Fallunspezifische Arbeit - oder wie lassen sich Ressourcen mobilisieren Frank Früchtel in: Forum Erziehungshilfen, 5. Jg., Heft 5, 1999 Eine besorgte Debatte wird in allen westlichen Gesellschaften geführt. Im Mittelpunkt stehen der wuchernde Egoismus der Individuen und die Erosion der gesellschaftlichen Solidarität. Das, was zunehmend zu fehlen scheint ist: • innere Kohäsion & soziales Gewebe (Biedenkopf) • gesellschaftlicher Klebstoff (Hirschmann) • Sozialenergie (Helmut Klages) • soziale Bindekraft (Schäuble) • soziale Ozonschicht (Hurrelmann) Ohne mich diesem Trauermarsch anschließen zu wollen: die Effekte von Individualisierung und Pluralisierung lassen sich nicht übersehen. Die Menschen sind freigesetzt aus ehrwürdigen Traditionen, aus verwandtschaftlichen Bindungen, aus gültigen Glaubenssystemen, aus unumstößlichen Werten. Daraus entstehen Nöte, Einsamkeiten, Orientierungsprobleme, die sog. Fröste der Freiheit. Ontologische Bodenlosigkeit sagt Michael Walzer dazu, oder etwas poetischer “die Menschen? antwortete die Blume dem kleinen Prinzen, ich weiß nicht wo sie sind. Die Menschen haben keine Wurzeln, so dass der Wind sie über die Erde dahinbläst. Das ist sehr übel für sie.” Ist es aber wirklich eine Egoismus-Epidemie und ein Ich-Fieber, dem nur durch Ethik-Tropfen und heiße Wir-Umschläge beizukommen ist? fragt Ulrich Beck. Der Verlust unverrückbarer Werte und zementierter Einbindungen bietet nämlich auch Chancen, wie wir wissen. ZB die Chance zu eigenständigen Lebenswegen, die Chance auf ein Stück eigenes Leben. In dieser Entwicklung verschwinden in der Tat Solidarität und Gemeinsinn, z.B. in Gewerkschaften, Sportvereinen, Parteien, Kirchengemeinden, d.h. in vielen traditionalen Verdichtungs- und Standardisierungsformen von Solidarität. Es gibt aber auch jede Menge neuer, früher nie dagewesener sozialer Baustellen (Keupp), wo Solidarität und Gemeinwohlorientierung einen ebenso prominenten Rang einnehmen wie individuelle Selbstverwirklichung und Erfolgsorientierung. Die Netzwerkforschung zeigt, dass sich Freiheit und sozialmoralisches Engagement nicht ausschließen. Aber die Solidarität: • schaut anders aus als früher • will anders mobilisiert werden • wird von der prof. SA oft gar nicht bemerkt. • Wenn man die Selbsthilfebewegung ansieht entsteht solches Engagement geradezu als Opposition zur beruflichen Sozialen Arbeit. Folie 1 Die Individualisierung hat einen neuen Typus von Solidarität geschaffen: 1. eher freiwillig als aus Pflichtgefühl 2. eher vielseitig, wechselhaft und selbstorganisiert als im Dienst ehrwürdiger Hilfsorganisationen 3. Helfer schätzen einen konkretem Gebrauchswert für sich selbst 4. Solidarität geschieht eher für die eigene Selbstverwirklichung denn als selbstloser Gemeinschaftsdienst 5. ein hohes Maß an Mitbestimmung und Gestaltung wird gewollt Kooperativen Individualismus hat Warnfried Dettling diesen Typus genannt und meine 1. These ist, das dieses Potential von der SA derzeit noch viel zu wenig erkannt, mobilisiert oder genutzt wird. Ein Grund dafür ist, dass die SA quasi in der Fallarbeit aufgeht, was vielfach bornierten einzelfallbezogenen Finanzierungsformen geschuldet ist, was aber auch etwas mit dem prof. Selbstverständnis zu tun hat, das den professionellen Einsatz quasi als Steigerungsform des freiwilligen Engagement sieht. 1 Wir haben uns daran gewöhnt dass Hilfsbedürfnisse, die nicht in Familie und Freundeskreis befriedigt werden können, Sache von Sozialexperten sind. In manchen Feldern der SA mehr in anderen weniger. Probleme werden so zu Fällen und setzen ein fachliches und manchmal auch bürokratisches Räderwerk in Bewegung, das sicherstellt, dass geholfen wird, was durchaus den Schluss zulässt, dass der Bürger bekommt, was ihm zusteht. Ich möchte mit meiner zweiten These behutsam in Frage stellen, ob gelungene SA heißt, dass z.B. ein Kind in einer heilpädagogischen TG gut versorgt ist, oder ein psychisch