Auslegung und Bedeutung der Heiligen Schrift für die Kirche der Reformation Vortrag in der Kirche St. Stephan in Würzburg am 31. Oktober 2015 Theodor Dieter (Strasbourg) 2017 steht vor der Tür! 500 Jahre Reformation! Die Erinnerung ist nicht ganz einfach, denn wer sich länger mit Martin Luther beschäftigt, spürt immer wieder, wie fremd er uns geworden ist. In den zahllosen Veranstaltungen zur Erinnerung an die Reformation sollte die evangelische Kirche sich nicht zu schnell auf Luther berufen, sondern diese Fremdheit aushalten. Manches an der Reformation kann und soll ruhig der Vergangenheit angehören; aber in vielem bedeutet Martin Luther und seine Theologie für uns eine aufregende Herausforderung, der wir uns stellen sollten. Deshalb will ich das Thema „Auslegung und Bedeutung der Heiligen Schrift für die Kirche der Reformation“ vor allem von Luther her erörtern. An ihm kann man anschaulich und paradigmatisch erkennen, welche Rolle die Heilige Schrift in der Kirche der Reformation gespielt hat und auch heute spielen sollte. Das möchte ich im ersten Teil in sechs Schritten zeigen. Aber auch umgekehrt gibt es Herausforderungen an Luthers Umgang mit der Heiligen Schrift; drei von ihnen will ich in einem zweiten Teil am Ende meines Vortrags kurz erörtern. I. Erster Schritt: Ein Jahr vor seinem Tod berichtet Luther, wie er als junger Theologieprofessor die Psalmen und die Briefe des Paulus an die Römer und Galater ausgelegt hat, aber immer wieder an einem Wort hängen geblieben ist. „Ein ganz ungewöhnlich brennendes Verlangen hatte mich gepackt“, schreibt er, „Paulus im Römerbrief zu verstehen, aber [...] ein einziges Wort, das im ersten Kapitel steht, hatte mir bis dahin im Weg gestanden: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart’ (Röm. 1,17).“1 Luther hatte das Wort „Gerechtigkeit“ so verstanden, wie das Philosophen tun: gerecht ist, wer jedem das Seine gibt, dem guten Menschen Gutes, dem bösen Menschen die Strafe. So stellen wir uns einen gerechten Richter oder einen gerechten Lehrer vor. Aber nun war Luther als Augustinerbruder darin geübt, sich selbst genau und rücksichtslos zu erforschen, und so erkannte er, wie oft er in seinem Innern einen Widerwillen und eine Abneigung gegen das hatte, was Gott von ihm wollte. Wenn sich das nun so verhielt und wenn Gott gerecht ist, dann – so musste er schließen – gehörte er zu denen, die Unheil von Gott zu erwarten hatten. Er schreibt: „Ich aber, der ich, so untadelig ich auch als Mönch lebte, vor Gott mich als Sünder von unruhigstem Gewissen fühlte, [...] [ich] 1 Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften Luthers (1545), in: Martin Luther Ausgewählte Schriften, Bd. 1, hg. v. K. Bornkamm und G. Ebeling, Frankfurt 1982, 13-25, hier: 22. 1 liebte nicht, nein, ich hasste den gerechten und die Sünder strafenden Gott und war im stillen, wenn nicht mit Lästerung, so doch allerdings mit ungeheurem Murren empört über Gott.“2 Man spürt hier die gewaltigen Emotionen: die Unruhe des Gewissens, das Murren gegen Gott, ja den Hass gegen Gott. Es war nicht so, dass Luther eine übertriebene Sündenangst gehabt hätte, wie das oft gesagt wird, dass er halt ein bisschen zu mittelalterlich gewesen wäre und das Mittelalter noch übersteigert hätte. Nein, Luther war vielmehr ein konsequenter Denker: Er hat sich selbst realistisch wahrgenommen mit der Frage, die Jesus gestellt hat (Markus 12,30): Liebst du Gott von ganzen Herzen? Und er hat ernst genommen, dass der gerechte Gott (verstanden im philosophischen Sinn) jedem das Seine gibt, und das heißt: ihm, dem Sünder, das Unheil. Wenn also im Evangelium die Gerechtigkeit Gottes kundgetan wird, die jedem das Seine gibt, was sollte daran, so fragte er sich, Evangelium, frohe Botschaft sein? „So raste ich wilden und wirren Gewissens; dennoch klopfte ich beharrlich an eben dieser Stelle bei Paulus an mit glühend heißem Durst, zu erfahren, was St. Paulus wolle [= meine].