 der 28 EUStaaten sind in diesem Krisenzeitraum die Reallöhne abgesenkt worden (European Commission 2015; table 31). Darüber hinaus gelang es in 18 der 28 Staaten nicht, den verteilungsneutralen Spielraum auszuschöpfen, nahmen die Reallöhne nicht im selben Maße zu wie die Produktivität (European Commission 2015; table 34). Besonders schwach waren erneut die relativen Lohnergebnisse in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Für die Position der Gewerkschaften in Europa ist es besonders bedrohlich, dass aufgrund der Austeritätspolitik jetzt auch die ehedem sehr starken Gewerkschaften in Südeuropa erheblich an Tarifmacht verloren haben und in allen vier Ländern die Reallöhne in der genannten Krisenperiode gesunken sind. 4 Das Versagen der EU in der Flüchtlingskrise 4.1 Die Ursachen der Flucht Die Ursachen der wachsenden Flüchtlingsströme sind einerseits in den veränderten Rahmenbedingungen der Weltpolitik und andererseits damit zusammenhängend - in der steigendende Anzahl scheinbar 10 unkontrollierbarer Konfliktherde vor allem im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika zu suchen. Seit dem Zusammenbruch der Bipolarität in den 1990er Jahren, die mit einer gleichzeitigen Schwächung der Großmächte USA und Russland verbunden war, haben regionale Kriege, Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten, Bürgerkriege in Afrika, Flucht und Vertreibung von mehreren Millionen Menschen kaum noch zu kontrollierende Dimensionen angenommen. Insbesondere in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten gewinnt das Phänomen der „failed states“, von Staaten, deren Gewaltmonopol zusammengebrochen ist, die deshalb nur noch Staatsruinen bilden, eine wachsende Bedeutung. Insbesondere diese Regionen sind für die massiven und zunehmenden Migrations- und Flüchtlingsströme in der Welt verantwortlich. Im Nahen und Mittleren Osten zählen insbesondere Syrien, der Irak, der Libanon, Libyen und der Jemen zu diesen Staaten. Auch in Afrika steigt die Zahl dieser Staatsruinen unaufhörlich. Häufig dominieren verschiedene Bürgerkriegsmilizen, die einander bekämpfen, das jeweilige Land und bringen es so in einen Zustand der permanenten Destabilisierung. Der US-amerikanische Think Tank „Fund for Peace“ hat auf der Basis von politischen, sozialen und ökonomischen Faktoren einen Index zur Messung der „failed states“ zusammengestellt. Unter den 34 Staaten der Welt, die am stärksten gefährdet sind, befinden sich allein 22 Staaten aus Afrika, an ihrer Spitze der Südsudan, Somalia, die Zentralafrikanische Republik, die Demokratische Republik Kongo und der Sudan (Fund for Peace 2015) Eine unmittelbare Folge der unerträglichen Zustände für die in diesen Staaten lebenden Menschen sind Flucht und Vertreibung. Unter den ca. 22 Millionen Flüchtlingen, die der UNHCR, das Flüchtlingskommissariat der UN, Ende 2014 weltweit zählte – Flüchtlinge, welche die Landesgrenzen überschritten haben - stammt die Hälfte aus Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten. Einschließlich der Binnenflüchtlinge lag die Gesamtzahl weltweit Mitte 2015 bei ca. 60 Millionen. Dabei ist in den letzten Jahren durch die Zunahme von Konfliktherden die Zahl der Flüchtlinge dramatisch angestiegen: allein 2014 kamen ca. 14 Mio. Flüchtlinge neu hinzu, das waren viermal mehr als im Jahre 2010 (UNHCR 2015) Da die UN, vor allem aber die Großmächte nicht in der Lage sind, die politischen Konflikte in diesen Teilen der Welt zu lösen, muss das Phänomen der Flüchtlings- und Asylbewerberstroms nach Europa in den nächsten Jahren als dauerhaft betrachtet werden. 11 Vor diesem Hintergrund ist die Argumentation, die innerhalb der Linken in Europa stark verbreitet ist, nur durch eine Überwindung der Ursachen der Flucht könne die Zahl der Migranten zurückgehen, zwar einerseits abstrakt richtig, andererseits im Hinblick auf die Handlungsoptionen in Europa wenig zielführend ist. Denn die genannten Ursachen, z.B. der Syrienkrieg und andere Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika, werden in einem von heute überschaubaren Zeitraum von fünf bis zehn Jahren nicht beseitigt werden können. 4.2 Die Politik der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise Aus ökonomischen und sozialen Gründen wäre es für die EU-Staaten kein Problem, jährlich einen Migrantenstrom von ein bis zwei Millionen Menschen zu integrieren, solange sich die Staaten auf einen gemeinsamen und fairen Verteilungsschlüssel verständigen können. Ökonomisch wäre es angesichts der demographischen Probleme für viele EU-Staaten sehr sinnvoll, Zuwanderer aufzunehmen, sie zu qualifizieren und in die Arbeitsmärkte zu integrieren. Tatsache ist, dass die EU zurzeit weit davon entfernt ist, eine solche rationale politische Lösung durchzusetzen. Außer Schweden, Deutschland sowie Österreich sind alle anderen Staaten aus unterschiedlichen Gründen nicht bereit, Flüchtlinge auch nur vorübergehend aufzunehmen. Das Dublin-System der so genannten sicheren Drittstaaten ist – obwohl rechtlich immer noch in Kraft – faktisch ausgesetzt worden. Länder wie Griechenland, Italien, vor allem aber Bulgarien, Ungarn, Kroatien und Slowenien betrachten sich als Transitstaaten, welche den bei Ihnen ankommenden Migranten auf dem Weg nach Deutschland, Schweden und Österreich Hilfestellung leisten. Sie verstoßen damit gegen EU-Recht – allerdings mit faktischer Duldung durch Deutschland - und betreiben – hart formuliert – ein staatlich organisiertes Schleppersystem, das dem ausschließlichen Ziel dient, sich der Flüchtlinge zu entledigen. Besonders markant ist die Ablehnung von Migranten in den Staaten Osteuropas, aber selbst Staaten, wie Großbritannien und Frankreich, sind nicht bereit, Flüchtlinge in nennenswerter Zahl aufzunehmen, haben sie doch Angst, die Rechtspopulisten ihrer Länder, UKIP und FN, könnten dann einen noch stärkeren politischen Zulauf verzeichnen. In Frankreich hat sich die ablehnende Haltung gegenüber Migranten nach dem zweiten