Klaus Busch Januar 2016 Droht die europäische Integration zu

Klaus Busch
Januar 2016
Droht die europäische Integration zu scheitern? Die Eurokrise und die
Flüchtlingskrise gefährden die Existenz der EU
Die europäische Integration befindet sich aktuell in der schwierigsten
Phase seit Inkrafttreten der Römischen Verträge. Die EU ist trotz
verschiedener Anläufe nicht in der Lage, die Strukturmängel der
Maastrichter Wirtschafts- und Währungsunion zu heilen, und aufgrund der
Flüchtlingskrise steht das Schengen-System kurz vor dem Zusammenbruch,
weil sich die Mitgliedstaaten nicht auf eine gemeinsame Verteilung der
Flüchtlinge verständigen können. Aufgrund dieser beiden Prozesse
verstärken sich in vielen Teilen Europas die Re-Nationalisierungstendenzen
rapide.
In diesem Beitrag wird die Gefahr eines Scheiterns der europäischen
Integration diskutiert. Der Text beginnt mit einem kurzen Blick auf die
bisherigen Krisenphasen der Integration, die nach einiger Zeit stets
überwunden werden konnten. Danach werden die vergeblichen Versuche
dargestellt, die Strukturmängel der WWU zu überwinden, und darüber
hinaus die gravierenden negativen ökonomischen und sozialen Folgen der
Austeritätspolitik erörtert, der sich die EU zur Überwindung der Eurokrise
verschrieben hat. Es folgt eine Analyse des nahezu kompletten Versagens
der EU, sich in der Flüchtlingskrise auf eine gemeinsame solidarische
Politik zu verständigen. Ein weiteres Kapitel zeigt auf, dass die EU aufgrund
der Nichtbewältigung der Euro- und der Flüchtlingskrise in eine immer
stärker werdende Legitimationskrise gerät. Am linken und am rechten
Rand des Parteienspektrums wächst die grundsätzliche Kritik an der
europäischen Integration und die Ablehnung der EU deutlich. In den
Schlussfolgerungen wird die These vertreten, dass der Zusammenbruch des
Schengen-Systems äußerst negative Auswirkungen auf die Konjunktur und
auf die Finanzmärkte haben würde. Auch ein Wiederaufleben der Eurokrise
wäre sehr wahrscheinlich. Das alles würde die EU weiter destabilisieren.
1 Integrationskrisen in der Geschichte der EU
Der europäische Integrationsprozess hat sich seit Beginn der 1950er Jahre
immer in Aufschwungs- und in Abschwungsphasen vollzogen. Im
1
historischen Trend hat sich dabei jedoch eine stetige Vertiefung der
Integration ergeben (Pfetsch/Beichelt 2005).
Nach der Gründung der EGKS (Montanunion) durch sechs Staaten im Jahre
1951 scheiterte 1954 der Vertrag zur Gründung einer Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft (EVG), der auch die Möglichkeit der Gründung
einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) beinhaltete, am Votum
der französischen Nationalversammlung. Aus diesem gravierenden
Rückschlag
für
die
militärischen
und
die
politischen
Integrationsbemühungen zogen die sechs EGKS-Staaten den Schluss, sich
zunächst auf den weniger souveränitätsgeladenen Prozess der
wirtschaftlichen Integration zu konzentrieren.
Mit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge im Jahre 1958 gründeten sie
die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die sich die Bildung einer
Zollunion und eines Gemeinsamen Marktes zum Ziele setzte. Kaum
begonnen, schienen diese Bemühungen 1965 schon wieder gestoppt zu
werden, als der französische Präsident Charles de Gaulle mit seiner „Politik
des
leeren
Stuhles“
verhinderte,
dass
im
Ministerrat
Mehrheitsentscheidungen gegen die Interessen Frankreichs getroffen
werden konnten. Mit dem Luxemburger Kompromiss von 1966 und dem
darin enthaltenen Beschluss, Mehrheitsentscheidungen zu vermeiden,
wenn ein Staat „vitale Interessen“ geltend machen kann („to agree to
disagree“), wurde diese erste große Krise der EWG überwunden.
Die Haager Gipfelkonferenz von 1969 leitete die nächste
Aufschwungsphase der Integration mit den Beschlüssen ein, bis 1980
schrittweise eine Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) einzuführen
(Werner-Plan) und mit den EFTA-Staaten Verhandlungen über den Beitritt
zur Gemeinschaft zu beginnen. Während die Nord-Erweiterung der
Gemeinschaft um Großbritannien, Irland und Dänemark 1973 erfolgreich
abgeschlossen werden konnte, zerbrach der Werner-Plan zur Einführung
der WWU Mitte der 1970er Jahre an den Folgen der Weltwirtschaftskrise.
Die 9er-Gemeinschaft schaltete daraufhin einen Gang zurück und beschloss
1978, zunächst mit einem System fester Wechselkurse die
Währungsintegration fortzusetzen (Europäisches Währungssystem, EWS).
Dennoch geriet der Integrationsprozess von Mitte der 1970er bis Mitte der
1980er wieder in eine Stagnationsphase, weil aufgrund der
Wirtschaftskrise die Bildung des Gemeinsamen Marktes durch die Zunahme
nicht-tarifärer Handelshemmnisse in den Mitgliedstaaten untergraben
wurde. Es kam hinzu, dass in diesen Jahren Streitigkeiten um Agrar- und
Haushaltsfragen, die gemessen an den Integrationsproblemen der
Gemeinschaft in Handels- und Währungsfragen Nebensächlichkeiten
2
darstellten, die Tagesordnung der Gemeinschaft in unangemessener Weise
belasteten. Diese Phase wurde auch mit dem Begriff der „Eurosklerose“
charakterisiert.
Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 und dem darin
enthaltenen Programm, bis 1992 einen einheitlichen Binnenmarkt mit
einem freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr zu
verwirklichen, gelang es der Europäischen Gemeinschaft, sich am eigenen
Schopfe aus der zehnjährigen Desintegrationskrise zu befreien. Ja, noch
mehr: das Projekt 1992 war das Fanal für eine lange Aufschwungsphase des
Integrationsprozesses, die erst 2005 mit dem Scheitern des
Verfassungsvertrages der EU enden sollte.
In dieser Aufschwungsphase traten der Vertrag von Maastricht (1993) mit
dem Stufenplan zur Einführung des Euro, der Vertrag von Amsterdam
(1999) mit der Verankerung einer europäischen Beschäftigungspolitik und
der Vertrag von Nizza (2003) mit einer weiteren Demokratisierung der EU
durch die vermehrte Anwendung der Mehrheitsregel (Ratsentscheidungen
mit qualifizierter Mehrheit) in Kraft. In dieser Periode wurde ferner die
Gemeinschaft um Spanien und Portugal (1986), um Österreich, Schweden
und Finnland (1995) und um acht osteuropäische Staaten sowie Malta und
Zypern (2004) erweitert. Schließlich wurde 2004 in Rom der Vertrag für
eine Verfassung für Europa unterzeichnet, der als Krönung des
mehrjährigen Vertiefungsprozesses betrachtet wurde.
Dass das Inkrafttreten dieses Verfassungsvertrag 2005 an den Referenden
in Frankreich und den Niederlanden
scheiterte, wurde als große
Niederlage für die ambitionierten Vertiefungspläne wahrgenommen. Zwar
wurden mit dem Vertrag von Lissabon, der 2007 unterzeichnet wurde,
viele Teile des Verfassungsvertrages gerettet (Ausdehnung der Anwendung
des Mitentscheidungsverfahrens in den Bereichen Polizei und Justiz,
Einführung des Amtes eines Präsidenten der Europäischen Rats, Stärkung
der Kompetenzen des Hohen Beauftragten der EU für die Außen- und
Sicherheitspolitik, Europäische Bürgerinitiative, Rechtsverbindlichkeit der
EU-Grundrechtscharta), dennoch markiert dieser Zeitpunkt auch den
Beginn einer langen Krisenperiode des Integrationsprozesses, die bis heute
anhält, ohne dass bislang ein Licht am Ende des Tunnels sichtbar werden
würde, im Gegenteil.
Mit der Großen Weltfinanzkrise von 2008/2009 gerieten viele Eurostaaten
in eine tiefe Verschuldungskrise. Im Zuge dieser Eurokrise wurden die
Strukturmängel der Maastrichter WWU-Konstruktion immer stärker
sichtbar, Defizite, welche die EU bis heute nicht zu überwinden in der Lage
war. Gleichzeitig führte das rigide Euro-Sparregime dazu, dass sich die
3
ökonomischen und sozialen Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten
vergrößerten. Belasteten bereits diese Probleme die Beziehungen zwischen
den EU-Staaten (Griechenlandkrise), wurden die innereuropäischen
Spannungen aufgrund der Unfähigkeit der EU, eine gemeinsame Politik in
der Flüchtlingskrise durchzusetzen, 2015 und 2016 immer größer. Obwohl
das Feld der Asyl- und Flüchtlingspolitik seit dem Vertrag von Amsterdam
1999 von der intergouvernementalen Säule in den Bereich der
Supranationalität überführt worden ist, sperren sich viele Mitgliedstaaten
gegen die Vorschläge der Europäischen Kommission zur Bewältigung der
Flüchtlingskrise, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung eines
Verteilungssystems.
Dieser kurze Abriss des Auf und Ab in der Geschichte des
Integrationsprozesses lehrt zunächst, dass es wesentlich schwieriger ist, im
Bereich der souveränitätsgeladenen Politikfelder (so genannte „high
politics“), wie der Außen- und Sicherheitspolitik, Integrationsfortschritte zu
erzielen als im Bereich der Wirtschaft (so genannte „low politics“).
Allerdings muss hier ergänzt werden, dass sich zwar im Bereich der
Binnenmarktpolitik die Vergemeinschaftung vorantreiben ließ, aber in der
Währungspolitik dann nationale Schranken nicht überwunden werden
konnten, wenn es um die Kompetenzen in der Haushalts- und in der
Fiskalpolitik ging.