“3 „Bis ich“, fährt Luther fort, „dank Gottes Erbarmen, unablässig Tag und Nacht darüber nachdenkend, auf den Zusammenhang der Worte aufmerksam wurde.“4 Da steht nämlich nebeneinander: Erstens, Gottes Gerechtigkeit wird im Evangelium offenbart, und zweitens: Der Gerechte lebt aus Glauben. Gerechtigkeit hat also etwas mit dem Glauben zu tun, und so lernt Luther, sie als eine Gabe Gottes zu verstehen. Gerechtigkeit Gottes ist keine Eigenschaft, die Gott für sich behält, sondern etwas, das er uns mitteilt, damit wir gerecht sein können. Gott ist der Urheber unserer Gerechtigkeit, wir sind die Empfänger, und das im Glauben. Die Reaktion auf diese Entdeckung beschreibt Luther so: „Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten.“5 Das ist eine Urszene für Luthers Umgang mit der Bibel. Ich möchte drei Aspekte hervorheben: Erstens betont Luther, dass er beharrlich an dieser Stelle (Römer 1,17) angeklopft habe (vgl. 1. Mose 17,6) und Tag und Nacht über sie nachgedacht und genau auf den Zusammenhang der Worte geachtet hat. Er hat gründlich mit den biblischen Texten gearbeitet und dabei die zu seiner Zeit fortschrittlichsten Methoden der Textauslegung gebraucht. Als der Humanist Erasmus von Rotterdam das Neue Testament in griechischer Sprache herausgab, hat Luther es sofort verwendet. Er hat Hebräisch gelernt, um das Alte Testament in seiner Sprache lesen zu können. Später wird er die Ratsherren der deutschen Städte auffordern, Schulen zu gründen, 2 A.a.O., 22f. A.a.O., 23. 4 Ebd. 5 Ebd. 3 2 damit die Kinder, auch die Mädchen, lesen lernen; sie sollen sich selber mit der Bibel beschäftigen können.6 Die Auslegung der Bibel fordert den Verstand des Menschen, und der Verstand muss ausgebildet werden. Die biblischen Texte haben einen klaren und erkennbaren Sinn; darum kann man mit Argumenten um die rechte Auslegung streiten. Und doch, das ist das Zweite, und doch betont Luther, dass es Gottes Erbarmen war, das ihm das rechte Verständnis von Gottes Gerechtigkeit eröffnet hat. Gerade weil er Tag und Nacht nachdachte, wie er betont, konnte er es nur als ein Geschenk Gottes begreifen, dass sich ihm schließlich das rechte Verständnis erschlossen hat. Es ist ihm etwas zuteil geworden, was er trotz aller Anstrengung nicht selber machen konnte. Deshalb hat Luther immer wieder betont, dass die Beschäftigung mit der Bibel mit dem Gebet um den Heiligen Geist beginnen sollte. Das war für ihn keine fromme Übung, die man auch lassen kann, sondern es entsprang der Erfahrung, dass die wahre Erkenntnis, die Erkenntnis, in der die Augen des Herzens aufgehen, immer etwas ist, das einem widerfährt. Es geht ja nicht nur darum, dass sich der Sinn der biblischen Sätze oder Texte erschließt, es kommt auch darauf an, dass sie Menschen als wahr einleuchten und etwas für ihr Leben bedeuten. Drittens: Wir haben gesehen, dass der Umgang mit der Bibel für Luther mit den stärksten Emotionen verbunden war, mit Verzweiflung und Hass, bevor er die rechte Einsicht gewonnen hatte, dann aber mit Liebe und reinem Glück. Die biblischen Texte sind für Luther nicht nur der Gegenstand, den er auslegt; das Verhältnis kehrt sich auch um, die Texte legen ihn, den Ausleger aus. Sie sagen ihm, wer er selbst ist und wie er sich einzuschätzen hat, wer Gott ist und was er von ihm zu erwarten hat. Als Mönch hat er intensiv mit der Bibel gelebt. Sieben Mal am Tag hat er zusammen mit seinen Mitbrüdern das Stundengebet gehalten, zu dem als wesentliches Element die Psalmen gehörten. Die biblischen Texte haben ihn geprägt und bestimmt; nur darum konnte ein neues Verständnis der Texte auch