großen Terror-Anschlag in Paris, am 13. November 2015, noch weiter verstärkt. Das Ergebnis des ersten Wahlganges der Regionalwahlen am 6.12.2015, aus dem der FN mit 28% als stärkste Partei hervorging, ist auch Ausdruck dieser Verhärtung Frankreichs in der Flüchtlingsfrage. Die bisherige Hilflosigkeit der EU im Versuch, eine gemeinsame Politik in 12 der Flüchtlingskrise zu entwickeln, eindrucksvoll dokumentiert: wird durch folgende Fakten Die Vereinbarung der EU-Staaten vom Juni 2015, 40000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland durch freiwillige Zusagen auf die übrigen Mitgliedstaaten zu verteilen, um so wenigstens symbolisch zu zeigen, dass die EU in der Flüchtlingsfrage handlungsfähig ist, harrt auch noch im Januar 2016 der kompletten Realisierung. Immer noch fehlen 8000 Zusagen zur vollständigen Umsetzung des Beschlusses. Fast noch beschämender für die EU ist die Umsetzung des Ende September gegen den Widerstand etlicher osteuropäischer Staaten mit Mehrheit gefasste Beschluss, auf der Basis eines Verteilungsschlüssels (Kriterien: Bevölkerungszahl, Wirtschaftsleistung, Arbeitslosenquote) 160 000 Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Eritrea, die sich bislang in Italien und Griechenland befinden, auf die übrigen Mitgliedstaaten umzuverteilen. Von diesen 160 000 Flüchtlingen sind Mitte Januar ganze 272 (sic!) Personen in andere Staaten umgesiedelt worden. Auf einem EU-Türkei-Gipfeltreffen Ende November 2015 wurde folgende Vereinbarung getroffen, in welche insbesondere die Bundesregierung große Hoffnungen setzt: A) die Türkei will die EU bei dem Versuch, den Flüchtlingsstrom aus Syrien weitgehend zu stoppen, grundsätzlich unterstützen, indem sie in Kooperation mit Griechenland ihre Küstengewässer strenger bewacht. B) Die EU sichert zu, der Türkei jährlich ein Kontingent an Flüchtlingen abzunehmen, das auf der Basis eines Verteilungsschlüssels auf die Mitgliedstaaten verteilt werden soll. Inoffiziell wurde für das Kontingent eine Zahl von 400 000 Menschen genannt. Am Rande des Gipfels haben sich acht (!) EU-Staaten getroffen, die bereit sein sollen, sich an dieser Umverteilungslösung zu beteiligen. C) Die Türkei erhält für diese Kooperationsbereitschaft von der EU folgende Gegenleistungen: drei Milliarden Euro für den Aufbau von weiteren Flüchtlingslagern, die Abschaffung der Visumspflicht bei der Einreise türkischer Bürger in die EU ab Oktober 2016 sowie die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der EU. Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass dieses EU-Türkei-Abkommen keinen nennenswerten Beitrag zu Lösung der EU-Flüchtlingskrise leisten wird und darüber hinaus aus demokratischer und humanitärer Perspektive höchst problematisch ist. Erstens: bis heute (Mitte Januar 2016) ist der Flüchtlingsstrom, der in 13 Slowenien (täglich ca. 4000 Menschen) und in Deutschland (täglich ca. 3300 Menschen) ankommt, nicht wesentlich verringert worden, und das trotz Einbruchs des Winters. Hoch gerechnet auf ein Jahr sind dies 1,2 bis 1,5 Millionen Flüchtlinge. Diese Zahlen entsprechen auch den Angaben der griechischen Behörden, die berichten, dass der Flüchtlingsstrom aus der Türkei sich nicht nennenswert verändert habe. Der UNHCR meldet, dass bis zum 17. Januar im neuen Jahr bereits 30 000 Flüchtlinge über die Türkei nach Griechenland gelangt seien (Tagesschau vom 19.1.2016). Zweitens: Amnesty International berichtet, dass die Flüchtlinge, welche die Türkei durch das Aufbringen von Schlepperbooten, aufgehalten habe, vor die Wahl gestellt worden seien, entweder in der Türkei interniert zu werden oder nach Syrien zurückzukehren. Drittens: Die Kontingentslösung mit der Türkei setzt die Akzeptanz eines Verteilungsmechanismus in der EU voraus. Diesen gibt es bislang nicht, und insofern lassen sich auch nicht jährlich 400 000 Flüchtlinge von der Türkei in die EU umsiedeln. Im Übrigen spricht der UNHCR angesichts seiner Kenntnis der Lage in den Flüchtlingscamps in der Türkei davon, dass jährlich bestenfalls ein Kontingent von 20 bis 50000 Flüchtlingen zu bewältigen wäre. Viertens: Zieht man ferner die aktuelle Lage der syrischen Flüchtlinge in der Türkei in Betracht, wird die Janusköpfigkeit der europäischen, insbesondere der deutschen Flüchtlingspolitik vollends deutlich. Von den 2,5 Mio. in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlingen sind nur 250 000 in den viel gelobten Camps untergebracht. Die Menschen werden hier mit Lebensmitteln versorgt, es gibt Krankenstationen und Schulen. Allerdings haben sie keine Arbeitserlaubnis und leben hier unter vollständiger Aufgabe ihrer Selbstständigkeit hinter Mauern und Stacheldraht. Besuch dürfen sie nicht empfangen. Ein Verlassen der Camps ist nur auf Antrag und ausnahmsweise möglich. Die übrigen 2,25 Mio. Syrer leben in der Türkei in der Illegalität. Sie versuchen auf dem Schwarzmarkt unter menschenunwürdigen Bedingungen (Unterkünfte, Löhne, faktische Versklavung, Prostitution) Geld zu erwerben, das sie entweder nach Syrien zu ihren Verwandten überweisen oder für die Bezahlung einer Flucht nach Europa zu sparen versuchen. Eine Politik die darauf hinaus will, weitere Millionen Syrer unter solch inhumanen Bedingungen in der Türkei leben zu lassen, die gleichzeitig in Deutschland mit humanitärer Geste agiert, ist zumindest als doppelbödig, wenn nicht gar als zynisch zu bewerten. Ob, inwieweit und mit welchen Standards die Türkei die ihr zugesicherten drei Mrd. Euro zum 14 Aufbau weiterer Flüchtlingscamps verwenden will/soll ist bislang nicht bekannt. Fünftens: Die Regierung Davutoglu tritt im Moment die Menschenund Bürgerrechte in der Türkei mit Füßen. Die Medien werden gleichgeschaltet, missliebige Journalisten werden verhaftet, ebenso oppositionelle Politiker. Gegen die kurdische Minderheit - und nicht nur gegen die PKK – geht die türkische Armee mit brutaler Härte vor. Angesichts des EU-Interesses an einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik lassen die europäischen Staaten die Regierung der Türkei mehr oder weniger gewähren. Diese nutzt die Gunst der Stunde und bekämpft selbst den gemäßigten parlamentarischen Arm der Kurden – die HDP – unter massiver Verletzung von Bürgerrechten. Unabhängig von der politischen und humanitären Bewertung des Versuchs, mit der Türkei ein Flüchtlingsabkommen zu vereinbaren, ist folglich die Effizienz einer solchen Vereinbarung höchst zweifelhaft. Schon jetzt möchte der Löwenteil der in der Türkei lebenden Syrer lieber heute als morgen die Flucht nach Europa fortsetzen. Dasselbe gilt für die weiteren zwei bis drei Millionen Syrer, die vor allem nach Jordanien und den Libanon geflüchtet sind. Sobald diese Menschen eine Chance sehen, ihre Flucht fortzusetzen, werden sie es tun. Mitte Dezember 2015 hat die EU- Kommission den Ausbau von Frontex zu einer Europäischen Grenz- und Küstenschutzbehörde vorgeschlagen. Diese neue Behörde soll aus der bisherigen Grenzschutzagentur Frontex hervorgehen, mit 1000 Mitarbeitern aber mehr als doppelt so viel Personal besitzen. Der brisanteste Teil des Plans ist allerdings, dass die Behörde über eine Art stehendes Mini-Heer von mindestens 1500 Polizisten aus den EUMitgliedstaaten verfügen soll. Kann ein Staat seine Grenzen nicht effektiv schützen, soll die Truppe notfalls auch gegen den Willen des betreffenden Staates binnen drei Tagen losgeschickt werden, um die EU-Außengrenzen zu sichern. Angesichts der ablehnenden Haltung des Löwenanteils der EUStaaten, in der Flüchtlingskrise eine gemeinsame Politik zu entwickeln, dürfte ein Plan, der ein Eingriffsrecht einer europäischen Behörde in ein so sensibles Hoheitsrecht, wie die Sicherung der Außengrenzen, vorsieht, von Anbeginn zum Scheitern verurteilt sein. Unabhängig davon ist ein Mini-Heer von vielleicht 2 500 Polizisten wohl kaum in der Lage, die Außengrenzen der EU effektiv zu sichern. 15 In der Liste des Versagens der EU-Flüchtlingspolitik ist schließlich zu berichten, dass die im Oktober 2015 beschlossene Einrichtung von zusätzlichen Hotspots zur Registrierung von Flüchtlingen in Italien und Griechenland langsamer vorangeht als geplant. Ursprünglich waren elf solcher Hotspots bis Ende November 2015 vorgesehen – sechs für Italien, fünf für Griechenland, dann wurde die Frist bis Ende 2015 verlängert. Tatsächlich sind bis Mitte Januar 2016 nur zwei zusätzliche Hotspots entstanden, und zwar in Lampedusa und auf Lesbos. Eine neue Frist, bis wann alle elf Hotspots errichtet werden sein sollen, nennt die Kommission jetzt nicht mehr. Griechenland und Italien haben kein großes Interesse am Aufbau dieser Hotspots, weil dann die Flüchtlinge genauer registriert würden und Migranten ohne Einreiseanspruch in die EU in die Herkunftsstaaten zurückgeschickt werden müssten. Dies sind jedoch aufwendige Verfahren, in deren Rahmen die Flüchtlinge längere Zeit in den Hotspots untergebracht werden müssten, und davor scheuen beide Staaten zurück (vgl. SZ Nr. 15, 20. Januar 2016). Es kommt hinzu, dass die Hotspots nur funktionieren würden, wenn es einen Verteilungsmechanismus in der EU gäbe. Die begrenzten Plätze in den Hotspots würden sich sehr schnell füllen, und für Italien und Griechenland bestünde die Gefahr, dass die Flüchtlinge hier verbleiben müssten, weil die EU-Staaten nicht bereit wären, in ausreichender Zahl Migranten aufzunehmen. Angesichts dieser Fakten über die EU-Flüchtlingspolitik muss ein eklatantes Scheitern der Regierung Merkel festgestellt werden. Seit Monaten verkündet die deutsche Regierung ein dreifaches Mantra: die Ursachen der Flucht müssen bekämpft werden, die EU muss sich solidarisch auf Verteilungsquoten verständigen und die Zahl der Flüchtlinge muss 2016 nennenswert zurückgehen. Tatsächlich ist jedoch Folgendes zu beobachten: Weder lassen sich die Ursachen der Flüchtlingskrise in absehbarer Zeit beseitigen, noch kann sich die EU auf gemeinsame Quoten verständigen – es sind nicht einmal zarte Ansätze in dieser Richtung erkennbar -, noch wird die Zahl der Flüchtlinge, die 2016 nach Europa, vor allem nach Deutschland drängen, geringer werden. 4.3 Die Überforderung Schwedens und Deutschlands Vor dem Hintergrund der Ursachen der Flüchtlingsströme und des Scheiterns der EU-Flüchtlingspolitik wächst der Problemdruck in denjenigen beiden Staaten, die bis Ende 2015 den Löwenanteil der nach Europa drängenden Flüchtlinge aufgenommen haben: Schweden und 16 Deutschland. Auf 1000 Einwohner hat Schweden 2015 16,6 Flüchtlinge aufgenommen (2014: 8,3), Deutschland 2015 13,5 (2014: 2,5). Zum Vergleich Dänemark: 2015 3,3 (2014: 2,6). Die absoluten Zahlen lauten für Ende 2015 : Schweden 160 000, Deutschland 1, 1 Mio. und Dänemark 18 000 (Balzter , 2016) In Schweden, das relativ bislang die größte Zahl an Flüchtlingen aufgenommen hat, werden die Grenzen der Aufnahmekapazität an zwei Prozessen deutlich. Zum einen stößt der Arbeitsmarkt an seine Absorptionsfähigkeit. Schweden verzeichnet zwar in der Entwicklung der Beschäftigtenzahlen unter den EU-Staaten seit Jahren die höchsten Zuwachsraten, dennoch sinkt seit der Jahrtausendwende die Arbeitslosenrate nicht unter 7 bis 8%, weil die Migranten – auch wegen der Qualifikationsschranken – nicht in ausreichender Zahl in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Im Durchschnitt braucht ein Flüchtling in Schweden sieben Jahre, ehe er in den Arbeitsmarkt integriert ist (Balzter 2016 ). Zum anderen gewinnen die Schwedendemokraten, die sich für eine Eindämmung der Immigration aussprechen, einen immer größeren politischen Zulauf. Sie erreichen in Umfragen aktuell ein Viertel der Bürgerinnen und Bürger Schwedens. Das zeigt, dass selbst in einem weltoffenen und sozialdemokratisch geprägten Land wie Schweden, die gesellschaftlichen und politischen Grenzen der Aufnahmefähigkeit erreicht sind. Die sozialdemokratisch geführte Regierung Löfgen hat deshalb Ende November 2015 die Notbremse gezogen: Flüchtlinge werden nur noch im Rahmen der von der EU-Kommission