Es zeigt sich darüber hinaus, dass es selbst dann zu nationalen
Widerständen gegen eine gemeinsame Politik kommen kann, wenn das
Politikfeld prinzipiell in die Supranationalität transferiert worden ist. Dies
wurde von Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre deutlich, als viele
Mitgliedstaaten vertragswidrig mit der Einführung nicht-tarifärer
Handelshemmnisse gegen die Prinzipien des Gemeinsamen Marktes
verstießen. Dies wird auch aktuell deutlich, wenn sich die Mitgliedstaaten
im Bereich der supranationalen Asyl- und Flüchtlingspolitik gegen die
Annahme und Umsetzung einer gemeinsamen Politik zur Wehr setzen. In
Zeiten der ökonomischen Bedrohung (Weltwirtschaftskrise) oder der
Bedrohung der nationalen Souveränität und Identität (Flüchtlingskrise) ist
offensichtlich die Gefahr sehr groß, dass der Integrationsprozess durch ReNationalisierungstendenzen unterhöhlt oder gar rückgängig gemacht wird.
2 Die Strukturmängel der Wirtschafts- und Währungsunion und das
bisherige Scheitern aller Reformbemühungen
Während der seit 2010 schwelenden Eurokrise wurde sehr deutlich, dass
die Wirtschafts- und Währungsunion, wie sie im Maastrichter Vertrag
4
konzipiert worden ist, sehr große Defizite aufweist. Eine gemeinsame
Währung einzuführen, ohne gleichzeitig die Politische Union zu vollenden
und ohne parallel eine Europäische Wirtschaftsregierung zu installieren,
war schon mit dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages im Jahre 1993
als Fehlkonstruktion zu erkennen (Busch 1990). Und zwar als dreifache
Fehlkonstruktion. Erstens: Nur die Geldpolitik zu europäisieren, nicht aber
die Fiskalpolitik, beinhaltet die Gefahr, dass sich die nationalen
Staatshaushalte unterschiedlich entwickeln, Staaten im unterschiedlichen
Maße Schulden machen. Und genau das ist eingetreten. Zweitens: wenn
man europäisch nur die Geldpolitik zur Verfügung hat, lassen sich
Wirtschaftskrisen nicht gut bekämpfen, denn die andere Komponente der
Wirtschaftspolitik, die Haushaltspolitik, fehlt dann als supranationales
Instrument. Und auch das wurde schmerzlich sichtbar bei der europäisch
schlecht abgestimmten Wirtschaftspolitik in der Großen Krise 2008/2009.
Drittens: die Währung zu europäisieren, nicht aber die Lohn-, Sozial- und
Steuerpolitik, muss systembedingt zu Wettbewerbsverzerrungen führen,
und zwar aufgrund von Lohn-, Sozial- und Steuerdumping. Und auch das ist
in
vieler
Hinsicht
eingetreten,
insbesondere
durch
die
unterdurchschnittliche Entwicklung der Reallöhne in Deutschland vor der
Großen Krise, aber auch durch die Praxis des Steuerdumpings, die in vielen
Staaten zu beobachten ist.
Wegen der Integrationseuphorie in den 1990er Jahre sind alle diese Fehler
übersehen worden, Bedenken als antieuropäisch beiseite gefegt worden.
Im Verlaufe der Eurokrise sind in Politik und Gesellschaft jedoch diese
Defizite der Maastrichter WWU immer stärker in den Blickpunkt gerückt.
Dies führte in den Jahren 2011/12 dazu, dass der Präsident der
Europäischen Kommission, Barroso, und auch der Präsident des
Europäischen Rates, von Rompuy, unter dem Titel „Für eine echte und
vertiefte WWU“ Vorschläge vorgelegt haben, welche die Mängel von
Maastricht heilen sollten (Europäische Kommission 2012; Van Rompuy
2012). In einer kurzen Frist sollten danach die bereits begonnenen Schritte
zur Härtung des Stabilitätspaktes abgeschlossen werden, die unter den
Namen „Two-Pack“, „Six-Pack“ und „Verfahren zur Vermeidung
makroökonomischer Ungleichgewichte“ bekannt geworden sind. Lassen
sich diese Reformen noch als Maastricht konform bezeichnen, wurde aber
darüber hinaus im Grundsatzpapier der Europäischen Kommission,
„Blaupause“ genannt, der Maastrichter Vertrag schonungslos kritisiert. Für
eine mittlere und längere Frist wurden die Einführung einer europäischen
Fiskalkapazität (also ein größerer EU-Haushalt) und Eingriffsrechte einer
Europäischen Fiskalregierung in die nationale Haushaltspolitik gefordert.
Gleichzeitig sollte parallel auch der Ausbau der Politischen Union
stattfinden, und zwar durch die Realisierung des vollen legislativen
5
Mitbestimmungsrechts des Europäischen Parlaments, auch in Fragen der
Haushalts- und Wirtschaftspolitik.
Nach der Wahl des Sozialisten Hollande zum Präsidenten Frankreichs, im
Jahre 2012, flackerte auch für kurze Zeit die Forderung nach einer sozialen
Dimension der WWU erneut auf.
Im März 2013 wurde unter dem Titel „Stärkung der sozialen Dimension der
WWU“ ein sehr weitergehender Vorschlag aus dem Kabinett des EUSozialkommissars Andor bekannt (Non-Paper 2013). Dieses inoffizielle
Dokument, ein sogenanntes Non-Paper, geißelte nicht nur die sozialen
Folgen der Austeritätspolitik, sondern forderte neben einem europäischen
Indikatorensystem zur Messung sozialer Ungleichheiten auf den
Arbeitsmärkten (Arbeitslosenraten)
und Disparitäten in der
Einkommensentwicklung (Reallöhne, Lohnstückkosten) auch ein
Instrumentarium zur Bekämpfung dieser sozialen Missstände. Dazu sollten
nationale oder europäische Mindeststandards geschaffen und die Staaten
beim Überschreiten bestimmter Schwellenwerte zu Korrekturmaßnahmen
verpflichtet werden. Dies war der bislang progressivste Vorschlag zur
Vertiefung der sozialen Dimension der EU, der je in Kreisen der
Europäischen Kommission formuliert worden ist (vgl. dazu Bsirske/Busch
2013).
Die Diskussionen über die Vertiefung der politischen, der ökonomischen
und der sozialen Dimension der WWU hatten jedoch nur eine kurze
Halbwertzeit. Hierfür gibt es zwei Gründe: einerseits die
Wiederauferstehung des Neoliberalismus, den manche nach der Großen
Finanzkrise bereits als tot betrachtet hatten, andererseits die Zunahme des
Rechtspopulismus und der Re-Nationalisierungstendenzen in Europa.
Aufgrund der Stärke der neoliberalen Ideologie in Europa haben die
Sozialminister der EU-Staaten und die Europäische Kommission den
progressiven Vorschlag aus dem Hause Andor in der Mitteilung der
Kommission
im
Oktober
2013
zu
einem
unverbindlichen
Indikatorensystem zurückgestutzt (Europäische Kommission 2013) . Eine
soziale Dimension der WWU gibt es damit nicht. Und die spätestens mit
dem Erstarken des Rechtspopulismus bei den EP Wahlen im Mai 2014
sichtbar gewordenen Re-Nationalisierungstendenzen machen jeden
Versuch zunichte, die WWU durch eine europäischen Fiskalkapazität
größeren Volumens und eine Europäische Wirtschaftsregierung
ökonomisch zu stärken. Beides würde ebenso eine Änderung der EUVerträge erfordern wie eine Stärkung der Mitbestimmungsrechte des EP,
und dafür sind keine Mehrheiten erkennbar.
Wie gering die Ambitionen auf EU-Ebene mittlerweile sind, die WWU zu
vertiefen, macht das im Sommer 2015 veröffentlichte Papier der fünf
Präsidenten unter Federführung von Kommissionspräsident Juncker
6
deutlich, das den Titel trägt: „Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas
vollenden“ (Juncker 2015). Dieses Papier ist nicht einmal ein schwacher
Abglanz der oben erwähnten „Blaupause“ von Ende 2011. Von der
Forderung nach einer europäischen Fiskalkapazität und einer Europäischen
Wirtschaftsregierung finden sich vier Jahre später im Fünf-PräsidentenPapier kaum noch Spuren. „Ein neuer beratender Europäischer
Fiskalausschuss“ soll eingerichtet werden, der die Umsetzung der
europäischen Vorgaben in die nationale Haushaltspolitik zu bewerten hat,
und zwar ganz unverbindlich, versteht sich. Die stärkeren
Mitbestimmungsrechte des EP werden darauf reduziert, dass dieses über
den Jahreswirtschaftsbericht der Kommission vor und nach dessen
Verabschiedung diskutieren darf. Von der Stärkung der sozialen Dimension
der WWU ist im neuen Papier eine Rubrik übrig geblieben, die sich
„Stärkere Focussierung auf Beschäftigung und Soziales“ nennt, die aber
nicht einen konkreten neuen Vorschlag oder gar ein neues Instrument
enthält.
Substanz haben in diesem Papier nur zwei Forderungen: Die
Komplettierung der Bankenunion durch die Einführung eines europäischen
Einlagensicherungssystems sowie die Errichtung eines europaweiten
Systems zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Dieses System soll aus
nationalen Einrichtungen bestehen, die beurteilen sollen, ob die
Nominallöhne sich entsprechend der Produktivität entwickeln. Darüber
hinaus sollen diese Einrichtungen Vergleiche mit anderen Mitgliedsstaaten
und wichtigen Welthandelspartnern in Bezug auf die Lohnentwicklung
ziehen.
Als vorläufiges Fazit lässt sich formulieren: Der Versuch, die Wirtschaftsund Währungsunion durch Reformen zu vertiefen und damit die Defizite
der Maastrichter WWU-Konstruktion zu überwinden, ist in allen
Dimensionen gescheitert, der politischen, der ökonomischen und der
sozialen.
Damit befindet sich die EU allerdings integrationspolitisch in einer äußerst
misslichen Lage. Der Weg nach vorne, der eine Vertiefung der Integration in
den genannten Bereichen bedeuten würde, ist versperrt. Dies haben die
Ergebnisse der EP-Wahlen noch einmal in aller Brutalität sichtbar gemacht.
Der Weg zurück, der die Auflösung der Eurozone und die Wiedereinführung
nationaler Währungen beinhaltete, würde in Südeuropa, aber auch in
Deutschland, wegen der ökonomischen Anpassungsprozesse eine weitere
große Wachstums- und Beschäftigungskrise mit sich bringen und am Ende
nicht nur die Eurozone, sondern auch den Binnenmarkt zu Fall bringen. Die
EU ist damit in einem integrationspolitischen Dilemma . Sie kann nicht nach
vorne, und sie kann nicht nach hinten. Sie befindet sich damit in einer
7
integrationspolitischen Stagnationskrise, welche die in den EP-Wahlen
offenbarten Legitimationsprobleme nur noch weiter vergrößern wird.