eine so tief greifende Wirkung entfalten. Was Luther nun als Mönch erfahren hatte, das wollte er als Reformator auch allen Christen zugute kommen lassen; zwar nicht die sieben Stundengebete, aber doch den täglichen Umgang mit der Heiligen Schrift. Zweiter Schritt: Wer im Umgang mit der Heiligen Schrift eine solche Einsicht wie Luther gewonnen hat, der wird diese Einsicht um nichts in der Welt aufzugeben bereit sein. Das hat sich 1521 in Worms gezeigt, als Luther vor Kaiser und Reich erscheinen musste, nachdem er von der Kirche in den Bann getan, also ausgeschlossen worden war. Luther war in der Meinung nach Worms gekommen, dort seine Lehre verteidigen zu müssen. Er wurde aber nur 6 Vgl. Eine Predigt Martin Luthers, dass man Kinder zur Schule halten solle (1530), in: Martin Luther Ausgewählte Schriften, Bd. 5, hg. v. K. Bornkamm und G. Ebeling, Frankfurt 1982, 91-139. 3 mit der Forderung, alle seine Schriften zu widerrufen, konfrontiert. Daraufhin hat er seine berühmte Antwort gegeben: „Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht, da es feststeht, dass sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die von mir angeführten Schriftworte bezwungen. Und solange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“7 Diese Szene gilt als eine Sternstunde des Gewissens, eine Ursituation, in der die Freiheit des Gewissens, die Berufung auf das Gewissen verwirklicht wurde. Aber man sollte schon etwas genauer zusehen. Luther selbst spricht ja nicht davon, dass sein Gewissen frei ist, sondern sagt im Gegenteil, dass es gebunden ist. Er kann nicht widerrufen, weil sein Gewissen gebunden ist. Es ist, wie er sagt, gebunden durch die Worte der Heiligen Schrift, die er in seinen Schriften angeführt hat. Die Heilige Schrift kann aber nur für jemanden verbindlich sein, wenn sie verstanden wird. Offenbar hat Luther die Schrift anders verstanden als seine Gegner. Deshalb muss man Luthers Ausspruch so verstehen: Mein Gewissen ist gebunden durch die Schriftworte, so wie ich sie mit guten Gründen verstanden und wie ich das in meinen Schriften dargelegt habe. Luther beruft sich Luther nicht auf sein Gewissen, wenn es darum geht zu behaupten, dass seine Auslegung der Heiligen Schrift zutreffend ist. Vielmehr sagt Luther ausdrücklich: Ich bin ein Mensch, ich kann irren. Darum bittet er darum, dass ihm nachgewiesen wird, dass seine Auslegung der Schrift falsch ist. Dann, falls dieser Nachweis überzeugend geführt worden sein sollte, sei er bereit zu widerrufen.8 Niemand hat jedoch auf dem Reichstag einen solchen Versuch gemacht. Luthers Gewissen hindert ihn daran zu widerrufen, denn es ist Zeuge dessen, dass Luther bestimmte Schriftworte nicht anders verstehen kann, es sei denn, er würde eines Besseren belehrt. Aber Luther beruft sich nicht auf sein Gewissen um zu sagen, dass sein Verständnis der Bibel recht ist. Das ist Sache der Diskussion. Das Gewissen ist keine Offenbarungsinstanz. Der Satz, gegen das Gewissen zu handeln gefährde die Seligkeit, 7 Übersetzung nach Kurt-Victor Selge, Capta conscientia in verbis Dei, Luthers Widerrufsverweigerung in Worms, in: Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, hg. v. F. Reuter, Köln / Wien 2 1981, 180-207, hier: 180. 8 K.