für Schweden vorgesehenen Quote aufgenommen, der Familienzuzug wird auf Kinder begrenzt, und die Leistungen für Flüchtlinge werden reduziert. Gleichzeitig hat das Land seit Januar 2016 ein strenges Grenzregime eingeführt: nur noch Personen mit gültigem Ausweis dürfen in das Land einreisen. Auch in Deutschland, in dem noch im Sommer 2015 die Willkommenskultur eine breite gesellschaftliche Unterstützung gefunden hat, ist es seit dem Herbst 2015 zu einem politischen Meinungsumschwung gekommen. Sprach sich bis dahin eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger für eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen aus, tritt seit Anfang Oktober eine Mehrheit für die Begrenzung der Migrationszahl ein. Dem Diktum der Kanzlerin Merkel, „Wir schaffen das“, widerspricht seitdem eine Mehrheit der Befragten Bürgerinnen und Bürger (ZDF Presseportal 2015). Dieser Meinungsumschwung ist darauf zurückzuführen, dass im Herbst 2015 täglich 10 000 Migranten nach Deutschland gekommen sind und immer mehr Bürgermeister und Landräte erklärt haben, dass ihre 17 Kommunen allein aufgrund des begrenzten Wohnraums ihre Aufnahmegrenzen erreicht hätten. Es kommt hinzu, dass es in den Verwaltungseinrichtungen für das Asylverfahren an Angestellten und Beamten – vor allem auch JuristInnen – fehlt, in den Kindertagesstätten an ErzieherInnen, in den Schulen an LehrerInnen, in den Flüchtlingsheimen und Kommunen an SozialarbeiterInnen und an den Grenzen sowie in den Kommunen an polizeilichen Sicherheitskräften. Insgesamt addiert sich der Personalmangel auf ca. 100 000 Menschen. Unabhängig von diesen akuten Mängeln zeichnen sich in Deutschland bei einem anhaltenden Zustrom von Migranten in der genannten Größenordnung folgende gravierenden Probleme ab: A) Die Engpässe auf dem Wohnungsmarkt werden zu einem Anstieg der Mieten führen, und zwar gerade im Segment des einfachen Wohnraums. Damit kommt es für das untere Drittel der Einkommensschichten in Deutschland zu einer weiteren Verschlechterung ihrer Lebenssituation, die auch durch größere staatliche Ausgaben für Wohngeld nur zum Teil kompensiert werden kann. B) Auch auf dem Arbeitsmarkt wird es im unteren Qualifikations- und Lohnsegment zu einem verstärkten Wettbewerb kommen. Mit der wachsenden Zahl von Langzeitarbeitslosen unter den MigrantInnen wird der Ruf nach einem Absenken des Mindestlohns (oder der Ausnahmen für Migranten) sowie nach einem Absenken des HartzIV-Niveaus (für alle oder für Migranten) immer lauter werden (In seinem Herbstgutachten hat der Sachverständigenrat für Wirtschaft bereits einen solchen Vorschlag gemacht). Die Schwarzarbeit wird sehr stark zunehmen, und auch ohne ein formales Absenken des Mindestlohns wird der Druck auf das Lohnniveau im Niedriglohnsektor wachsen, allein schon wegen der vielen legalen und illegalen Tricks zum Unterlaufen von Arbeitsmarkt- und Lohnstandards. Alarmieren muss in diesem Zusammenhang der aktuelle Hinweis der Bundesagentur für Arbeit, dass die Flüchtlinge Hilfsjobs im Vergleich zur Aufnahme einer Ausbildung den Vorzug geben. Denn: je länger eine auf einer ausreichenden Qualifikation basierende Integration in den Arbeitsmarkt dauert, desto stärker wird der Druck auf den Niedriglohnsektor werden. Unter Ökonomen werden die Effekte des Zustroms an Flüchtlingen zurzeit kontrovers diskutiert. Das DIW geht in seinen Berechnungen davon aus, dass in einem mittleren von drei Szenarien die positiven Effekte bereits ab dem Jahre 2020 dominieren werden (Fratzscher/Junker 2015). Selbst im pessimistischen Szenarium dauert es nach dieser Studie nur zehn Jahre, bis sich die Investitionen 18 in die Aufnahme der Flüchtlinge zu lohnen beginnen. Diese Berechnungen werden von Daniel Stelter, einem Ökonomen, der bis 2013 bei Boston Consulting gearbeitet hat, massiv kritisiert (vgl. Der Spiegel, Nr. 47/2015, S. 70ff). Er moniert, dass sich das DIW nicht auf Fakten stützen könne. Die DIW-Studie beinhalte Kalkulationen, die auf verschiedenen Annahmen über eine Reihe von Faktoren basierten, wie zum Beispiel die Anzahl der Flüchtlinge, deren Qualifikation, deren Erwerbsfähigkeit, deren zusätzliche Qualifizierung und den Zeitpunkt der Integration in den Arbeitsmarkt. Über alle diese Faktoren könne man zurzeit nur spekulieren, und das DIW operiere dabei mit äußerst optimistischen Annahmen. Stelters eigene Berechnungen (Der Spiegel, a.a.O., S. 71) kommen zu einem anderen Ergebnis. Danach würde sich für Deutschland erst dann ein ökonomischer Nutzen durch die Integration der Flüchtlinge ergeben, wenn die Migranten eine Erwerbsquote von mindestens 60% erreichten sowie ein durchschnittliches Einkommen von mindestens 40 000 Euro im Jahr erzielten. Diese Werte seien jedoch kaum zu erreichen, liege doch das mittlere Einkommen der in Deutschland Beschäftigten zurzeit bei nur 36 000 Euro. Es könne kaum angenommen werden, dass die in den Arbeitsmarkt integrierten Flüchtlinge ein höheres Einkommen erwerben würden. Auch die Annahme einer Erwerbsquote von 60% oder mehr widersprächen den historischen Erfahrungen mit Migranten. Die oben erwähnten Schwierigkeiten in Schweden in Bezug auf die Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen, einem Land, das mit der Integration einer hohen Zahl von Flüchtlingen über längere Erfahrungen verfügt als Deutschland, sollten bei der Kalkulation der ökonomischen Effekte der Migration zur Vorsicht gemahnen. In diese Richtung deuten auch die Berichte der Bundesagentur für Arbeit, dass die neuen Flüchtlinge eher einen Nebenjob suchten als eine Lehrstelle. Dies alles spricht für die hier vertretene These, dass die Beschäftigen im Niedriglohnsektor zu den Hauptleidtragenden des Flüchtlingszustroms zählen und der Druck auf den Mindestlohn und den Hartz-IV-Satz zunehmen wird (vgl. auch Wolfgang Münchau 2016, der in seiner Kolumne auf Spiegelonline ähnlich kritisch argumentiert). C) Im Bereich der Staatsausgaben, in dem die etablierten Parteien an der Schuldenbremse festhalten