3 Die Austeritätspolitik und ihre ökonomischen und sozialen Folgen
Auch im sechsten Jahr nach der Großen Krise hat die Wirtschaft der
Eurozone immer noch mit Wachstumsproblemen zu kämpfen, und das trotz
eines extrem niedrigen Zinsniveaus, eines niedrigen Ölpreis und eines stark
abgewerteten Euro. Im Anschluss an die beiden Rezessionsjahre 2012 und
2013 befindet sie sich seit 2014 in einer Stagnationsphase mit dürftigen
Wachstumsraten zwischen ein und zwei Prozent. Die USA erleben dagegen
seit 2010 eine deutliche Erholung von Produktion und Beschäftigung mit
BIP-Wachstumsraten von zwei und drei Prozent. Während die
Arbeitslosenrate in der Eurozone von 2010 10% auf 2014 12% angestiegen
ist, sank die Arbeitslosenrate in den USA im selben Zeitraum von 9,6 auf
6,2%. 2015 lag diese Rate in der Eurozone bei 11,5% und in den USA bei
5,4% (vgl. European Commission (2015): Statistical Annex of European
Economy, Brussels, Spring 2015; table 3 und 10)
Dieser Vergleich zwischen der Eurozone und den USA ist insofern so
interessant, weil er den unterschiedlichen Erfolg zweier gegensätzlicher
Strategien zur Überwindung einer Krise verdeutlicht. Die Eurozone hat den
Weg der Sparpolitik, der Austerität, gewählt, weil sie die Staatsschulden als
den Hauptverursacher der Krise interpretiert. Dieser Weg dämpft die
Nachfrage, erhöht die Arbeitslosigkeit, schwächt die Gewerkschaften und
lässt die Lohnkosten sinken. Dieser Weg dauert lange, bis sich erneut eine
Erholung abzeichnet, er ist mit sehr hohen sozialen Kosten verbunden, vor
allem in Form einer hohen Arbeitslosigkeit. Die Erholung setzt ein, wenn
sich die Sparpolitik dem Ende zuneigt, weil die Haushaltsdefizite
weitgehend beseitigt sind, die Angebotsbedingungen der Produktion sich
durch sinkende Löhne verbessert haben und so auch zu Erfolgen auf den
Exportmärkten führen. Die Eurozone befindet sich im Moment in einer
solchen Phase des Umschwungs.
Der alternative Weg, den die USA gewählt haben, bekämpft die Krise durch
eine expansive Geld- und Fiskalpolitik. Durch die Stützung der Nachfrage
wird die Krise rasch überwunden. Zwar steigen zunächst noch die
Staatsschulden, diese können aber in der Phase guter Wachstumsraten
nach und nach reduziert werden. Die sozialen Kosten dieser Strategie sind
wesentlich geringer als beim Austeritätsweg, den die Amerikaner deshalb
auch als „cold turkey“ bezeichnen.
Voraussetzung einer wirtschaftlichen Erholung nach einer Großen
Finanzkrise, wie der von 2008/2009, ist darüber hinaus eine Sanierung des
8
Bankensektors, also eine Verbesserung der Eigenkapitalquote und der
Rentabilität. Und auch auf diesem Felde waren die USA der Eurozone seit
2010 weit überlegen (IMF 2014a; IMF 2014b; BIZ 2014).
Der Austeritätsweg war jedoch in der Eurozone nicht nur wegen der
hohen Arbeitslosigkeit verhängnisvoll, er hat darüber hinaus auch die
ökonomische Spaltung zwischen den Mitgliedstaaten deutlich verstärkt.
Während die Arbeitslosenraten nach 2010 in Ländern, wie Deutschland,
den Niederlanden, Belgien und Österreich, im einstelligen Bereich lagen,
stiegen sie in Irland, Portugal, Italien, Frankreich und einigen
osteuropäischen Staaten auf zweistellige Werte an und erreichten in
Spanien mit 24% und in Griechenland mit 26% 2014 Negativrekorde. Statt
die ökonomische Kluft in Europa durch eine europäische
Wachstumsstrategie (Marshall-Plan) abzubauen, wurden die Gräben
zwischen den Staaten durch die Spar- und vor allem die Troika-Politik noch
vertieft. Dies hat nicht nur die ökonomischen, sondern auch die sozialen
Differenzen in Europa verstärkt (Busch/Hermann/Hinrichs/ Schulten
2012)
Durch massive Eingriffe in die Tarifvertragssysteme hat die
Austeritätspolitik die Gewerkschaftsmacht in Europa stark geschwächt (vgl.
Bsirske, Frank/ Busch, Klaus/ Höbel , Olivier-Andre/Knerler, Rainer/ Scholz, Dieter 2016). Das gilt vor allem für Irland und Rumänien, wo
ehedem weitgehend zentralisierte Tarifvertragsstrukturen in ein jetzt
überwiegend
dezentrales
System
mit
Verhandlungen
auf
Unternehmensebene transformiert wurden. Aber auch in den
südeuropäischen Staaten Portugal, Spanien, Italien und Griechenland sind
die Tarifvertragssysteme massiv verändert worden. Zwar sind die
Flächenverträge formal erhalten geblieben, sie wurden aber durch
Reformen, welche die internationalen Institutionen durchgesetzt haben, in
starkem Maße unterminiert.
Die Aushöhlung der Flächentarifvertragsstrukturen beruht in diesen
Ländern im Wesentlichen auf den folgenden drei Maßnahmen: (1) dem
Vorrang
von
Unternehmensvereinbarungen
vor
sektoralen
Vereinbarungen, zum Beispiel durch die Abschaffung bzw. Umkehrung des
Günstigkeitsprinzips.
Dies
bedeutet,
dass
in
der
Praxis
Unternehmensvereinbarungen sektorale Standards unterlaufen können;
(2) die weitgehende Rücknahme der rechtlichen Unterstützung des
Flächentarifvertragssystems, zum Beispiel durch die Einführung
restriktiverer Kriterien für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
Tarifverträgen; (3) die Ausweitung der Möglichkeiten für gewerkschaftlich
nicht organisierte Gruppen von Arbeitnehmern, Verhandlungen auf
Unternehmensebene zu führen (Müller/Platzer 2016).
9
Im Gefolge dieser Eingriffe ist in Portugal, Spanien und Griechenland die
Zahl der sektoralen Tarifabkommen von 2008 bis 2013 dramatisch
gesunken: in Portugal von 172 auf 27, in Spanien von 1448 auf 887 und in
Griechenland von 202 auf 14. Mit Recht kann hier von einer DeKollektivierung
der
Arbeitsbeziehungen
gesprochen
werden
(Müller/Platzer 2016)
Auch in den anderen europäischen Ländern ist krisenbedingt die Zahl der
Tarifvereinbarungen zurückgegangen, allerdings längst nicht in dem
Umfang wie in den Programmländern. In Europa ist deshalb generell ein
Rückgang des Tarifdeckungsgrades zu verzeichnen. Eine Ausnahme bilden
hier nur Finnland, Österreich, die Niederlande und Belgien. In Deutschland
nahm der Deckungsgrad von knapp 70% im Jahre 2000 auf knapp 60% im
Jahre 2012 ab, in Schweden von 93% auf 88% und in Großbritannien von
36% auf 29%.
Dagegen waren die Abnahmewerte in Portugal, Spanien und Griechenland
dramatischer: in Portugal lauten die Werte 93% und 32%, in Spanien 83%
und 67% und in Griechenland 85% und 50% (Müller/Platzer 2016) In
Spanien ist der Wert bis 2014 noch weiter gefallen, und zwar auf 50%
(Bellera-Kirchhoff 2016)
Es ist nicht verwunderlich, dass im Gefolge dieser Schwächung der
gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht in der Zeit von 2008 bis 2014
tarifpolitische Erfolge in vielen Ländern ausblieben. In 13 der 28 EUStaaten sind in diesem Krisenzeitraum die Reallöhne abgesenkt worden
(European Commission 2015; table 31). Darüber hinaus gelang es in 18 der
28 Staaten nicht, den verteilungsneutralen Spielraum auszuschöpfen,
nahmen die Reallöhne nicht im selben Maße zu wie die Produktivität
(European Commission 2015; table 34). Besonders schwach waren erneut
die relativen Lohnergebnisse in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Für die
Position der Gewerkschaften in Europa ist es besonders bedrohlich, dass
aufgrund der Austeritätspolitik jetzt auch die ehedem sehr starken
Gewerkschaften in Südeuropa erheblich an Tarifmacht verloren haben und
in allen vier Ländern die Reallöhne in der genannten Krisenperiode
gesunken sind.
4 Das Versagen der EU in der Flüchtlingskrise
4.1 Die Ursachen der Flucht
Die Ursachen der wachsenden Flüchtlingsströme sind einerseits in den
veränderten Rahmenbedingungen der Weltpolitik und andererseits damit zusammenhängend - in der
steigendende Anzahl scheinbar
10
unkontrollierbarer Konfliktherde vor allem im Nahen und Mittleren Osten
sowie in Afrika zu suchen.
Seit dem Zusammenbruch der Bipolarität in den 1990er Jahren, die mit
einer gleichzeitigen Schwächung der Großmächte USA und Russland
verbunden war, haben regionale Kriege, Bürgerkriege im Nahen und
Mittleren Osten, Bürgerkriege in Afrika, Flucht und Vertreibung von
mehreren Millionen Menschen kaum noch zu kontrollierende Dimensionen
angenommen. Insbesondere in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten
gewinnt das Phänomen der „failed states“, von Staaten, deren
Gewaltmonopol zusammengebrochen ist, die deshalb nur noch
Staatsruinen bilden, eine wachsende Bedeutung. Insbesondere diese
Regionen sind für die massiven und zunehmenden Migrations- und
Flüchtlingsströme in der Welt verantwortlich. Im Nahen und Mittleren
Osten zählen insbesondere Syrien, der Irak, der Libanon, Libyen und der
Jemen zu diesen Staaten.
