Einführung in die 4. Woche Selig die Barmherzigen Der rote Faden der Exerzitien, Gottes Barmherzigkeit in vielen Variationen zu betrachten, führt nun in der 4. Woche zu der Frage, welche Folgen sich für unser konkretes Leben und Glauben ergeben. Wie kann die von Gott und Jesus Christus erfahrene Barmherzigkeit zum Ausdruck gebracht werden? Oder anders gesagt: Wenn ich es jetzt verstanden habe – was mache ich daraus? Jesu Gebot der Liebe gibt darauf eine Antwort, bis hin zur Feindesliebe und zur Notwendigkeit von Versöhnung. Angeregt durch das Evangelium entwickelte die Kirche die klassischen „Werke der Barmherzigkeit“. Papst Franziskus weist immer wieder darauf hin, dass nicht nur das Leben des Einzelnen, sondern auch alles Handeln der Kirche von Barmherzigkeit geleitet sein muss. Dies ist und bleibt eine Richtschnur für die Seelsorge, aber auch für den Umgang der Christen untereinander. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Liebe und Barmherzigkeit auch eine politische und gesellschaftliche Dimension haben. Vieles im Alltag bleibt darauf angewiesen, dass Menschen sich mit Barmherzigkeit begegnen. Dazu will die letzte Exerzitienwoche motivieren und anleiten. 35 4.Woche / 1.Tag Selig die Barmherzigen Ihr seid von Gott geliebt, seid seine auserwählten Heiligen. Darum bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde, Geduld! (Kol 3,12) Paulus bringt es auf den Punkt: zuerst kommt eine Zusage von Gott, erst daraus ergibt sich eine Forderung. Gott hat uns – auf Vorschuss – seine Liebe und sein Erbarmen geschenkt, uns damit förmlich umkleidet. Dann können wir fast gar nicht anders, als ebenfalls mit Erbarmen zu reagieren. Damit wir uns dabei nicht „verausgaben“, hat der heilige Bernhard von Clairvaux (1090-1153) eine wichtige Anregung für uns – siehe nächste Seite. Gottes Erbarmen – mir so nah wie die Kleidung: Wie fühlt sich dies an? Welches Kleidungsstück fällt mir dazu ein? Kann ich seine bedingungslose Liebe annehmen? Mit Gottes Erbarmen umkleidet – welche Folgen hat dies für meinen Umgang mit den Menschen? Wie kann dies konkret werden in Güte, Demut, Milde, Geduld? Was sagt mir das Bild von der Schale im Text des hl. Bernhard? Versuchen Sie einmal in der nächsten Zeit folgende Übung: Immer wenn Sie ein Kleidungsstück anlegen, machen Sie sich bewusst, dass Sie mit Gottes Erbarmen umkleidet sind. 36 4.Woche / 1.Tag Selig die Barmherzigen Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt überzuströmen, nicht auszuströmen. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle; wenn nicht, dann schone dich. Nach einem Text von Bernhard von Clairvaux in seiner 18. Predigt über das Hohe Lied 37
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