wollen, wird es zu Verteilungskonflikten zwischen Mehrausgaben für die Migranten und Einschränkungen für die deutsche Bevölkerung kommen. Es wird der deutschen Bevölkerung kaum zu vermitteln sein, dass zur Bewältigung der 19 Integration der Flüchtlinge jährlich zweistellige Milliardenbeträge erforderlich sind, gleichzeitig aber von der heimischen Bevölkerung Kürzungen staatlicher Leistungen bzw. Steuerund Gebührenerhöhungen in diversen Bereichen zu akzeptieren seien. D) Da der Staat in den oben genannten Mangelbereichen (Kindertagesstätten, Schulen, Verwaltungen, Sozialarbeiter, Polizei) die Defizite nicht durch die Neueinstellung einer ausreichenden Zahl von Personen kompensieren wird, werden die Qualitätsstandards in den Kitas, in den Schulen, in den Verwaltungen und im Bereich der inneren Sicherheit sinken, vielfach und regional differenziert sogar deutlich sinken. Auch dies wird die Unzufriedenheit der heimischen Bevölkerung mit der Flüchtlingspolitik erhöhen. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht in der Flüchtlingspolitik einen markten Wendepunkt bilden werden. Dass der Staat sich als unfähig erwies, eine große Zahl deutscher Frauen vor Diebstählen und vor allem sexuellen Übergriffen durch Migranten, vor allem aus Nordafrika, zu schützen, hat zu einer starken Verunsicherung auch bei denjenigen Bürgerinnen und Bürgern geführt, welche die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung bislang unterstützt haben. Angesichts der Ohnmacht des Staates ist der Glaube an den cantus firmus der Kanzlerin, „Wir schaffen das!“, dem ohnehin schon vor der Jahreswende eine Mehrheit der BürgerInnen nicht mehr folgen wollte, vollends ins Rutschen gekommen. 60% der Befragten glauben nicht mehr, dass die Flüchtlingskrise zu bewältigen sei (ZDF Presseportal 2016). Die Verunsicherung der Bevölkerung ist so groß, dass die Regierungsparteien sich in heller Aufregung mit Vorschlägen zur Verschärfung des Asylrechts und des Strafrechts geradezu überschlagen. In der CDU findet in dieser Situation der bisherige Kurs der Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage immer weniger Zustimmung. Es gehört nicht sehr viel politische Phantasie dazu, um zu prognostizieren, dass unter dem Druck dieser Probleme die soziale Akzeptanz für einen weiteren Zustrom, erst recht unbegrenzten Zustrom an Migranten immer weiter sinken wird. Die Rechtspopulisten, die bereits jetzt Zuwächse zu verzeichnen haben, werden ähnlich wie in Schweden an politischer Bedeutung gewinnen. Mitte Januar 2016 lag die AfD in Umfragen bundesweit bei 11% (ZDF Presseportal 2016). Neben den aufgeführten ökonomischen, finanziellen und sozialen Problemen einer Migrationspolitik ohne Grenzen werden damit auch die Legitimationsschranken einer solchen Politik deutlich. 20 5 Eurokrise und Flüchtlingskrise lassen die Akzeptanz der EU sinken Bei den nationalen Parlamentswahlen in den „Programmländern“ sind in den letzten beiden Jahren die konservativen Regierungen abgewählt worden. Diejenigen Parteien sind aus den Wahlen gestärkt hervorgegangen, welche die Sparpolitik der EU kritisiert und für eine alternative linke Politik geworben haben. Zunächst gewann Anfang 2015 in Griechenland Syriza mit einem deutlichen Alternativprogramm zur Austeritätspolitik die nationale Parlamentswahl. Es folgte im November 2015 der Wahlsieg eines linken Parteienbündnisses in Portugal, das den Sturz der konservativen Regierung Passos Coelho und die Machtübernahme durch den Sozialisten Costa herbeiführte. Und schließlich kam es in Spanien bei den Wahlen im Dezember 2015 zur Niederlage der Regierung Rajoy. Aus den Wahlen gingen als neue politische Kräfte die linke Bewegung Podemos und die liberale Partei Ciudadanos gestärkt hervor. Bei den Wahlen in Griechenland und in Spanien spielte auch eine starke Rolle, dass sowohl die Konservativen als auch die Sozialisten von den Bürgerinnen und Bürgern abgestraft wurden, weil sie sich über Jahre den Staat zur Beute gemacht und ein weit verzweigtes Korruptionssystem aufgebaut hatten. Lässt sich für diese drei Staaten sagen, dass hier die Wähler aufgrund der sozialen Krise eine „linke“ Alternative zum herrschenden Spardiktat suchten, fällt die Bewertung der Parlamentswahl in Italien Anfang 2013 differenzierter aus. Hier siegte zwar im Abgeordnetenhaus mit knappem Vorsprung vor dem Mitte-Rechts-Bündnis um Berlusconi das Mitte-LinksParteienbündnis „Bene Comune“ um den Sozialsten Bersani, im Senat entstand aber zwischen beiden Bünden ein politisches Patt. Darüber hinaus schnitt das populistische Bündnis „MoVimento 5 Stelle“ um Beppe Grillo überraschend stark ab und erzielte in beiden Häuser ein Viertel der Stimmen. Im Europaparlament bildet der „MoVimento 5 Stelle“ eine gemeinsame Fraktion mit den rechtspopulistischen britischen UKIP und den „Schwedendemokraten“, was seine ausgeprägt rechtsnationalistische Haltung zur EU dokumentiert. Bedenkt man ferner, dass im Mitte-RechtsBündnis Berlusconis mit der „Lega Nord“ eine weitere rechte EU-kritische Partei stark vertreten ist, addieren sich die nationalpopulistischen Kräfte in Italien auf ca. ein Drittel der Wählerschaft. Zwar wächst im früher extrem europafreundlichen Italien auch die linke EU-Kritik, diese fällt aber wesentlich gemäßigter aus als die Kritik der Rechten. Der seit Anfang 2014 amtierende Ministerpräsident Renzi des Mitte-Links-Bündnisses führt einerseits im Inneren Reformen durch, die der Blaupause der EUAusteritätspolitik entsprechen (z.B. die Arbeitsmarktreformen, vgl. Telljohann 2016), kritisiert aber andererseits nach außen immer stärker 21 das harte europäische Sparregime sowie die dominante Politik Deutschlands in der Wettbewerbs-, Banken- und Energiepolitik der EU. Aufgrund der Austeritätspolitik seien bei den Wahlen in Portugal und Spanien die amtierenden Regierungen aus dem Amt gejagt und radikale linke Kräfte gestärkt worden, moniert er. Im Unterschied zum Süden der EU sind in den letzten Jahren in den