Auch in Afrika steigt die Zahl dieser Staatsruinen unaufhörlich. Häufig
dominieren verschiedene Bürgerkriegsmilizen, die einander bekämpfen,
das jeweilige Land und bringen es so in einen Zustand der permanenten
Destabilisierung. Der US-amerikanische Think Tank „Fund for Peace“ hat
auf der Basis von politischen, sozialen und ökonomischen Faktoren einen
Index zur Messung der „failed states“ zusammengestellt. Unter den 34
Staaten der Welt, die am stärksten gefährdet sind, befinden sich allein 22
Staaten aus Afrika, an ihrer Spitze der Südsudan, Somalia, die
Zentralafrikanische Republik, die Demokratische Republik Kongo und der
Sudan (Fund for Peace 2015)
Eine unmittelbare Folge der unerträglichen Zustände für die in diesen
Staaten lebenden Menschen sind Flucht und Vertreibung. Unter den ca. 22
Millionen Flüchtlingen, die der UNHCR, das Flüchtlingskommissariat der
UN, Ende 2014 weltweit zählte – Flüchtlinge, welche die Landesgrenzen
überschritten haben - stammt die Hälfte aus Afrika sowie dem Nahen und
Mittleren Osten. Einschließlich der Binnenflüchtlinge lag die Gesamtzahl
weltweit Mitte 2015 bei ca. 60 Millionen. Dabei ist in den letzten Jahren
durch die Zunahme von Konfliktherden die Zahl der Flüchtlinge dramatisch
angestiegen: allein 2014 kamen ca. 14 Mio. Flüchtlinge neu hinzu, das
waren viermal mehr als im Jahre 2010 (UNHCR 2015)
Da die UN, vor allem aber die Großmächte nicht in der Lage sind, die
politischen Konflikte in diesen Teilen der Welt zu lösen, muss das
Phänomen der Flüchtlings- und Asylbewerberstroms nach Europa in den
nächsten Jahren als dauerhaft betrachtet werden.
11
Vor diesem Hintergrund ist die Argumentation, die innerhalb der Linken in
Europa stark verbreitet ist, nur durch eine Überwindung der Ursachen der
Flucht könne die Zahl der Migranten zurückgehen, zwar einerseits abstrakt
richtig, andererseits im Hinblick auf die Handlungsoptionen in Europa
wenig zielführend ist. Denn die genannten Ursachen, z.B. der Syrienkrieg
und andere Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika,
werden in einem von heute überschaubaren Zeitraum von fünf bis zehn
Jahren nicht beseitigt werden können.
4.2 Die Politik der Europäischen Union in der Flüchtlingskrise
Aus ökonomischen und sozialen Gründen wäre es für die EU-Staaten kein
Problem, jährlich einen Migrantenstrom von ein bis zwei Millionen
Menschen zu integrieren, solange sich die Staaten auf einen gemeinsamen
und fairen Verteilungsschlüssel verständigen können. Ökonomisch wäre es
angesichts der demographischen Probleme für viele EU-Staaten sehr
sinnvoll, Zuwanderer aufzunehmen, sie zu qualifizieren und in die
Arbeitsmärkte zu integrieren.
Tatsache ist, dass die EU zurzeit weit davon entfernt ist, eine solche
rationale politische Lösung durchzusetzen. Außer Schweden, Deutschland
sowie Österreich sind alle anderen Staaten aus unterschiedlichen Gründen
nicht bereit, Flüchtlinge auch nur vorübergehend aufzunehmen. Das
Dublin-System der so genannten sicheren Drittstaaten ist – obwohl
rechtlich immer noch in Kraft – faktisch ausgesetzt worden. Länder wie
Griechenland, Italien, vor allem aber Bulgarien, Ungarn, Kroatien und
Slowenien betrachten sich als Transitstaaten, welche den bei Ihnen
ankommenden Migranten auf dem Weg nach Deutschland, Schweden und
Österreich Hilfestellung leisten. Sie verstoßen damit gegen EU-Recht –
allerdings mit faktischer Duldung durch Deutschland - und betreiben – hart
formuliert – ein staatlich organisiertes Schleppersystem, das dem
ausschließlichen Ziel dient, sich der Flüchtlinge zu entledigen. Besonders
markant ist die Ablehnung von Migranten in den Staaten Osteuropas, aber
selbst Staaten, wie Großbritannien und Frankreich, sind nicht bereit,
Flüchtlinge in nennenswerter Zahl aufzunehmen, haben sie doch Angst, die
Rechtspopulisten ihrer Länder, UKIP und FN, könnten dann einen noch
stärkeren politischen Zulauf verzeichnen. In Frankreich hat sich die
ablehnende Haltung gegenüber Migranten nach dem zweiten großen
Terror-Anschlag in Paris, am 13. November 2015, noch weiter verstärkt.
Das Ergebnis des ersten Wahlganges der Regionalwahlen am 6.12.2015, aus
dem der FN mit 28% als stärkste Partei hervorging, ist auch Ausdruck
dieser Verhärtung Frankreichs in der Flüchtlingsfrage.
Die bisherige Hilflosigkeit der EU im Versuch, eine gemeinsame Politik in
12
der Flüchtlingskrise zu entwickeln,
eindrucksvoll dokumentiert:
wird
durch folgende Fakten
 Die Vereinbarung der EU-Staaten vom Juni 2015, 40000 Flüchtlinge
aus Italien und Griechenland durch freiwillige Zusagen auf die
übrigen Mitgliedstaaten zu verteilen, um so wenigstens symbolisch zu
zeigen, dass die EU in der Flüchtlingsfrage handlungsfähig ist, harrt
auch noch im Januar 2016 der kompletten Realisierung. Immer noch
fehlen 8000 Zusagen zur vollständigen Umsetzung des Beschlusses.
 Fast noch beschämender für die EU ist die Umsetzung des Ende
September gegen den Widerstand etlicher osteuropäischer Staaten
mit Mehrheit gefasste Beschluss, auf der Basis eines
Verteilungsschlüssels
(Kriterien:
Bevölkerungszahl,
Wirtschaftsleistung, Arbeitslosenquote) 160 000 Flüchtlinge aus
Syrien, dem Irak und Eritrea, die sich bislang in Italien und
Griechenland befinden,
auf die übrigen Mitgliedstaaten
umzuverteilen. Von diesen 160 000 Flüchtlingen sind Mitte Januar
ganze 272 (sic!) Personen in andere Staaten umgesiedelt worden.
 Auf einem EU-Türkei-Gipfeltreffen Ende November 2015 wurde
folgende Vereinbarung getroffen, in welche insbesondere die
Bundesregierung große Hoffnungen setzt: A) die Türkei will die EU
bei dem Versuch, den Flüchtlingsstrom aus Syrien weitgehend zu
stoppen, grundsätzlich unterstützen, indem sie in Kooperation mit
Griechenland ihre Küstengewässer strenger bewacht. B) Die EU
sichert zu, der Türkei jährlich ein Kontingent an Flüchtlingen
abzunehmen, das auf der Basis eines Verteilungsschlüssels auf die
Mitgliedstaaten verteilt werden soll. Inoffiziell wurde für das
Kontingent eine Zahl von 400 000 Menschen genannt. Am Rande des
Gipfels haben sich acht (!) EU-Staaten getroffen, die bereit sein sollen,
sich an dieser Umverteilungslösung zu beteiligen. C) Die Türkei erhält
für diese Kooperationsbereitschaft von der EU folgende
Gegenleistungen: drei Milliarden Euro für den Aufbau von weiteren
Flüchtlingslagern, die Abschaffung der Visumspflicht bei der Einreise
türkischer Bürger in die EU ab Oktober 2016 sowie die
Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der EU.
Es zeichnet sich bereits jetzt ab, dass dieses EU-Türkei-Abkommen
keinen nennenswerten Beitrag zu Lösung der EU-Flüchtlingskrise
leisten wird und darüber hinaus aus demokratischer und
humanitärer Perspektive höchst problematisch ist.
Erstens: bis heute (Mitte Januar 2016) ist der Flüchtlingsstrom, der in
13
Slowenien (täglich ca. 4000 Menschen) und in Deutschland (täglich
ca. 3300 Menschen) ankommt, nicht wesentlich verringert worden,
und das trotz Einbruchs des Winters. Hoch gerechnet auf ein Jahr sind
dies 1,2 bis 1,5 Millionen Flüchtlinge. Diese Zahlen entsprechen auch
den Angaben der griechischen Behörden, die berichten, dass der
Flüchtlingsstrom aus der Türkei sich nicht nennenswert verändert
habe. Der UNHCR meldet, dass bis zum 17. Januar im neuen Jahr
bereits 30 000 Flüchtlinge über die Türkei nach Griechenland gelangt
seien (Tagesschau vom 19.1.2016).
Zweitens: Amnesty International berichtet, dass die Flüchtlinge,
welche die Türkei durch das Aufbringen von Schlepperbooten,
aufgehalten habe, vor die Wahl gestellt worden seien, entweder in der
Türkei interniert zu werden oder nach Syrien zurückzukehren.
Drittens: Die Kontingentslösung mit der Türkei setzt die Akzeptanz
eines Verteilungsmechanismus in der EU voraus. Diesen gibt es
bislang nicht, und insofern lassen sich auch nicht jährlich 400 000
Flüchtlinge von der Türkei in die EU umsiedeln. Im Übrigen spricht
der UNHCR angesichts seiner Kenntnis der Lage in den
Flüchtlingscamps in der Türkei davon, dass jährlich bestenfalls ein
Kontingent von 20 bis 50000 Flüchtlingen zu bewältigen wäre.
Viertens: Zieht man ferner die aktuelle Lage der syrischen Flüchtlinge
in der Türkei in Betracht, wird die Janusköpfigkeit der europäischen,
insbesondere der deutschen Flüchtlingspolitik vollends deutlich. Von
den 2,5 Mio. in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlingen sind nur
250 000 in den viel gelobten Camps untergebracht. Die Menschen
werden hier mit Lebensmitteln versorgt, es gibt Krankenstationen
und Schulen. Allerdings haben sie keine Arbeitserlaubnis und leben
hier unter vollständiger Aufgabe ihrer Selbstständigkeit hinter
Mauern und Stacheldraht. Besuch dürfen sie nicht empfangen. Ein
Verlassen der Camps ist nur auf Antrag und ausnahmsweise möglich.