kranker Mensch in einer fortschrittlichen Wohngruppe untergebracht ist. Der bereits zitierte §1,Abs.3 KJHG - einer meiner Lieblingsparagraphen - spricht von der Schaffung positiver Lebensbedingungen und die kann ich mir am besten in der LW von Klienten vorstellen. Vor diesen Hintergrund ist SA dann gut, wenn sie die Stärken und die Möglichkeiten des Stadtteils und der kleinen Netze nutzt, um so vielleicht in einigen Fällen sogar verhindern kann, dass ein Fall überhaupt zum Fall wird. Das ist ein sehr anspruchsvolles Prinzip, denn vielfach ist es nämlich viel einfacher und schneller professionelle Unterstützung zu verschreiben als die Intervention sozusagen um die Stärken und Möglichkeiten der Betroffenen und ihres Feldes herum zu organisieren. 3. These: Um solche Potentiale in der Fallarbeit nutzen zu können muss man sie kennen, vielleicht sogar erst aufbauen. Das kann sicherlich nicht erst dann geschehen wenn ein Fall vor der Tür steht. Solche Ressourcen müssen dann quasi schon auf Lager liegen und um ein solches Ressourcenlager anzulegen lässt sich ein Ansatz gut verwenden, den W. Hinte fallunspezifische Arbeit genannt hat. FuA braucht einen sozialmoralischen Hintergrund, eine Art Basisphilosophie. Die könnte z.B. in der kommunitaristischen Ethik liegen. Wonach Individualität nicht ohne Gemeinschaft zu haben ist. Amitai Etzioni und andere beschreiben das in ihrem kommunitaristischen Manifest so: “Wir sind davon überzeugt, dass die Verfolgung von Eigeninteressen mit einer Bindung an die Gemeinschaft ausbalanciert werden kann, ohne dass von uns gefordert wird, ein Leben in Genügsamkeit, Altruismus oder Selbstaufopferung zu führen.” Der Kommunitarismus will sozial konstruktive Ausdrucksformen eines durchaus erfolgsorientierten Eigeninteresses. Der Kommunitarismus wäre also ein perspektivreiches sozialmoralisches Modell, das gut auf der eingangs dargestellten Grundströmung des kooperativen Individualismus schwimmen könnte. Was es noch zuwenig gibt sind erprobte Methodiken Sozialer Arbeit, die sich kooperativen Individualismus zu nutze machen. FuA ist eine. Ziel ist es, über fuA fallspezifisch einsetzbare Ressourcen zu gewinnen. Das schaut manchmal wie GWA aus, das Ziel ist aber etwas anders. Ich illustriere erst mal mit einem kleinen Fallbeispiel aus meiner eigenen Praxis: Eine zentrale Aufgabe der fuA des Kapiti Welcome Trust ist es Volunteers zu finden, die uns in der Fallarbeit unterstützen. Eines unserer Programme war gerichtet auf junge Leute, mit viel Zeit und dem Wunsch nach meaningful action. Im Stadtteil gibt es eine Sprachschule, in der hauptsächlich asiatische Studenten Englisch lernen. Wir haben einen Beitrag zu deren Parties geleistet, indem wir ihnen Räume, Getränke und Musikanlage zur Verfügung stellten. Ergebnis dreier Parties war 1. Gute Kontakte zum Chef der Schule, zu den Lehrkräften und einige ausbaufähige Beziehungen zu Studenten, die sich für unsere Arbeit interessierten. Fallspezifisch wohnt Brent bei uns, ein junger Mann, mit psychiatrischer Diagnose, arbeitslos, mit abgebrochener Lehrerausbildung, auf der Suche nach Orientierung, Motivation, Freundschaft und gesellschaftlichen Wiedereinstieg. Zu seinen Stärken gehörte u.a. sein ausgeprägtes Interesse an japanischer Sprache und Kultur, sein attraktives Aussehen, seine etwas scheuen aber sehr angenehmen Umgangsformen und sein gutes Mittelschichtsenglisch. Wir haben die fu gemachten Kontakte konkretisiert und einen Japanisch-Englisch-Kurs daraus gemacht, 3 x wöchentlich in der Sprachschule, d.h. in der LW. Zwei Japanerinnen die Japanisch konnten und Englisch lernen wollten und ein dazu komplementärer Kiwi. Der Kurs war ein voller Erfolg in mehrer Hinsicht: Nicht nur dass sich Brents Japanischkenntnisse erweiterten, es entstand auch eine ziemlich tragfähige Freundschaft der drei jungen Leute. Brent bekam einen Grund zum Aufstehen und eine Alltagsroutine. Sein Selbstvertrauen