übrigen Mitgliedstaaten die politischen Kräfte am rechten Rand des Parteienspektrums gestärkt worden, die durch eine nationalpopulistische EU-Kritik auffallen. So haben bei den EP-Wahlen im Mai 2014 innerhalb des konservativen Parteilagers die Rechtspopulisten an Macht gewonnen, und dies vor allem aufgrund der Wahlergebnisse in Großbritannien, den skandinavischen Ländern, Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden, Österreich sowie in einigen osteuropäischen Staaten, vor allem in Ungarn. In jedem dieser Länder ist diese Tendenz zur Wahl nationalpopulistischer Parteien jedoch auf eine unterschiedliche Mixtur von mehreren Gründen zurückzuführen: - eine historisch gewachsene Abwehrhaltung gegen den Prozess der europäischen Integration, - die durch die Austeritätspolitik der EU verschärfte ökonomische Krise mit wachsender Arbeitslosigkeit, Einkommenseinbußen und Sozialabbau, - eine ablehnende Haltung gegenüber Merkel-Deutschland, das für die harte Sparpolitik verantwortlich gemacht wird, - die Zunahme der innereuropäischen Arbeitskraftmigration, - der Vorwurf, die EU habe sich zu einem bürokratischen Monster entwickelt, das sich zunehmend in alle Belange der Nationalstaaten einmische, - wohlfahrtschauvinistische Haltungen gegenüber Ausländern und europäischen Partnerländern, - rassistische und fremdenfeindliche Stimmungen in der Bevölkerung, - die zunehmende Ablehnung der etablierten Parteien, denen Unfähigkeit und Korruption vorgeworfen wird. In Großbritannien, wo die United Kingdom Independence Party (UKIP) bei den EP-Wahlen zur stärksten Kraft avancierte, hat die ablehnende Haltung zur europäischen Integration Tradition. Lange Zeit wollte Großbritannien den Prozess der Integration als Weltmacht von außen beeinflussen, ohne sich selber daran zu beteiligen. Erst mit dem ökonomischen Niedergang des Landes musste Großbritannien diese Position Ende der 1960er Jahre aufgeben. In dieser Tradition wurzelt die Ablehnung jeder Form von 22 föderaler Vertiefung der europäischen Integration. Dieser skeptische Grundton gegenüber der EU hat sich in den letzten Jahren mit sozialen Ängsten aufgrund der ökonomischen Krise, der Ablehnung der zunehmenden Arbeitsimmigration und der Kritik an den herrschenden Parteien vermischt und verstärkt. Bei der Bildung der neuen Europäischen Kommission im Jahre 2014 drückte sich diese Haltung in der Ablehnung des entschiedenen Föderalisten Jean-Claude Juncker als Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten aus. Aktuell ist die Regierung Cameron nur in einem sehr beschränkten Maße zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit, die Quotenvorschläge der Europäischen Kommission lehnt sie entschieden ab. Cameron befürchtet, dass eine weitere Aufnahme von Flüchtlingen die ablehnende Haltung der Briten beim für 2017 geplanten Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU stärken könnte. In Frankreich betont die Führerin des Front National (FN) stets die ökonomischen und sozialen Aspekte ihrer EU-Ablehnung. In Frankreich dürfe es keine sozialen Verhältnisse geben wie in Rumänien oder Bangladesch. Es sei nicht im Interesse Frankreichs, sich dem Eurodiktat Deutschlands zu unterwerfen. Eine protektionistische Politik hat darüber hinaus in Frankreich seine historischen Wurzeln im Colbertismus, und auch der Gaullismus hat stets die Parole „Frankreich den Franzosen“ beschworen. Die Unfähigkeit sowohl der UMP wie der Sozialisten, die ökonomischen und sozialen Probleme des Landes zu bewältigen, haben dem FN neben laufenden Korruptionsskandalen zusätzlich in die Hände gespielt. Im Jahr 2015 ist aufgrund des terroristischen Anschlages gegen die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo sowie der Anschläge am 13. November gegen Discotheken und Restaurants die ablehnende Haltung der großen Mehrheit der Franzosen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen noch stärker geworden. Im ersten Wahlgang bei den Regionalwahlen im Dezember 2015 wurde vor allem deshalb der FN mit fast einem Drittel der Stimmen die stärkste politische Kraft. In Dänemark, Finnland und Schweden haben bei den Parlamentswahlen 2014 und 2015 die rechtspopulistischen Parteien, Dänische Volkspartei, Wahre Finnen und Schwedendemokraten, deutlich zugelegt. In Dänemark und in Finnland sind sie seit 2015 Mitglied der Regierungskoalitionen. Diese Parteien sind einerseits Ausdruck der traditionell skeptischen Haltung der skandinavischen Staaten gegenüber der europäischen Integration, andererseits sind sie in den letzten Jahren aufgrund ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einer liberalen Flüchtlingspolitik stärker geworden. Ein wachsender Anteil der dänischen, finnischen und schwedischen Bevölkerung sieht den skandinavischen Wohlfahrtsstaat 23 durch wachsende Ansprüche von Migranten bedroht und reklamiert diesen für sich allein. In Ungarn ist das Trauma des Vertrags von Trianon (1920), in dem das Land viele Gebiete an die Nachbarstaaten abtreten musste, die historische Wurzel des Nationalismus. Orbons Fidesz und die rechtsradikale Jobbik (zweitstärkste Partei in den EP-Wahlen im Mai) wurden aber erst zu dominanten politischen Kräften, nachdem die Sozialisten ihre politische Macht missbraucht hatten („Wir haben am Morgen, am Abend und in der Nacht gelogen“, bekannte der sozialistische MP Ferenc Gyurcsany nach der Wahlniederlage 2006). Der Versuch der EU, die Diskriminierung der Sinti und Roma zu bekämpfen, und die ökonomische und soziale Krise des Landes sind weitere Gründe für die europaskeptische Haltung weiter Teile der ungarischen Bevölkerung. In der EU-Flüchtlingspolitik hat sich die Regierung Orbon als härtester Gegner einer gemeinsamen europäischen Quotenregelung erwiesen. In der Abwehr und Feindschaft gegenüber Muslimen betrachtet Orbon die Ungarn als auserwähltes Volk. Auch in Polen hat 2015 eine nationalpopulistische und europaskeptische Partei, „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), unter