Die übrigen 2,25 Mio. Syrer leben in der Türkei in der Illegalität. Sie
versuchen auf dem Schwarzmarkt unter menschenunwürdigen
Bedingungen
(Unterkünfte,
Löhne,
faktische
Versklavung,
Prostitution) Geld zu erwerben, das sie entweder nach Syrien zu
ihren Verwandten überweisen oder für die Bezahlung einer Flucht
nach Europa zu sparen versuchen. Eine Politik die darauf hinaus will,
weitere Millionen Syrer unter solch inhumanen Bedingungen in der
Türkei leben zu lassen, die gleichzeitig in Deutschland mit
humanitärer Geste agiert, ist zumindest als doppelbödig, wenn nicht
gar als zynisch zu bewerten. Ob, inwieweit und mit welchen
Standards die Türkei die ihr zugesicherten drei Mrd. Euro zum
14
Aufbau weiterer Flüchtlingscamps verwenden will/soll ist bislang
nicht bekannt.
Fünftens: Die Regierung Davutoglu tritt im Moment die Menschenund Bürgerrechte in der Türkei mit Füßen. Die Medien werden
gleichgeschaltet, missliebige Journalisten werden verhaftet, ebenso
oppositionelle Politiker. Gegen die kurdische Minderheit - und nicht
nur gegen die PKK – geht die türkische Armee mit brutaler Härte vor.
Angesichts
des
EU-Interesses
an
einer
gemeinsamen
Flüchtlingspolitik lassen die europäischen Staaten die Regierung der
Türkei mehr oder weniger gewähren. Diese nutzt die Gunst der
Stunde und bekämpft selbst den gemäßigten parlamentarischen Arm
der Kurden – die HDP – unter massiver Verletzung von
Bürgerrechten.
Unabhängig von der politischen und humanitären Bewertung des
Versuchs, mit der Türkei ein Flüchtlingsabkommen zu vereinbaren,
ist folglich die Effizienz einer solchen Vereinbarung höchst
zweifelhaft. Schon jetzt möchte der Löwenteil der in der Türkei
lebenden Syrer lieber heute als morgen die Flucht nach Europa
fortsetzen. Dasselbe gilt für die weiteren zwei bis drei Millionen
Syrer, die vor allem nach Jordanien und den Libanon geflüchtet sind.
Sobald diese Menschen eine Chance sehen, ihre Flucht fortzusetzen,
werden sie es tun.
 Mitte Dezember 2015 hat die EU- Kommission den Ausbau von
Frontex zu einer Europäischen Grenz- und Küstenschutzbehörde
vorgeschlagen.
Diese neue Behörde soll aus der bisherigen
Grenzschutzagentur Frontex hervorgehen, mit 1000 Mitarbeitern
aber mehr als doppelt so viel Personal besitzen. Der brisanteste Teil
des Plans ist allerdings, dass die Behörde über eine Art stehendes
Mini-Heer von mindestens 1500 Polizisten aus den EUMitgliedstaaten verfügen soll. Kann ein Staat seine Grenzen nicht
effektiv schützen, soll die Truppe notfalls auch gegen den Willen des
betreffenden Staates binnen drei Tagen losgeschickt werden, um die
EU-Außengrenzen zu sichern.
Angesichts der ablehnenden Haltung des Löwenanteils der EUStaaten, in der Flüchtlingskrise eine gemeinsame Politik zu
entwickeln, dürfte ein Plan, der ein Eingriffsrecht einer europäischen
Behörde in ein so sensibles Hoheitsrecht, wie die Sicherung der
Außengrenzen, vorsieht, von Anbeginn zum Scheitern verurteilt sein.
Unabhängig davon ist ein Mini-Heer von vielleicht 2 500 Polizisten
wohl kaum in der Lage, die Außengrenzen der EU effektiv zu sichern.
15
 In der Liste des Versagens der EU-Flüchtlingspolitik ist schließlich zu
berichten, dass die im Oktober 2015 beschlossene Einrichtung von
zusätzlichen Hotspots zur Registrierung von Flüchtlingen in Italien
und Griechenland langsamer vorangeht als geplant. Ursprünglich
waren elf solcher Hotspots bis Ende November 2015 vorgesehen –
sechs für Italien, fünf für Griechenland, dann wurde die Frist bis Ende
2015 verlängert. Tatsächlich sind bis Mitte Januar 2016 nur zwei
zusätzliche Hotspots entstanden, und zwar in Lampedusa und auf
Lesbos. Eine neue Frist, bis wann alle elf Hotspots errichtet werden
sein sollen, nennt die Kommission jetzt nicht mehr. Griechenland und
Italien haben kein großes Interesse am Aufbau dieser Hotspots, weil
dann die Flüchtlinge genauer registriert würden und Migranten ohne
Einreiseanspruch in die EU in die Herkunftsstaaten zurückgeschickt
werden müssten. Dies sind jedoch aufwendige Verfahren, in deren
Rahmen die Flüchtlinge längere Zeit in den Hotspots untergebracht
werden müssten, und davor scheuen beide Staaten zurück (vgl. SZ Nr.
15, 20. Januar 2016). Es kommt hinzu, dass die Hotspots nur
funktionieren würden, wenn es einen Verteilungsmechanismus in der
EU gäbe. Die begrenzten Plätze in den Hotspots würden sich sehr
schnell füllen, und für Italien und Griechenland bestünde die Gefahr,
dass die Flüchtlinge hier verbleiben müssten, weil die EU-Staaten
nicht bereit wären, in ausreichender Zahl Migranten aufzunehmen.
Angesichts dieser Fakten über die EU-Flüchtlingspolitik muss ein eklatantes
Scheitern der Regierung Merkel festgestellt werden. Seit Monaten
verkündet die deutsche Regierung ein dreifaches Mantra: die Ursachen der
Flucht müssen bekämpft werden, die EU muss sich solidarisch auf
Verteilungsquoten verständigen und die Zahl der Flüchtlinge muss 2016
nennenswert zurückgehen.
Tatsächlich ist jedoch Folgendes zu
beobachten: Weder lassen sich die Ursachen der Flüchtlingskrise in
absehbarer Zeit beseitigen, noch kann sich die EU auf gemeinsame Quoten
verständigen – es sind nicht einmal zarte Ansätze in dieser Richtung
erkennbar -, noch wird die Zahl der Flüchtlinge, die 2016 nach Europa, vor
allem nach Deutschland drängen, geringer werden.
4.3 Die Überforderung Schwedens und Deutschlands
Vor dem Hintergrund der Ursachen der Flüchtlingsströme und des
Scheiterns der EU-Flüchtlingspolitik wächst der Problemdruck in
denjenigen beiden Staaten, die bis Ende 2015 den Löwenanteil der nach
Europa drängenden Flüchtlinge aufgenommen haben: Schweden und
16
Deutschland. Auf 1000 Einwohner hat Schweden 2015 16,6 Flüchtlinge
aufgenommen (2014: 8,3), Deutschland 2015 13,5 (2014: 2,5). Zum
Vergleich Dänemark: 2015 3,3 (2014: 2,6). Die absoluten Zahlen lauten für
Ende 2015 : Schweden 160 000, Deutschland 1, 1 Mio. und Dänemark 18
000 (Balzter , 2016)
In Schweden, das relativ bislang die größte Zahl an Flüchtlingen
aufgenommen hat, werden die Grenzen der Aufnahmekapazität an zwei
Prozessen deutlich. Zum einen stößt der Arbeitsmarkt an seine
Absorptionsfähigkeit. Schweden verzeichnet zwar in der Entwicklung der
Beschäftigtenzahlen unter den EU-Staaten seit Jahren die höchsten
Zuwachsraten, dennoch sinkt seit der Jahrtausendwende die
Arbeitslosenrate nicht unter 7 bis 8%, weil die Migranten – auch wegen der
Qualifikationsschranken – nicht in ausreichender Zahl in den Arbeitsmarkt
integriert werden können. Im Durchschnitt braucht ein Flüchtling in
Schweden sieben Jahre, ehe er in den Arbeitsmarkt integriert ist (Balzter
2016 ). Zum anderen gewinnen die Schwedendemokraten, die sich für eine
Eindämmung der Immigration aussprechen, einen immer größeren
politischen Zulauf. Sie erreichen in Umfragen aktuell ein Viertel der
Bürgerinnen und Bürger Schwedens. Das zeigt, dass selbst in einem
weltoffenen und sozialdemokratisch geprägten Land wie Schweden, die
gesellschaftlichen und politischen Grenzen der Aufnahmefähigkeit erreicht
sind.
Die sozialdemokratisch geführte Regierung Löfgen hat deshalb Ende
November 2015 die Notbremse gezogen: Flüchtlinge werden nur noch im
Rahmen der von der EU-Kommission für Schweden vorgesehenen Quote
aufgenommen, der Familienzuzug wird auf Kinder begrenzt, und die
Leistungen für Flüchtlinge werden reduziert. Gleichzeitig hat das Land seit
Januar 2016 ein strenges Grenzregime eingeführt: nur noch Personen mit
gültigem Ausweis dürfen in das Land einreisen.
Auch in Deutschland, in dem noch im Sommer 2015 die Willkommenskultur
eine breite gesellschaftliche Unterstützung gefunden hat, ist es seit dem
Herbst 2015 zu einem politischen Meinungsumschwung gekommen. Sprach
sich bis dahin eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger für eine
unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen aus, tritt seit Anfang Oktober eine
Mehrheit für die Begrenzung der Migrationszahl ein. Dem Diktum der
Kanzlerin Merkel, „Wir schaffen das“, widerspricht seitdem eine Mehrheit
der Befragten Bürgerinnen und Bürger (ZDF Presseportal 2015).
Dieser Meinungsumschwung ist darauf zurückzuführen, dass im Herbst
2015 täglich 10 000 Migranten nach Deutschland gekommen sind und
immer mehr Bürgermeister und Landräte erklärt haben, dass ihre
17
Kommunen allein aufgrund des begrenzten Wohnraums ihre
Aufnahmegrenzen erreicht hätten. Es kommt hinzu, dass es in den
Verwaltungseinrichtungen für das Asylverfahren an Angestellten und
Beamten – vor allem auch JuristInnen – fehlt, in den Kindertagesstätten an
ErzieherInnen, in den Schulen an LehrerInnen, in den Flüchtlingsheimen
und Kommunen an SozialarbeiterInnen und an den Grenzen sowie in den
Kommunen an polizeilichen Sicherheitskräften. Insgesamt addiert sich der
Personalmangel auf ca. 100 000 Menschen.
Unabhängig von diesen akuten Mängeln zeichnen sich in Deutschland bei
einem anhaltenden Zustrom von Migranten in der genannten
Größenordnung folgende gravierenden Probleme ab:
A) Die Engpässe auf dem Wohnungsmarkt werden zu einem Anstieg der
Mieten führen, und zwar gerade im Segment des einfachen
Wohnraums. Damit kommt es für das untere Drittel der
Einkommensschichten in Deutschland zu einer weiteren
Verschlechterung ihrer Lebenssituation, die auch durch größere
staatliche Ausgaben für Wohngeld nur zum Teil kompensiert werden
kann.