-V. Selge zitiert aus der zweiten Rede Luthers in Worms: „Weil ich aber ein Mensch bin und nicht Gott, kann ich meinen Schriften nicht anders beistehen, als mein Herr Jesus Christus seiner Lehre beigestanden hat, der, als er vor Hannas über seine Lehre befragt wurde und ein Diener ihm ins Gesicht schlug, gesagt hat: Habe ich unrecht getan, so beweise, dass es unrecht ist (Joh 18, 23). Wenn der Herr selbst, der wusste, dass er nicht irren könne, es nicht verschmäht, selbst von einem niederen Knecht ein Zeugnis gegen seine Lehre zu hören, wie viel mehr muss dann ich Nichts, der nur irren kann, darum bitten und erwarten, ob jemand wider meine Lehre Zeugnis vorbringen will. Darum bitte ich um der Barmherzigkeit Gottes willen, Eure Majestät, Eure durchlauchtigsten Herrschaften oder wer auch immer es vermag, sei er der Höchste oder Geringste, so wolle er Zeugnis geben, die Irrtümer widerlegen, sie mit Propheten- und Evangelienzeugnissen überwinden; denn ich werde, wenn ich belehrt worden bin, jeden möglichen Irrtum widerrufen, und werde der erste sein, der meine Bücher ins Feuer wirft.“ (Selge, a.a.O., 185f.) 4 ist im übrigen kein Satz, den Luther aufgebracht hätte; er ist vielmehr ein Satz des mittelalterlichen Kirchenrechts, das ausdrücklich festgelegt hat: Wer gegen das Gewissen handelt, pflastert sich den Weg zur Hölle!9 Luther hat also für seine Verweigerung des Widerrufs mittelalterliches Kirchenrecht in Anspruch genommen. Wenn es jedoch um die Richtigkeit seiner Schriftauslegung ging, hat Luther vernünftige Argumente vorgebracht und die Bereitschaft gezeigt, sich durch bessere Argumente korrigieren zu lassen. Das Gewissen ist, jedenfalls für Luther, keine autonome Instanz, sondern eine Instanz, die an der Heiligen Schrift gebildet werden muss; sie ist, wie der lateinische Name „conscientia“ sagt, ein Mitwissen, ein Bewusstsein, dass jemand – in unserem Fall – nach sorgfältiger Prüfung zu einem bestimmten theologischen Urteil gekommen ist. Dieses Urteil kann er solange nicht als falsch erklären, als er seinen möglichen Irrtum nicht eingesehen hat. Hätte Luther widerrufen, ohne eines Besseren belehrt worden zu sein, dann hätte er in vollem Bewusstsein etwas für falsch erklärt, von dem er überzeugt war, dass es wahr und heilsam ist. Damit hätte er seine Existenz als Christ verletzt und gefährdet. Wäre Luther aber nicht bereit gewesen, sich durch bessere Argumente berichtigen zu lassen, dann hätte er sich für unfehlbar erklärt, was er doch als Mensch nicht sein kann. Das Gewissen ersetzt die Bemühung um das rechte Verständnis der Bibel nicht, es setzt dieses Bemühen vielmehr voraus. Dritter Schritt: Weil es für Menschen von grundlegender Bedeutung ist, dass sie ihr Leben von der Heiligen Schrift bestimmen lassen, hat Luther dafür ein umfangreiches Programm entwickelt. Dazu gehört natürlich an erster Stelle die Übersetzung der Bibel. Gegen Ende seines Zwangsaufenthalts auf der Wartburg übersetzt Luther das Neue Testament in 11 Wochen ins Deutsche. Nach seiner Rückkehr nach Wittenberg geht er die Übersetzung zusammen mit seinem brillanten Fachkollegen für Griechisch, Philipp Melanchthon, kritisch durch. Das Neue Testament deutsch erscheint im September 1522 und wird sogleich, obwohl es sehr teuer ist, ein Bestseller; es muss bereits im Dezember in einer revidierten Fassung nachgedruckt werden. Die Übersetzung des Alten Testaments dauert viel länger; die Vollbibel in deutscher Sprache kann erst 1534 veröffentlicht werden. Welche Mühe die Übersetzung gekostet hat, zeigt sich etwa, wenn Luther von der Übersetzung des Hiob-Buchs berichtet: „Im Hiob erbeiten [mühten uns ab] also, M[agister] Philipp [Melanchthon], Aurogallus [– er war Professor für Hebräisch in Wittenberg –] und ich, dass wir in vier Tagen zuweilen kaum drei Zeilen konnten fertigen [fertigstellen].“10 Luther hat auch seine eigenen Übersetzungen 9 Decretum Gratiani, c. 91ff. C. XI, qu. 3. H. Volz, Einleitung zu D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545, hg. v. H. Volz, Bonn 2008, 33*-144*, hier: 67*. 10 5 immer wieder revidiert, bis er mit ihnen zufrieden sein konnte. Ein Beispiel: Psalm 23 ist Ihnen im Ohr. Die Übersetzung beginnt mit: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Den folgenden Vers hat Luther zunächst, der hebräischen Sprachmelodie folgend, so übersetzt: „Er lässt mich weiden, da viel Gras steht, und führet mich zum wasser, das mich erkühlet.