wuchs zusehends weil er sah, wie gut er ankam, als Student, als Gesprächspartner im Café und als Mann. Außerdem wurden die anderen Lehrer zunehmend auf den durchaus qualifizierenden Einfluss des zusätzlichen Kursangebotes aufmerksam und lernten Brents Einsatz schätzen. Nach ein paar Wochen 2 bot der Chef Brent eine Teilzeitstelle als Tutor an und im Moment verhandelt Brent mit dem Schulleiter über die Konditionen eines Vollzeiteinstiegs. Die Arbeit in der Schule hat nicht nur Brents Tagesroutine verändert, sondern ihm auch einen ganz neuen Bekanntenkreis und jede Menge neuer Ressourcen erschlossen: Hilfe bei der Wohnungssuche, Einladungen, hilfreiche Gesprächspartner, einen Freund, der Brents Leidenschaft fürs Malen teilt, … Qualifizierte Fallarbeit war weiterhin angesagt, diesen Prozess zu stützen, aber Fallarbeit alleine hätte nicht ausgereicht, die lebensweltlichen Ressourcen des Stadtteils zu erschließen. Grundvoraussetzung für Ressourcensucher ist, davon überzeugt zu sein, dass der soziale Raum etwas zu bieten hat, das besser (oder sagen wir weitreichender) sein kann als das eigene professionelle Engagement. Wie gesagt, die kommunitaristische Debatte bietet wertvolle Inspirationen dazu. Dabei geht die sozialpädagogische Identität bestimmt nicht flöten, sondern lebt erst so richtig auf. Sie erinnern sich vielleicht an Jane Adams und die Settlementbewegung. Methodisch haben wir dafür die folgenden Einflugschneisen geschlagen: Folie 2 • Kommunitaristische Basisphilosophie (bereits ausgeführt) • Stärkenorientierte Fallarbeit (siehe Fallbeispiel) • Finanzierungsmodell, das Ressourchenmobilisierung belohnt (darauf kann ich nur nachfragengesteuert eingehen) • Team-Koordination als Scharnier • Networking • Einklinken in Gruppen • Projekte anleiern • Organisationen gewinnen • One-to-Ones • Training talentierter Ressourcensucher Team-Koordination meint, dass fuA eine Teamangelegenheit ist und nicht bei einzelnen verortet werden darf. Der Stadtteil-Cowboy, der alles und jeden im Stadtteil kennt, seine Kollegen aber kaum noch trifft, ist nicht das Leitbild. Wissen und Ressourcen werden arbeitsteilig gewonnen und für das Fallaufkommen eines Teams genutzt. Networking zielt darauf, die soziale Infrastruktur des Stadtteils zu kennen, wissen, was wo geboten wird, wer mit welchen Schwerpunkten, Zielgruppen, Aktionen und Ausstattungen arbeitet. Aber auch Drähte zu den Kollegen haben, deren Lieblingsprojekte kennen, immer wieder mal was Gemeinsames machen. Bei Neueinstellungen haben wir die Einsteigerhospitation erfunden. Die Neuen beginnen ihren Job mit einer mehrwöchigen Hospitation bei wichtigen sozialen oder auch kommerziellen Organisationen im Stadtteil. Das schafft potentielle Kooperationspartner und beschert zudem eine Außensicht auf das eigene Betätigungsfeld. Einklinken in Gruppen heißt, man kennt die im Stadtteil aktiven Vereine, Verbände, Kirchengemeinden, Initiativen. Weiß was sie tun, und über welche Möglichkeiten sie verfügen, welches Image sie gerne haben. Gleichzeitig ist es aber auch wichtig zu wissen, was man selbst zu bieten hat, das für solche Gruppen interessant sein könnte. Bei uns in Paraparaumu gibt es z.B. jede Menge Lionsund Rotarierclubs, die das gesellschaftliche Elend von allen Seiten umzingeln. Die guten Kontakte dorthin haben geholfen einen Lion zu finden, der mit einem seh-, hör- und gehbehinderten, computerbegeisterten Klienten, Computerarbeit macht. Aus einfachen 1:1 Schulungen hat sich mittlerweile eine recht geschäftige Freundschaft entwickelt. Der Lion hat das Know-how und die Kontakte, Neville hat viel Zeit und mittlerweile auch ziemliche Computerkompetenz. Die beiden wollen jetzt ein Geschäft mit individualisierten Grußkarten aufziehen. Reg, dem Lion, macht die Arbeit Spaß und sein Beitrag wird in unsere Newsletter gewürdigt, er bekommt vom Team Supervision und nimmt an Lehrgängen teil, die ihm was bringen. Wir nützen auch