B) Auch auf dem Arbeitsmarkt wird es im unteren Qualifikations- und
Lohnsegment zu einem verstärkten Wettbewerb kommen. Mit der
wachsenden Zahl von Langzeitarbeitslosen unter den MigrantInnen
wird der Ruf nach einem Absenken des Mindestlohns (oder der
Ausnahmen für Migranten) sowie nach einem Absenken des HartzIV-Niveaus (für alle oder für Migranten) immer lauter werden (In
seinem Herbstgutachten hat der Sachverständigenrat für Wirtschaft
bereits einen solchen Vorschlag gemacht). Die Schwarzarbeit wird
sehr stark zunehmen, und auch ohne ein formales Absenken des
Mindestlohns wird der Druck auf das Lohnniveau im
Niedriglohnsektor wachsen, allein schon wegen der vielen legalen
und illegalen Tricks zum Unterlaufen von Arbeitsmarkt- und
Lohnstandards. Alarmieren muss in diesem Zusammenhang der
aktuelle Hinweis der Bundesagentur für Arbeit, dass die Flüchtlinge
Hilfsjobs im Vergleich zur Aufnahme einer Ausbildung den Vorzug
geben. Denn: je länger eine auf einer ausreichenden Qualifikation
basierende Integration in den Arbeitsmarkt dauert, desto stärker
wird der Druck auf den Niedriglohnsektor werden.
Unter Ökonomen werden die Effekte des Zustroms an Flüchtlingen
zurzeit kontrovers diskutiert. Das DIW geht in seinen Berechnungen
davon aus, dass in einem mittleren von drei Szenarien die positiven
Effekte bereits ab dem Jahre 2020 dominieren werden
(Fratzscher/Junker 2015). Selbst im pessimistischen Szenarium
dauert es nach dieser Studie nur zehn Jahre, bis sich die Investitionen
18
in die Aufnahme der Flüchtlinge zu lohnen beginnen.
Diese Berechnungen werden von Daniel Stelter, einem Ökonomen,
der bis 2013 bei Boston Consulting gearbeitet hat, massiv kritisiert
(vgl. Der Spiegel, Nr. 47/2015, S. 70ff). Er moniert, dass sich das DIW
nicht auf Fakten stützen könne. Die DIW-Studie beinhalte
Kalkulationen, die auf verschiedenen Annahmen über eine Reihe von
Faktoren basierten, wie zum Beispiel die Anzahl der Flüchtlinge,
deren Qualifikation, deren Erwerbsfähigkeit, deren zusätzliche
Qualifizierung und den Zeitpunkt der Integration in den
Arbeitsmarkt. Über alle diese Faktoren könne man zurzeit nur
spekulieren, und das DIW operiere dabei mit äußerst optimistischen
Annahmen.
Stelters eigene Berechnungen (Der Spiegel, a.a.O., S. 71) kommen zu
einem anderen Ergebnis. Danach würde sich für Deutschland erst
dann ein ökonomischer Nutzen durch die Integration der Flüchtlinge
ergeben, wenn die Migranten eine Erwerbsquote von mindestens
60% erreichten sowie ein durchschnittliches Einkommen von
mindestens 40 000 Euro im Jahr erzielten. Diese Werte seien jedoch
kaum zu erreichen, liege doch das mittlere Einkommen der in
Deutschland Beschäftigten zurzeit bei nur 36 000 Euro. Es könne
kaum angenommen werden, dass die in den Arbeitsmarkt
integrierten Flüchtlinge ein höheres Einkommen erwerben würden.
Auch die Annahme einer Erwerbsquote von 60% oder mehr
widersprächen den historischen Erfahrungen mit Migranten.
Die oben erwähnten Schwierigkeiten in Schweden in Bezug auf die
Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen, einem Land, das mit der
Integration einer hohen Zahl von Flüchtlingen über längere
Erfahrungen verfügt als Deutschland, sollten bei der Kalkulation der
ökonomischen Effekte der Migration zur Vorsicht gemahnen. In diese
Richtung deuten auch die Berichte der Bundesagentur für Arbeit,
dass die neuen Flüchtlinge eher einen Nebenjob suchten als eine
Lehrstelle.
Dies alles spricht für die hier vertretene These, dass die Beschäftigen
im
Niedriglohnsektor
zu
den
Hauptleidtragenden
des
Flüchtlingszustroms zählen und der Druck auf den Mindestlohn und
den Hartz-IV-Satz zunehmen wird (vgl. auch Wolfgang Münchau
2016, der in seiner Kolumne auf Spiegelonline ähnlich kritisch
argumentiert).
C) Im Bereich der Staatsausgaben, in dem die etablierten Parteien an der
Schuldenbremse festhalten wollen, wird es zu Verteilungskonflikten
zwischen Mehrausgaben für die Migranten und Einschränkungen für
die deutsche Bevölkerung kommen. Es wird der deutschen
Bevölkerung kaum zu vermitteln sein, dass zur Bewältigung der
19
Integration der Flüchtlinge jährlich zweistellige Milliardenbeträge
erforderlich sind, gleichzeitig aber von der heimischen Bevölkerung
Kürzungen
staatlicher
Leistungen
bzw.
Steuerund
Gebührenerhöhungen in diversen Bereichen zu akzeptieren seien.
D) Da der Staat in den oben genannten Mangelbereichen
(Kindertagesstätten, Schulen, Verwaltungen, Sozialarbeiter, Polizei)
die Defizite nicht durch die Neueinstellung einer ausreichenden Zahl
von Personen kompensieren wird, werden die Qualitätsstandards in
den Kitas, in den Schulen, in den Verwaltungen und im Bereich der
inneren Sicherheit sinken, vielfach und regional differenziert sogar
deutlich sinken. Auch dies wird die Unzufriedenheit der heimischen
Bevölkerung mit der Flüchtlingspolitik erhöhen.
Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass die Ereignisse in der Kölner
Silvesternacht in der Flüchtlingspolitik einen markten Wendepunkt bilden
werden. Dass der Staat sich als unfähig erwies, eine große Zahl deutscher
Frauen vor Diebstählen und vor allem sexuellen Übergriffen durch
Migranten, vor allem aus Nordafrika, zu schützen, hat zu einer starken
Verunsicherung auch bei denjenigen Bürgerinnen und Bürgern geführt,
welche die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung bislang unterstützt
haben. Angesichts der Ohnmacht des Staates ist der Glaube an den cantus
firmus der Kanzlerin, „Wir schaffen das!“, dem ohnehin schon vor der
Jahreswende eine Mehrheit der BürgerInnen nicht mehr folgen wollte,
vollends ins Rutschen gekommen. 60% der Befragten glauben nicht mehr,
dass die Flüchtlingskrise zu bewältigen sei (ZDF Presseportal 2016). Die
Verunsicherung der Bevölkerung ist so groß, dass die Regierungsparteien
sich in heller Aufregung mit Vorschlägen zur Verschärfung des Asylrechts
und des Strafrechts geradezu überschlagen. In der CDU findet in dieser
Situation der bisherige Kurs der Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage immer
weniger Zustimmung.
Es gehört nicht sehr viel politische Phantasie dazu, um zu prognostizieren,
dass unter dem Druck dieser Probleme die soziale Akzeptanz für einen
weiteren Zustrom, erst recht unbegrenzten Zustrom an Migranten immer
weiter sinken wird. Die Rechtspopulisten, die bereits jetzt Zuwächse zu
verzeichnen haben, werden ähnlich wie in Schweden an politischer
Bedeutung gewinnen. Mitte Januar 2016 lag die AfD in Umfragen
bundesweit bei 11% (ZDF Presseportal 2016). Neben den aufgeführten
ökonomischen, finanziellen und sozialen Problemen
einer
Migrationspolitik
ohne
Grenzen
werden
damit
auch
die
Legitimationsschranken einer solchen Politik deutlich.
20
5 Eurokrise und Flüchtlingskrise lassen die Akzeptanz der EU sinken
Bei den nationalen Parlamentswahlen in den „Programmländern“ sind in
den letzten beiden Jahren die konservativen Regierungen abgewählt
worden. Diejenigen Parteien sind aus den Wahlen gestärkt hervorgegangen,
welche die Sparpolitik der EU kritisiert und für eine alternative linke
Politik geworben haben. Zunächst gewann Anfang 2015 in Griechenland
Syriza mit einem deutlichen Alternativprogramm zur Austeritätspolitik die
nationale Parlamentswahl. Es folgte im November 2015 der Wahlsieg eines
linken Parteienbündnisses in Portugal, das den Sturz der konservativen
Regierung Passos Coelho und die Machtübernahme durch den Sozialisten
Costa herbeiführte. Und schließlich kam es in Spanien bei den Wahlen im
Dezember 2015 zur Niederlage der Regierung Rajoy. Aus den Wahlen
gingen als neue politische Kräfte die linke Bewegung Podemos und die
liberale Partei Ciudadanos gestärkt hervor. Bei den Wahlen in Griechenland
und in Spanien spielte auch eine starke Rolle, dass sowohl die
Konservativen als auch die Sozialisten von den Bürgerinnen und Bürgern
abgestraft wurden, weil sie sich über Jahre den Staat zur Beute gemacht
und ein weit verzweigtes Korruptionssystem aufgebaut hatten.
Lässt sich für diese drei Staaten sagen, dass hier die Wähler aufgrund der
sozialen Krise eine „linke“ Alternative zum herrschenden Spardiktat
suchten, fällt die Bewertung der Parlamentswahl in Italien Anfang 2013
differenzierter aus. Hier siegte zwar im Abgeordnetenhaus mit knappem
Vorsprung vor dem Mitte-Rechts-Bündnis um Berlusconi das Mitte-LinksParteienbündnis „Bene Comune“ um den Sozialsten Bersani, im Senat
entstand aber zwischen beiden Bünden ein politisches Patt. Darüber hinaus
schnitt das populistische Bündnis „MoVimento 5 Stelle“ um Beppe Grillo
überraschend stark ab und erzielte in beiden Häuser ein Viertel der
Stimmen. Im Europaparlament bildet der „MoVimento 5 Stelle“ eine
gemeinsame Fraktion mit den rechtspopulistischen britischen UKIP und
den „Schwedendemokraten“, was seine ausgeprägt rechtsnationalistische
Haltung zur EU dokumentiert. Bedenkt man ferner, dass im Mitte-RechtsBündnis Berlusconis mit der „Lega Nord“ eine weitere rechte EU-kritische
Partei stark vertreten ist, addieren sich die nationalpopulistischen Kräfte in
Italien auf ca. ein Drittel der Wählerschaft. Zwar wächst im früher extrem
europafreundlichen Italien auch die linke EU-Kritik, diese fällt aber
wesentlich gemäßigter aus als die Kritik der Rechten. Der seit Anfang 2014
amtierende Ministerpräsident Renzi des Mitte-Links-Bündnisses führt
einerseits im Inneren Reformen durch, die der Blaupause der EUAusteritätspolitik entsprechen (z.B. die Arbeitsmarktreformen, vgl.