“ Das ist richtig übersetzt, aber es ist kein gutes Deutsch. Darum ändert Luther seine Übersetzung in: „Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“11 Aus „er lässt mich weiden, da viel Gras steht“ wird: „er weidet mich auf einer grünen Aue“, und aus dem „Wasser, das erkühlet“ wird „frisches Wasser“. Hat man die Übersetzung, dann ist sofort klar: So muss es heißen! Aber man muss eben darauf kommen! Luthers Grundsatz beim Übersetzen lautete: „Wer Deutsch reden will, der darf nicht der Weise der hebräischen Worte folgen, sondern muss darauf sehen, wenn er den hebräischen Mann versteht, dass er den Sinn fasse und denke also: Lieber, wie redet der deutsche Mann in solchem Fall? Wenn er nun die deutschen Worte hat, die hierzu dienen, so lasse er die hebräischen Worte fahren und spreche frei den Sinn heraus aufs beste Deutsch, so er kann.“12 Aber dieses Verfahren hat für Luther – das sollte man heute bedenken – auch Grenzen: Wenn eine gelungene deutsche Formulierung den Sinn des biblischen Textes nicht genau zu treffen vermochte, dann hat es Luther vorgezogen, eine weniger elegante deutsche Fassung zu nehmen, um dem spezifischen Profil eines Textes gerecht zu werden. Zu Luthers Zeit hat es keine gemeinsame deutsche Schriftsprache gegeben; es gab zahlreiche Dialekte. Luther hat sich der sächsischen Kanzleisprache bedient, die als Verkehrssprache am weitesten verbreitet war. „Ich habe“, meint Luther, „eine allgemein verständliche Sprache und keine besondere; daher kann man mich in Nieder- und Oberdeutschland verstehen. Ich rede nach der sächsischen Kanzlei, der alle deutschen Fürsten folgen.“13 Dennoch hat man dem Bibeldruck in Basel ein Glossar, eine Liste mit etwa 200 Wörtern beigegeben, die im Oberdeutschen nicht geläufig waren, aber in Luthers Übersetzung vorkamen.14 Luther bat Freunde, Ausdrücke zu sammeln, die nicht aus seiner Kindheitsgegend stammten, er war sozusagen „wortgierig“15 (Lewischaroff), und er schuf neue Worte und Wendungen. Wie tief Luthers Übersetzung in die deutsche Sprache hineingewirkt hat, kann man auch an den vielen 11 Vgl. Volz, a.a.O., 89*. A.a.O., 92* (Text leicht modernisiert). 13 A.a.O., 120. 14 Eine Seite aus diesem Glossar ist abgedruckt in J. Schefzyk / E. Zwink (Hg.), Luthers Meisterwerk. Ein Buch wie eine Naturgewalt, Mainz 2015, 85. Beispiele: „Anstoß“ = „ergernuß, strauchlung“, „Braussen“ = „rauschen/sausen“, „Eyffer“ = „ernst“, „Flehen“ = „bitten/ernstlich begeren“, „Freyen“ = „weiben/eelich werden“, „Gegent“ = landtschafft“, „Getreyde“ = „korn/frucht“ usw. 15 Diesen Ausdruck gebraucht Sibylle Lewischaroff in ihrem interessanten Vortrag „Von der Wortgewalt“, in: M.L. Knott / T. Brovot / U. Blumenbach (Hg.), Denn wir haben Deutsch. Luthers Sprache aus dem Geist der Übersetzung, Berlin 2015, 19-30, hier: 24. 12 6 Redewendungen sehen, die wir alltäglich gebrauchen und die aus jener Übersetzung stammen. Wendungen wie „ein Herz und eine Seele, „dienstbare Geister“, „ein Dorn im Auge“, ein „Fallstrick“, „ein Buch mit sieben Siegeln“, „im Dunkeln tappen“, „sein Herz ausschütten“, „seine Hände in Unschuld waschen“, jemanden „auf den Händen tragen“. Viele weitere Beispiele finden Sie im Büchmann, in dem Buch Geflügelte Worte.16 So hat Luther wesentlich zur Ausbildung einer einheitlichen deutschen Sprache beigetragen. Vierter Schritt: Nun hatte man also die Bibel in deutscher Sprache. Manche sagen dann, wie etwa der EKD-Text „Rechtfertigung und Freiheit“: „Für die Reformatoren ist keine kirchliche Autorität als Garant der richtigen Schriftauslegung erforderlich. Jeder Christ ist selbst in der Lage, die biblischen Texte zu verstehen.