Führung von Jaroslaw Kaczynski die Macht übernommen. Zunächst wurde im Mai der PiSKandidat Andrzej Duda zum Präsidenten des Landes gewählt, und im Oktober gewannen die Rechtspopulisten die Parlamentswahlen mit einer absoluter Mehrheit der Sitze. Sie stellen in Alleinregierung mit Beata Szydlo die Regierungschefin. Seitdem versetzt die brutale Machtstrategie der PiS die Europäische Union in helle Aufregung. Kaczynkis Partei hat mit rechtswidrigen Methoden nicht nur das Verfassungsgericht mit ihren Parteigängern besetzt und gleichzeitig dessen Rechte eingeschränkt, sondern versucht auch die öffentlichen Medien, die Geheimdienste und den Beamtenapparat gleichzuschalten. „Das Recht muss uns dienen“, verkündete der PiS-Abgeordnete Morawiecki (vgl. SZ Nr. 14, 19.1.2016). Den Bürgerprotest des „Komitees zur Verteidigung der Demokratie“ (KoD) versucht die Regierung mit Geheimdienstmethoden abzuwürgen. So erlaubt ein gerade verabschiedetes Gesetz die lückenlose Überwachung des Internets. Die Europäische Kommission hat deshalb im Januar ein Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit der Union gegen Polen eingeleitet, ein Instrument, das es erst seit 2014 gibt. In der Flüchtlingspolitik vertritt die Regierung Szydlo eine ähnlich radikal ablehnende Position wie die Regierung Orbon. Es zeigt sich damit insgesamt, dass die Akzeptanz der EU schwindet. In Portugal, Spanien und Griechenland wird die Austeritätspolitik von den linken politischen Kräften kritisiert. Im Löwenanteil der übrigen 24 Mitgliedstaaten gewinnen die nationalpopulistischen Parteien, welche die EU grundsätzlich ablehnen, zunehmend an Gewicht. In den meisten Staaten erreichen die rechtspopulistischen Parteien bei den nationalen Parlamentswahlen inzwischen ein Viertel bis ein Drittel der Wählerstimmen. Dies ist eine bedrohliche Entwicklung für die Zukunft der europäischen Integration. 6 Droht die EU zu scheitern? Die EU befindet sich momentan in der größten Krise seit Beginn des Integrationsprozesses: A) Sie ist nicht in der Lage, die Strukturmängel der WWU zu beseitigen, alle diesbezüglichen Pläne sind bislang gescheitert. In einer neuen großen Wirtschaftskrise bleibt die EU damit nur begrenzt handlungsfähig. B) Aufgrund der Austeritätspolitik haben die ökonomischen und sozialen Differenzen und Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten in der Eurozone stark zugenommen. Deutschland hebt sich vom Rest der Eurozone und auch von den beiden anderen großen Volkswirtschaften Frankreich und Italien deutlich ab. Die zweistelligen Arbeitslosenraten gehen in Portugal, Spanien, Italien und Griechenland nur langsam zurück. C) Die Vorschläge der Europäischen Kommission zur Lösung der Flüchtlingskrise werden von der überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten abgelehnt. Diese weigern sich schlichtweg, mehr Asylbewerber und Flüchtlinge aufzunehmen (non-compliance). D) Schon bei den EP-Wahlen 2014 zeigte sich, dass die EU am linken und am rechten Rand des Parteienspektrums immer stärker an Gefolgschaft verliert. Dies war im hohen Maße auch auf die sozialen Folgen der Austeritätspolitik zurückzuführen. Im Zuge der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ist diesen Abkehr von der EU noch wesentlich stärker geworden, was an dem großen Zuwachs der rechtspopulistischen Parteien in vielen Mitgliedstaaten sichtbar wird. Die EU ist damit gefesselt, und es ist im Unterschied zu den früheren Integrationskrisen nicht erkennbar, wie sie sich aus dieser Lage befreien kann, um wieder handlungsfähig zu werden. Die aktuelle Integrationskrise ist schwerwiegender als die oben aufgeführten früheren Krisen (vgl. Kapitel 1). Der EU gelingt es nicht mehr, Politikfelder, wie die Fiskalpolitik oder die Flüchtlingspolitik, welche Kernbereiche der nationalen Souveränität und der nationalen Identität betreffen, auf die europäische Ebene zu transferieren bzw. darin eine Zustimmung für europäische 25 Lösungsvorschläge zu erreichen (non-compliance). Aufgrund des starken nationalistischen Grundtons in den Mitgliedstaaten scheitern alle Bemühungen, die Integration zu vertiefen. Damit können weder die Eurokrise noch die Flüchtlingskrise bewältigt werden, und diese Misserfolge der EU lassen die nationalistischen Töne abermals schriller werden. Die Legitimation der europäischen Integration befindet sich in einer Abwärtsspirale. Der verzweifelte Appell von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 15.1.2016 an die Mitgliedstaaten, in dem er sie auffordert, ihre Haltung in der Flüchtlingskrise zu überdenken, weil ansonsten die Freizügigkeit im Schengen-System zusammenbrechen werde, was letztlich auch den Euro gefährde, macht die Dramatik der Lage deutlich. Das Schengen-System ist bereits im Jahre 2015 brüchig geworden, und zwar an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien und an der Grenze zwischen Slowenien und Kroatien, aber am deutlichsten an der Grenze zwischen Schweden und Dänemark, wo die Personenkontrollen beim Übergang nach Schweden inzwischen wieder zum Standard geworden sind. Partielle Einschränkungen von Schengen gibt es im Gefolge dieser Maßnahme am Öresund auch an der Grenzen zwischen Dänemark und Deutschland und zwischen Deutschland und Österreich. Zu einer weiteren deutlichen Zuspitzung der Lage im Schengenraum ist es seit dem 20.1.2016 durch die Ankündigung der Regierung Österreichs gekommen, für das Jahr 2016 eine Obergrenze für den Zustrom von Flüchtlingen einzuführen. Diese soll in diesem Jahr bei 37 500 Asylbewerbern liegen. Bis Mitte 2019 sollen maximal 127 500 aufgenommen werden. Diese Zahlen entsprechen einem Anteil der Asylbewerber an der Bevölkerung Österreichs von 1,5%. Diese Entscheidung Österreichs, die drei Wochen nach dem Beschluss Schwedens getroffen worden ist, die Grenzen effektiver zu kontrollieren, setzt Deutschland noch mehr unter Druck, zumal Österreich bislang eng mit Deutschland in der Flüchtlingspolitik kooperiert hat. Inzwischen haben