Telljohann 2016), kritisiert aber andererseits nach außen immer stärker
21
das harte europäische Sparregime sowie die dominante Politik
Deutschlands in der Wettbewerbs-, Banken- und Energiepolitik der EU.
Aufgrund der Austeritätspolitik seien bei den Wahlen in Portugal und
Spanien die amtierenden Regierungen aus dem Amt gejagt und radikale
linke Kräfte gestärkt worden, moniert er.
Im Unterschied zum Süden der EU sind in den letzten Jahren in den übrigen
Mitgliedstaaten die politischen Kräfte am rechten Rand des
Parteienspektrums gestärkt worden, die durch eine nationalpopulistische
EU-Kritik auffallen. So haben bei den EP-Wahlen im Mai 2014 innerhalb des
konservativen Parteilagers die Rechtspopulisten an Macht gewonnen, und
dies vor allem aufgrund der Wahlergebnisse in Großbritannien, den
skandinavischen Ländern, Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden,
Österreich sowie in einigen osteuropäischen Staaten, vor allem in Ungarn.
In jedem dieser Länder ist diese Tendenz zur Wahl nationalpopulistischer
Parteien jedoch auf eine unterschiedliche Mixtur von mehreren Gründen
zurückzuführen:
- eine historisch gewachsene Abwehrhaltung gegen den Prozess der
europäischen Integration,
- die durch die Austeritätspolitik der EU verschärfte ökonomische
Krise mit wachsender Arbeitslosigkeit, Einkommenseinbußen und
Sozialabbau,
- eine ablehnende Haltung gegenüber Merkel-Deutschland, das für
die harte Sparpolitik verantwortlich gemacht wird,
- die Zunahme der innereuropäischen Arbeitskraftmigration,
- der Vorwurf, die EU habe sich zu einem bürokratischen Monster
entwickelt, das sich zunehmend in alle Belange der
Nationalstaaten einmische,
- wohlfahrtschauvinistische Haltungen gegenüber Ausländern und
europäischen Partnerländern,
- rassistische und fremdenfeindliche
Stimmungen in der
Bevölkerung,
- die zunehmende Ablehnung der etablierten Parteien, denen
Unfähigkeit und Korruption vorgeworfen wird.
In Großbritannien, wo die United Kingdom Independence Party (UKIP) bei
den EP-Wahlen zur stärksten Kraft avancierte, hat die ablehnende Haltung
zur europäischen Integration Tradition. Lange Zeit wollte Großbritannien
den Prozess der Integration als Weltmacht von außen beeinflussen, ohne
sich selber daran zu beteiligen. Erst mit dem ökonomischen Niedergang des
Landes musste Großbritannien diese Position Ende der 1960er Jahre
aufgeben. In dieser Tradition wurzelt die Ablehnung jeder Form von
22
föderaler Vertiefung der europäischen Integration. Dieser skeptische
Grundton gegenüber der EU hat sich in den letzten Jahren mit sozialen
Ängsten aufgrund der ökonomischen Krise, der Ablehnung der
zunehmenden Arbeitsimmigration und der Kritik an den herrschenden
Parteien vermischt und verstärkt. Bei der Bildung der neuen Europäischen
Kommission im Jahre 2014 drückte sich diese Haltung in der Ablehnung des
entschiedenen Föderalisten Jean-Claude Juncker als Kandidat für das Amt
des Kommissionspräsidenten aus. Aktuell ist die Regierung Cameron nur in
einem sehr beschränkten Maße zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit, die
Quotenvorschläge der Europäischen Kommission lehnt sie entschieden ab.
Cameron befürchtet, dass eine weitere Aufnahme von Flüchtlingen die
ablehnende Haltung der Briten beim für 2017 geplanten Referendum über
den Verbleib Großbritanniens in der EU stärken könnte.
In Frankreich betont die Führerin des Front National (FN) stets die
ökonomischen und sozialen Aspekte ihrer EU-Ablehnung. In Frankreich
dürfe es keine sozialen Verhältnisse geben wie in Rumänien oder
Bangladesch. Es sei nicht im Interesse Frankreichs, sich dem Eurodiktat
Deutschlands zu unterwerfen. Eine protektionistische Politik hat darüber
hinaus in Frankreich seine historischen Wurzeln im Colbertismus, und auch
der Gaullismus hat stets die Parole „Frankreich den Franzosen“
beschworen. Die Unfähigkeit sowohl der UMP wie der Sozialisten, die
ökonomischen und sozialen Probleme des Landes zu bewältigen, haben
dem FN neben laufenden Korruptionsskandalen zusätzlich in die Hände
gespielt. Im Jahr 2015 ist aufgrund des terroristischen Anschlages gegen die
Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo sowie der Anschläge am 13. November
gegen Discotheken und Restaurants die ablehnende Haltung der großen
Mehrheit der Franzosen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen noch stärker
geworden. Im ersten Wahlgang bei den Regionalwahlen im Dezember 2015
wurde vor allem deshalb der FN mit fast einem Drittel der Stimmen die
stärkste politische Kraft.
In Dänemark, Finnland und Schweden haben bei den Parlamentswahlen
2014 und 2015 die rechtspopulistischen Parteien, Dänische Volkspartei,
Wahre Finnen und Schwedendemokraten, deutlich zugelegt. In Dänemark
und in Finnland sind sie seit 2015 Mitglied der Regierungskoalitionen.
Diese Parteien sind einerseits Ausdruck der traditionell skeptischen
Haltung der skandinavischen Staaten gegenüber der europäischen
Integration, andererseits sind sie in den letzten Jahren aufgrund ihrer
ablehnenden Haltung gegenüber einer liberalen Flüchtlingspolitik stärker
geworden. Ein wachsender Anteil der dänischen, finnischen und
schwedischen Bevölkerung sieht den skandinavischen Wohlfahrtsstaat
23
durch wachsende Ansprüche von Migranten bedroht und reklamiert diesen
für sich allein.
In Ungarn ist das Trauma des Vertrags von Trianon (1920), in dem das
Land viele Gebiete an die Nachbarstaaten abtreten musste, die historische
Wurzel des Nationalismus. Orbons Fidesz und die rechtsradikale Jobbik
(zweitstärkste Partei in den EP-Wahlen im Mai) wurden aber erst zu
dominanten politischen Kräften, nachdem die Sozialisten ihre politische
Macht missbraucht hatten („Wir haben am Morgen, am Abend und in der
Nacht gelogen“, bekannte der sozialistische MP Ferenc Gyurcsany nach der
Wahlniederlage 2006). Der Versuch der EU, die Diskriminierung der Sinti
und Roma zu bekämpfen, und die ökonomische und soziale Krise des
Landes sind weitere Gründe für die europaskeptische Haltung weiter Teile
der ungarischen Bevölkerung. In der EU-Flüchtlingspolitik hat sich die
Regierung Orbon als härtester Gegner einer gemeinsamen europäischen
Quotenregelung erwiesen. In der Abwehr und Feindschaft gegenüber
Muslimen betrachtet Orbon die Ungarn als auserwähltes Volk.
Auch in Polen hat 2015 eine nationalpopulistische und europaskeptische
Partei, „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), unter Führung von Jaroslaw
Kaczynski die Macht übernommen. Zunächst wurde im Mai der PiSKandidat Andrzej Duda zum Präsidenten des Landes gewählt, und im
Oktober gewannen die Rechtspopulisten die Parlamentswahlen mit einer
absoluter Mehrheit der Sitze. Sie stellen in Alleinregierung mit Beata
Szydlo die Regierungschefin. Seitdem versetzt die brutale Machtstrategie
der PiS die Europäische Union in helle Aufregung. Kaczynkis Partei hat mit
rechtswidrigen Methoden nicht nur das Verfassungsgericht mit ihren
Parteigängern besetzt und gleichzeitig dessen Rechte eingeschränkt,
sondern versucht auch die öffentlichen Medien, die Geheimdienste und den
Beamtenapparat gleichzuschalten. „Das Recht muss uns dienen“,
verkündete der PiS-Abgeordnete Morawiecki (vgl. SZ Nr. 14, 19.1.2016).
Den Bürgerprotest des „Komitees zur Verteidigung der Demokratie“ (KoD)
versucht die Regierung mit Geheimdienstmethoden abzuwürgen. So erlaubt
ein gerade verabschiedetes Gesetz die lückenlose Überwachung des
Internets. Die Europäische Kommission hat deshalb im Januar ein
Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit der Union gegen Polen
eingeleitet, ein Instrument, das es erst seit 2014 gibt.
In der Flüchtlingspolitik vertritt die Regierung Szydlo eine ähnlich radikal
ablehnende Position wie die Regierung Orbon.
Es zeigt sich damit insgesamt, dass die Akzeptanz der EU schwindet. In
Portugal, Spanien und Griechenland wird die Austeritätspolitik von den
linken politischen Kräften kritisiert.
Im Löwenanteil der übrigen
24
Mitgliedstaaten gewinnen die nationalpopulistischen Parteien, welche die
EU grundsätzlich ablehnen, zunehmend an Gewicht. In den meisten Staaten
erreichen die rechtspopulistischen Parteien bei den nationalen
Parlamentswahlen inzwischen ein Viertel bis ein Drittel der
Wählerstimmen. Dies ist eine bedrohliche Entwicklung für die Zukunft der
europäischen Integration.
6 Droht die EU zu scheitern?
Die EU befindet sich momentan in der größten Krise seit Beginn des
Integrationsprozesses:
A) Sie ist nicht in der Lage, die Strukturmängel der WWU zu beseitigen,
alle diesbezüglichen Pläne sind bislang gescheitert. In einer neuen
großen Wirtschaftskrise bleibt die EU damit nur begrenzt
handlungsfähig.