“17 Gewiss, die Autoritäten der römischen Kirche konnten für die Reformatoren nicht die rechte Schriftauslegung garantieren; mit ihnen waren die Reformatoren ja gerade im Konflikt. Aber kann man darum schon folgern, dass eine kirchliche Autorität für die rechte Schriftauslegung nicht erforderlich sei? Luther jedenfalls hat die Sache nicht so einfach gesehen. Man möge drei Dinge bedenken. Erstens: Luther hat zu jedem Buch der Bibel eine Vorrede geschrieben, die dem Leser und der Leserin helfen sollte, das jeweilige Buch recht zu verstehen.18 Wenn Luther selbst trotz seines intensiven Umgangs mit der Bibel Jahre gebraucht hat, sie recht zu verstehen, kann man dann erwarten, dass irgendein Leser, der die Bibel zur Hand nimmt, sie gleich verstehen kann? Luther hat sich sehr genaue Gedanken gemacht über die Bedingungen, die gegeben sein müssen, damit der Einzelne tatsächlich selber die Bibel lesen kann. Ein Beispiel: Als er den Kommentar Melanchthons zum Römerbrief herausgab, hat er im Vorwort betont, man möge bitte die Heilige Schrift nicht allein, also nicht sola scriptura lesen, sondern zusammen mit den Erläuterungen des Fachmannes Melanchthon.19 Zweitens: In seiner „Predigt, dass man Kinder zur Schule halten solle“ wirbt Luther energisch dafür, dass Eltern ihre Kinder zum Unterricht schicken und sie nicht aus Geiz zu Haus behalten. „Wo die Theologen verschwinden, da verschwindet Gottes Wort“,20 ruft Luther den Eltern zu. Er sagt nicht: Ihr habt doch die Bibel, und jeder kann die Bibel lesen. Was braucht man da noch die Pfarrer? Ja gewiss, jeder kann die Bibel lesen, aber das geschieht sinnvoll und fruchtbar nur im Rahmen der Kirche, in der das Wort Gottes von gut ausgebildeten 16 Vgl. Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, gesammelt und erläutert von Georg Büchmann, Frankfurt 331981, 1-50. 17 Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext der EKD, Gütersloh 2014, 80. 18 Luthers Vorreden zur Bibel, hg. v. H. Bornkamm, Göttingen 31989. 19 Vgl. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 10II; 310,12-16. 20 A.a.O. (siehe Anm. 6), 132. 7 Pfarrern gepredigt wird.21 „Man braucht nicht allein hochgelehrte Doktoren und Magister der Schrift; man muss auch einfache Pfarrer haben, die das Evangelium und den Katechismus verbreiten beim jungen und ungebildeten Volk, taufen, Sakramente reichen usw., auch wenn sie nicht zum Streit gegen die Ketzer taugen.“22 Für die theologischen Debatten mit den Ketzern um die Wahrheit des Evangeliums braucht man offenbar die hochgelehrten Doktoren. Und dazu, dass jeder Glaubende selbst die Bibel lesen kann, braucht man Pfarrer, die eine elementare intellektuelle Kompetenz und existentielle Erfahrung mit dem Wort Gottes haben. Man sollte nicht falsche Alternativen aufstellen, hier etwa: Ich kann die Bibel selber lesen, auf der einen Seite, und die Autorität der Kirche, auf der anderen Seite. Für Luther ist das keine Alternative, sondern ein notwendiges Zusammenspiel. Drittens: Jeder kann die Bibel lesen, gewiss, aber die Pointe Luthers ist nicht, dass das jeder kann, sondern dass jeder und jede nur dann wirklich Zugang zu ihr finden, wenn die Bibel zum Lebensbuch wird. In der Vorrede zum Brief des Paulus an die Römer schreibt er: „Diese Epistel [= Brief] ist das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium, welche wohl würdig und wert ist, dass sie ein Christenmensch nicht allein von Wort zu Wort auswendig wisse, sondern täglich damit umgehe als mit täglichem Brot der Seele.