aufgrund der Entscheidung Österreichs Slowenien, Kroatien und weitere Balkanstaaten mit zusätzlichen verschärften Grenzkontrollen reagiert. Mazedonien baut im Moment mit großer materieller Unterstützung durch Ungarn, Tschechien und die Slowakei einen Grenzzaun. Nur noch Flüchtlingen, die aussagen, nach Deutschland gelangen zu wollen, wird die Weiterreise erlaubt. Der Erhalt des Schengen-Systems wird in naher Zukunft vor allem von zwei Faktoren beeinflusst werden. Einerseits von der Frage der Reduktion des 26 Flüchtlingszustrom nach Europa/Deutschland. Ob die schärferen Kontrollen in der Türkei, der effektivere Einsatz von Frontex, die Erhöhung der Zahl der sicheren Drittstaaten sowie die Zurückweisung von Flüchtlingen ohne Pass oder falscher Identität ausreichen werden, die Zahl der Flüchtlinge nennenswert zu verringern, ist zweifelhaft. Die Konfliktherde im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika werden nicht geringer, eher im Gegenteil, so dass der vom UNHCR zwischen 2010 und 2014 beobachtete Trend, eines äußerst starken Zuwachses an neuen Flüchtlingsbewegungen auch 2016 anhalten dürfte. Die Zukunft dieses Raumes ist andererseits von der Frage der objektiven und subjektiven Überforderung Deutschlands abhängig. Die objektive Überforderung des Landes ist bereits weiter oben (Kapitel 4.3) ausführlich diskutiert worden, und es ist davon auszugehen, dass sich diese Situation mit einem anhaltenden starken Zustroms an Flüchtlingen noch weiter verschärfen wird. Das subjektive Überforderungsgefühl in der deutschen Bevölkerung ist aufgrund der Ereignisse in der Kölner Silvesternacht sprunghaft angestiegen (ZDF Presseportal 2016). Es muss realpolitisch leider angenommen werden, dass der IS versuchen wird, diese Lage auszunutzen. Mit weiteren Anschlägen, wie auf dem Sultanahmet-Platz in Istanbul, und auch in Deutschland muss jederzeit gerechnet werden. Solche terroristischen Anschläge würden das subjektive Überforderungsgefühl der deutschen Bevölkerung noch einmal erheblich erhöhen, ähnlich wie in Frankreich die Anschläge gegen Charlie Hebdo sowie am 13. November 2015 die Haltung der französischen Bevölkerung in der Flüchtlingsfrage deutlich verhärtet haben. Die Regierung Merkel kommt in dieser Situation immer stärker unter Druck. Die CSU, aber auch weite Teile der CDU werden angesichts der schlechten Umfragewerte vor den Landtagswahlen im März immer nervöser und fordern, dass die Regierung endlich effektive Schritte zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen einleiten müsse. Ähnliche Forderungen sind aus der SPD zu vernehmen, die bislang den Kurs der Kanzlerin unterstützt hat. Auch die stellvertretene CDU-Vorsitzende Julia Klöckner, die in Rheinland-Pfalz bei den Landtagswahlen im März als Spitzenkandidatin antritt, ist am 23. Januar in das Lager der Kritiker gewechselt und fordert jetzt durch verstärkte Kontrollen an den deutschen Grenzen eine nennenswerte und schnelle Reduktion der Flüchtlingszahlen unabhängig von den Verhandlungen mit den EU-Staaten. Aus all diesen Überlegungen folgt, dass die Regierung ihren Kurs, auf eine europäische Lösung zu hoffen und auf jeden Fall den Schengen-Raum zu verteidigen, weil dessen Aufgabe negative ökonomische Folgen haben würde, nicht mehr lange durchhalten kann. 27 Die Erosion des Schengen-Raums würde den Handelsverkehr in der EU verteuern. Deutschlands Außenhandel mit den EU-Staaten wird zu 80% über den Landverkehr abgewickelt. Die transnational verflochtenen Wertschöpfungsketten sowie die Just-In-Time-Logistik vieler Konzerne sind auf einen reibungslosen Transportverkehr angewiesen. Der DIHK rechnet deshalb damit, dass sich aufgrund permanenter Grenzkontrollen für die deutsche Wirtschaft zusätzliche Kosten von jährlich ca. 10 Mrd. Euro gegeben würden. Die Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen würde sich deshalb als Angebotsschock negativ auf die Konjunktur auswirken. Sie hätte aber darüber hinaus mit hoher Wahrscheinlichkeit noch wesentlich gravierendere ökonomische Folgen. Zum einen ist zu erwarten, dass diese Maßnahme an den Finanzmärkten Schockwirkungen auslösen würde. Da diese momentan ohnehin unter Stress stehen (Bsirske/Busch 2015), könnte ein neuer Crash an den Finanzmärkten in Verbindung mit den weiteren Belastungsfaktoren der Weltwirtschaft (IMF 2016) auch negative Folgen für die Investitionen in der Realwirtschaft haben und damit das ohnehin prekäre Wachstum der Weltwirtschaft noch weiter beeinträchtigen (vgl. IMF 2016). Zum anderen würden die negativen Signale, die von der Wiedereinführung der Grenzkontrollen ausgingen, auch die Eurokrise neu anheizen können. Momentan zeichnet sich in Portugal, Spanien, Italien und Frankreich ohnehin eine Auflockerung des strengen europäischen Sparregimes ab, und dies könnte in Verbindung mit einer Stimmung, dass der EU die Kontrolle über Ökonomie und Politik entgleitet, die Eurokrise neu aufflackern lassen. Zwar würde Draghi wieder auf der Bildfläche erscheinen und erneut „whatever it takes“ verkünden, aber die Glaubwürdigkeit der EU und der Eurozone wären so stark in Frage gestellt, dass auch Eingriffe der EZB nicht mehr helfen könnten. Die Gefahr einer massiven politischen und ökonomischen Integrationskrise war in der Geschichte Europas nie größer als heute. Das Jahr 2016 wird zum Schicksalsjahr der Europäischen Union. Literatur Akerlof, G. A./Shiller, R.J. (2009): Animal Spirits: Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Frankfurt/Main Balzter, Sebastian (2016): Abschied von der schwedischen Großzügigkeit, FAZ-Net, 12.1.2016 Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (2014): 84. Jahresbericht, Basel 28 Bellera-Kirchhoff, Ricard (2016): Spanien, in: Bsirske, Frank/Busch, Klaus/ Höbel , Olivier-Andre/Knerler, Rainer/ Scholz, Dieter (Hrsg.) (2016): Gewerkschaften in der Eurokrise - Nationaler Anpassungsdruck und europäische Strategien, VSA, Hamburg (i.E.) 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