ganz gezielt, die Events der Gruppen zum Kontaktaufbau. Im Team werden die Tagesund Stadtteilzeitungen systematisch ausgewertet. Man weiß, wer, wann, wo welchen Anlass feiert und eines der Teammitglieder geht hin, um interessante Typen kennenzulernen, etc. 3 Projekte anleiern: Etliche Zielgruppen fallunspezifischer Arbeit sind nicht organisiert: Hausfrauen, Rentner, Arbeitslose, Nachbarn,… Wir überlegen uns geeignete und effiziente Wege, solche im Stadtteil wandelnden Ressourcen anzulocken: In New Zealand werden Newsletters gerne gelesen. Die Adressaten fühlen sich meist geehrt, wenn sie auf dem Verteiler sind und wir haben schon etliche wichtige Kooperationen geschlossen. Stadtteilfeste können ein Ansatzpunkt sein, oder die Einrichtung eines Elterncafés u. v. m. Besonders gelohnt haben sich solche Projekte wenn sie zum Selbstläufer avancieren und sich Betroffene selber austauschen, verstärken, beraten. Organisationen gewinnen: In meinem jetzigen Arbeitsfeld sind das insbesondere experimentierfreudige Arbeitgeber, die für die Idee zu begeistern sind, dass es sich atmosphärisch, aber auch in Dollars auszahlen kann, Arbeitsbedingungen an die Möglichkeiten interessanter, nicht stromlinienförmiger Persönlichkeiten anzupassen. Dazu haben wir einen methodischen 5-Schritt entwickelt, in dem überzeugende Botschaften und ästhetische Kommunikation eine entscheidende Rolle spielen. Organisationen gewinnen Methodischer 5-Schritt 1 2 3 4 5 Selektion anhand relevanter Kriterien Kommunikations-Strategien entwickeln Klarheit über Gewinne Koordination im Team Ressourcenkartei One-to-Ones: Angesprochen ist hier, was Ralf Brand die “Einzelhändlerstrategie” nennt. Entscheidend ist dabei nicht wen man kennt, sondern wen man kennen lernt und dass face to face oft mehr bewirken als gezielte PR oder organisierte Großaktionen. Es geht darum Dominoeffekte über sog. One-to-Ones zu erzielen. Das lässt sich durch vielerlei. Als interessierter Gesprächspartner bei alltäglichen Besorgungen: Supermarkt, Friseur. In Kneipen, an der Würstchenbude um die Ecke, im Kontakt mit Leuten die viel wissen über den sozialen Raum, die Rentnerin, der Stadtrat, oder aber auch Klienten aus der Fallarbeit. Was hindert uns eigentlich daran, 5 Minuten jedes fallspezifischen Kontaktes für Fragen zu reservieren, die den Stadtteil betreffen. Oftmals sind Klienten die kompetentesten Experten für ihren sozialen Raum und so werden sie auch als solche anerkannt. Die Strategie ist effektvoll, aber anstrengend und äußerst ungewöhnlich für das Selbstverständnis vieler Sozialarbeiter. Abschließend noch ein paar Gedanken zu den Voraussetzungen, um gut fallunspezifisch arbeiten zu können. Wie eingangs schon gesagt, die Philosophie muss stimmen und zwar bei den einzelnen Akteuren genauso wie beim Träger oder Geldgeber. Wer Sozialarbeiter für die besseren Eltern, Partner, Freunde oder Nachbarn hält, wird natürlich nicht sehr erfolgreich sein im Ressourcenmobilisieren. Finanzierungsformen für fallunspezifische Arbeit sind zwar erfunden, aber noch nicht verbreitet (KGST-Bericht 12/1998). Talentierte Ressourcensucher müssen auf vielen Hochzeiten tanzen können: In der Eckkneipe genauso wie auf einer Gesellschafterversammlung oder im Hausfrauenverein. Die Botschaften müssen überzeugend sein, die Leute wollen nicht vereinnahmt werden, sondern etwas davon haben. Die Angebote zur Mitarbeit mussten oft maßgeschneidert werden. Gute Beispiele sind z.B. auch die sog. “Big Brother, Big Sister Programme” in den USA. Ressourcensucher haben Ausstrahlung und Spaß daran, andere ins Boot zu holen. Und sie haben eine längerfristige Perspektive im Stadtteil. 4 Prof. Dr. Frank Früchtel Otto-Friedrich-Universität Bamberg Fachbereich Soziale Arbeit Feldkirchenstraße 21 D 96052 Bamberg Telefon +49 (0)951 / 863-2003 +49 (0)951 / 2974777 Telefax +49 (0)951 / 863-2002 [email protected] 5
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