“23 Das heißt es, die Bibel zu lesen! Fünfter Schritt: Dazu, dass die Bibel zum Lebensbuch wird, will Luther auch dadurch beitragen, dass er biblische Texte in Lieder umsetzt. Eine besondere Weise, die Heilige Schrift präsent zu machen, ist für Luther das Kirchenlied. Schon in seiner ersten Vorlesung sagte der junge Professor seinen Studenten, dass sich Singen und Sagen so unterschieden wie einen Psalm singen oder ihn nur mit dem Verstand erkennen. Das Wort gehöre zum Verstand, der Gesang zum Affekt, zum Gefühl. Das reflektierte Luthers Erfahrung als Mönch, der jeden Tag im Stundengebet die Psalmen gesungen hat. 1523 schreibt Luther: „Ich habe die Absicht, nach dem Exempel der Propheten und der alten Väter der Kirche deutsche Psalmen für das Volk zu schaffen, das heißt geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe.“24 Dafür erfindet Luther die Gattung des deutschen Psalmliedes. Von Luther sind insgesamt 37 Lieder überliefert, die er gedichtet und für die er teilweise auch Melodien komponiert hat. Luthers Hochschätzung der Musik ist bekannt, und weil wir in 21 Luther schrieb sehr viele Kommentare zu den Evangelien- und Episteltexten, die für die Sonntags- und Feiertagsgottesdienste vorgesehen waren, und gab sie in Sammlungen heraus („Postillen“: Adventspostille, Wartburgpostille, Weihnachtspostille, Fastenpostille, Sommerspostille, Hauspostille, Winterpostille). Die Prediger sollten die Auslegungen als Hilfsmittel für ihre Predigten verwenden und eigenständig zu Predigten machen. 22 A.a.O. (siehe Anm. 6), 111. 23 Luthers Vorreden zur Bibel (siehe Anm. 18), 177 (Hervorhebung hinzugefügt). 24 Weimarer Ausgabe. Briefe 3; 220,1-3. 8 Bayern sind, möchte ich aus einem Brief Luthers an den Hofkapellmeister der bayrischen Herzöge, Ludwig Senfl, aus dem Jahr 1530 zitieren: „Ich [...] lobe sogar Deine Herzöge von Bayern sehr, so wenig sie mir auch geneigt sind, und achte sie vor anderen, weil sie die Musik so pflegen und ehren. Und es ist kein Zweifel: Viele Samen guter Eigenschaften stecken in den Gemütern, die von der Musik ergriffen werden [...] Und ich urteile frei heraus und scheue mich nicht zu sagen, dass nach der Theologie keine Kunst sei, die der Musik gleichzustellen wäre, weil sie allein nach der Theologie das schenkt, was sonst allein die Theologie schenkt: ein ruhiges und fröhliches Herz.“25 Was Luther an der Musik besonders schätzt, ist ihre Wirkung auf die Affekte. Weil die Musik traurige, depressive Menschen wieder fröhlich zu machen vermag, hat sie eine besondere Nähe zum Evangelium. Ich möchte zwei Beispiele von Luthers Liedschaffen im Dienst des Wortes Gottes kurz erwähnen. Das bekannteste Beispiel eines Psalmliedes ist „Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott erhör mein Rufen.“ Hier nimmt Luther Psalm 130 auf, einen so genannten Bußpsalm; er legt ihn textnah aus und fügt doch kurze Ergänzungen hinzu, die den Psalm im Licht des Römerbriefs interpretieren. In einfachen, elementaren Worten wird hier Theologie ins Lied und zum Singen und Klingen gebracht. Während das Lied anfänglich mit der Melodie eines Osterlieds gesungen wurde, hat Luther dann selbst eine passendere Melodie komponiert. Sie beginnt mit einem Quintsprung in die Tiefe und geht sogleich wieder nach oben, so dass man singend tatsächlich in die Tiefe hinabsteigt und mit dem Gebet wieder aufsteigt. Wenn Sie einmal Lied und Psalm nebeneinander legen, können Sie sehen, wie Luther den Psalm in ein gesungenes Gebet verwandelt hat. Das ist eine höchst intensive Weise, biblische Inhalte so weiterzugeben, dass sie Verstand und Herz ansprechen und auswendig präsent sind. Als zweites Beispiel nehme ich eines der bekanntesten Weihnachtslieder, „Vom Himmel hoch, da komm ich her“. Es zeigt, wie kreativ Luther die Botschaft der Engel auf dem Hirtenfeld von Bethlehem in ein Lied umgesetzt hat. Das Lied wurde im Wittenberger Gesangbuch von 1535 mit der Melodie eines weltlichen Liedes abgedruckt. Dessen Text lautete interessanterweise so: „Ich komm von fremden Landen her / und bring euch