B) Aufgrund der Austeritätspolitik haben die ökonomischen und
sozialen Differenzen und Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten
in der Eurozone stark zugenommen. Deutschland hebt sich vom Rest
der Eurozone und auch von den beiden anderen großen
Volkswirtschaften Frankreich und Italien deutlich ab. Die
zweistelligen Arbeitslosenraten gehen in Portugal, Spanien, Italien
und Griechenland nur langsam zurück.
C) Die Vorschläge der Europäischen Kommission zur Lösung der
Flüchtlingskrise werden von der überwiegenden Mehrheit der
Mitgliedstaaten abgelehnt. Diese weigern sich schlichtweg, mehr
Asylbewerber und Flüchtlinge aufzunehmen (non-compliance).
D) Schon bei den EP-Wahlen 2014 zeigte sich, dass die EU am linken und
am rechten Rand des Parteienspektrums immer stärker an
Gefolgschaft verliert. Dies war im hohen Maße auch auf die sozialen
Folgen der Austeritätspolitik zurückzuführen. Im Zuge der
Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ist diesen Abkehr von der EU noch
wesentlich stärker geworden, was an dem großen Zuwachs der
rechtspopulistischen Parteien in vielen Mitgliedstaaten sichtbar wird.
Die EU ist damit gefesselt, und es ist im Unterschied zu den früheren
Integrationskrisen nicht erkennbar, wie sie sich aus dieser Lage befreien
kann, um wieder handlungsfähig zu werden. Die aktuelle Integrationskrise
ist schwerwiegender als die oben aufgeführten früheren Krisen (vgl. Kapitel
1). Der EU gelingt es nicht mehr, Politikfelder, wie die Fiskalpolitik oder die
Flüchtlingspolitik, welche Kernbereiche der nationalen Souveränität und
der nationalen Identität betreffen, auf die europäische Ebene zu
transferieren bzw. darin eine Zustimmung für europäische
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Lösungsvorschläge zu erreichen (non-compliance). Aufgrund des starken
nationalistischen Grundtons in den Mitgliedstaaten scheitern alle
Bemühungen, die Integration zu vertiefen. Damit können weder die
Eurokrise noch die Flüchtlingskrise bewältigt werden, und diese
Misserfolge der EU lassen die nationalistischen Töne abermals schriller
werden. Die Legitimation der europäischen Integration befindet sich in
einer Abwärtsspirale.
Der verzweifelte Appell von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am
15.1.2016 an die Mitgliedstaaten, in dem er sie auffordert, ihre Haltung in
der Flüchtlingskrise zu überdenken, weil ansonsten die Freizügigkeit im
Schengen-System zusammenbrechen werde, was letztlich auch den Euro
gefährde, macht die Dramatik der Lage deutlich.
Das Schengen-System ist bereits im Jahre 2015 brüchig geworden, und
zwar an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien und an der Grenze
zwischen Slowenien und Kroatien, aber am deutlichsten an der Grenze
zwischen Schweden und Dänemark, wo die Personenkontrollen beim
Übergang nach Schweden inzwischen wieder zum Standard geworden sind.
Partielle Einschränkungen von Schengen gibt es im Gefolge dieser
Maßnahme am Öresund auch an der Grenzen zwischen Dänemark und
Deutschland und zwischen Deutschland und Österreich.
Zu einer weiteren deutlichen Zuspitzung der Lage im Schengenraum ist es
seit dem 20.1.2016 durch die Ankündigung der Regierung Österreichs
gekommen, für das Jahr 2016 eine Obergrenze für den Zustrom von
Flüchtlingen einzuführen. Diese soll in diesem Jahr bei 37 500
Asylbewerbern liegen. Bis Mitte 2019 sollen maximal 127 500
aufgenommen werden. Diese Zahlen entsprechen einem Anteil der
Asylbewerber an
der Bevölkerung Österreichs von 1,5%. Diese
Entscheidung Österreichs, die drei Wochen nach dem Beschluss Schwedens
getroffen worden ist, die Grenzen effektiver zu kontrollieren, setzt
Deutschland noch mehr unter Druck, zumal Österreich bislang eng mit
Deutschland in der Flüchtlingspolitik kooperiert hat.
Inzwischen haben aufgrund der Entscheidung Österreichs Slowenien,
Kroatien und weitere Balkanstaaten mit zusätzlichen verschärften
Grenzkontrollen reagiert. Mazedonien baut im Moment mit großer
materieller Unterstützung durch Ungarn, Tschechien und die Slowakei
einen Grenzzaun. Nur noch Flüchtlingen, die aussagen, nach Deutschland
gelangen zu wollen, wird die Weiterreise erlaubt.
Der Erhalt des Schengen-Systems wird in naher Zukunft vor allem von zwei
Faktoren beeinflusst werden. Einerseits von der Frage der Reduktion des
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Flüchtlingszustrom nach Europa/Deutschland. Ob die schärferen
Kontrollen in der Türkei, der effektivere Einsatz von Frontex, die Erhöhung
der Zahl der sicheren Drittstaaten sowie die Zurückweisung von
Flüchtlingen ohne Pass oder falscher Identität ausreichen werden, die Zahl
der Flüchtlinge nennenswert zu verringern, ist zweifelhaft. Die
Konfliktherde im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika werden nicht
geringer, eher im Gegenteil, so dass der vom UNHCR zwischen 2010 und
2014 beobachtete Trend, eines äußerst starken Zuwachses an neuen
Flüchtlingsbewegungen auch 2016 anhalten dürfte.
Die Zukunft dieses Raumes ist andererseits von der Frage der objektiven
und subjektiven Überforderung Deutschlands abhängig. Die objektive
Überforderung des Landes ist bereits weiter oben (Kapitel 4.3) ausführlich
diskutiert worden, und es ist davon auszugehen, dass sich diese Situation
mit einem anhaltenden starken Zustroms an Flüchtlingen noch weiter
verschärfen wird. Das subjektive Überforderungsgefühl in der deutschen
Bevölkerung ist aufgrund der Ereignisse in der Kölner Silvesternacht
sprunghaft angestiegen (ZDF Presseportal 2016). Es muss realpolitisch
leider angenommen werden, dass der IS versuchen wird, diese Lage
auszunutzen. Mit weiteren Anschlägen, wie auf dem Sultanahmet-Platz in
Istanbul, und auch in Deutschland muss jederzeit gerechnet werden. Solche
terroristischen Anschläge würden das subjektive Überforderungsgefühl der
deutschen Bevölkerung noch einmal erheblich erhöhen, ähnlich wie in
Frankreich die Anschläge gegen Charlie Hebdo sowie am 13. November
2015 die Haltung der französischen Bevölkerung in der Flüchtlingsfrage
deutlich verhärtet haben.
Die Regierung Merkel kommt in dieser Situation immer stärker unter
Druck. Die CSU, aber auch weite Teile der CDU werden angesichts der
schlechten Umfragewerte vor den Landtagswahlen im März immer
nervöser und fordern, dass die Regierung endlich effektive Schritte zur
Reduzierung der Flüchtlingszahlen einleiten müsse. Ähnliche Forderungen
sind aus der SPD zu vernehmen, die bislang den Kurs der Kanzlerin
unterstützt hat. Auch die stellvertretene CDU-Vorsitzende Julia Klöckner,
die in Rheinland-Pfalz bei den Landtagswahlen im März als
Spitzenkandidatin antritt, ist am 23. Januar in das Lager der Kritiker
gewechselt und fordert jetzt durch verstärkte Kontrollen an den deutschen
Grenzen eine nennenswerte und schnelle Reduktion der Flüchtlingszahlen
unabhängig von den Verhandlungen mit den EU-Staaten.
Aus all diesen Überlegungen folgt, dass die Regierung ihren Kurs, auf eine
europäische Lösung zu hoffen und auf jeden Fall den Schengen-Raum zu
verteidigen, weil dessen Aufgabe negative ökonomische Folgen haben
würde, nicht mehr lange durchhalten kann.
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Die Erosion des Schengen-Raums würde den Handelsverkehr in der EU
verteuern. Deutschlands Außenhandel mit den EU-Staaten wird zu 80%
über den Landverkehr abgewickelt. Die transnational verflochtenen
Wertschöpfungsketten sowie die Just-In-Time-Logistik vieler Konzerne sind
auf einen reibungslosen Transportverkehr angewiesen. Der DIHK rechnet
deshalb damit, dass sich aufgrund permanenter Grenzkontrollen für die
deutsche Wirtschaft zusätzliche Kosten von jährlich ca. 10 Mrd. Euro
gegeben würden.
Die Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen würde sich deshalb als
Angebotsschock negativ auf die Konjunktur auswirken. Sie hätte aber
darüber hinaus mit hoher Wahrscheinlichkeit noch wesentlich
gravierendere ökonomische Folgen.
Zum einen ist zu erwarten, dass diese Maßnahme an den Finanzmärkten
Schockwirkungen auslösen würde. Da diese momentan ohnehin unter
Stress stehen (Bsirske/Busch 2015), könnte ein neuer Crash an den
Finanzmärkten in Verbindung mit den weiteren Belastungsfaktoren der
Weltwirtschaft (IMF 2016) auch negative Folgen für die Investitionen in der
Realwirtschaft haben und damit das ohnehin prekäre Wachstum der
Weltwirtschaft noch weiter beeinträchtigen (vgl. IMF 2016).
Zum anderen würden die negativen Signale, die von der Wiedereinführung
der Grenzkontrollen ausgingen, auch die Eurokrise neu anheizen können.
Momentan zeichnet sich in Portugal, Spanien, Italien und Frankreich
ohnehin eine Auflockerung des strengen europäischen Sparregimes ab, und
dies könnte in Verbindung mit einer Stimmung, dass der EU die Kontrolle
über Ökonomie und Politik entgleitet, die Eurokrise neu aufflackern lassen.
Zwar würde Draghi wieder auf der Bildfläche erscheinen und erneut
„whatever it takes“ verkünden, aber die Glaubwürdigkeit der EU und der
Eurozone wären so stark in Frage gestellt, dass auch Eingriffe der EZB nicht
mehr helfen könnten.
Die Gefahr einer massiven politischen und ökonomischen Integrationskrise
war in der Geschichte Europas nie größer als heute. Das Jahr 2016 wird
zum Schicksalsjahr der Europäischen Union.
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