viel der neuen Mär. Der neuen Mär bring ich euch viel, mehr dann ich euch hier sagen will“. In Luthers Zeit sind Nachrichten zum Teil von fahrenden Sängern, die von Dorf zu Dorf zogen, verbreitet worden. Ein solcher Sänger hat sich auf den Marktplatz gestellt und das, was er zu sagen hatte, mit den Worten angekündigt: „Von fernen Landen komm ich her und bring euch viel der neuen Mär“ – ich bringe euch viele neue Informationen. Wenn nun Luther dieses Lied aufnimmt, dann lässt er den Weihnachtsengel wie einen fahrenden Sänger auf dem 25 Martin Luther Ausgewählte Schriften, Bd. 6, hg. v. K. Bornkamm / G. Ebeling, Frankfurt 1982, 133f. 9 Marktplatz auftreten, der die gute Nachricht von der Geburt des Gottessohnes publik macht. Diese Melodie und den Text haben oft auch junge Burschen gebraucht, wenn sie sich abends auf dem Tanzplatz mit Mädchen getroffen haben. Sie traten in Wettstreit miteinander, wer die bessere Geschichte zu dieser Melodie erzählen konnte. Der Sieger hat dann von einem Mädchen einen Kranz bekommen. Weil es bei diesem Singwettbewerb vielleicht manchmal etwas derb zugegangen ist, hat Luther dann doch später für dieses Lied eine eigene Melodie geschaffen, und das ist die Melodie, die wir bis heute singen. Wieder können Sie, wenn Sie das Lukasevanglium, Kapitel 2, neben das Lied legen, verfolgen, wie Luther die Worte des Evangeliums in seinem Lied aufgenommen hat. Dabei geht es Luther darum, dass wir die Geburt Jesu nicht nur als ein vergangenes Ereignis sehen, sondern dass wir gleichzeitig mit ihm werden. Das gelingt ihm, indem er den Engel als fahrenden Sänger erscheinen lässt, der uns direkt anspricht: „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute neue Mär“ – euch! Indem wir die Worte der ersten Strophe singen, hören wir zugleich dem Engel zu, der zu uns spricht. Den Inhalt der „guten, neuen Mär“ stellt Luther so vor, dass er die Worte des Engels mit kurzen Ergänzungen versieht und so theologisch weiterdenkt und auslegt. Spielerisch-singend werden 2000 Jahre überbrückt, wir sind mitten im Geschehen von Bethlehem, und Bethlehem ist hier und heute. Und beide, Verstand und Herz, Wahrnehmung und Gefühl sind mit dem gesungenen Lied angesprochen und bewegt. Sechster Schritt: Eine andere Weise, die Bibel unter die Leute zu bringen, ist der Katechismus, die Kinderlehre des Glaubens, wie Luther sagt. Er enthält fünf Hauptstücke: Glaubensbekenntnis, Zehn Gebote, Vaterunser, Taufe, Abendmahl, teilweise auch einen Anhang über die Beichte. 1529 hat Luther den Kleinen und den Großen Katechismus verfasst als Reaktion auf die erschreckenden Erfahrungen bei den Visitationen. Die Unkenntnis über den Glauben war bei Pfarrern groß und erst recht bei den Gemeindegliedern. Was sollte da die Rede vom allgemeinen Priestertum, wonach jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, sich Priester nennen darf, wenn er nicht einmal das Vaterunser und die Zehn Gebote und auch das Glaubensbekenntnis nicht kannte? Die Situation wird ähnlich gewesen sein wie heute vielerorts in unserer Gesellschaft. So enttäuschend die Lage war, Luther hat nicht resigniert, sondern mit dem Katechismus ein christliches Bildungsprogramm sondergleichen aufgelegt, das bis heute Menschen hilft, in den christlichen Glauben hineinzufinden und in ihm zu wachsen. Damals haben in manchen Ländern Kinder mit Übersetzungen von Luthers Katechismus ihre Sprache gelernt. In Slowenien zum Beispiel hat der Reformator Primus 10 Truber mit der Übersetzung des Kleinen Katechismus sogar die slowenische Schriftsprache geschaffen; der Katechismus war zugleich das erste Lehrbuch für die Schulkinder. Heute würden wir sagen, dass Luther mit dem Katechismus die Christen sprachfähig machen wollte. Aber das ist eine verkürzende Ausdrucksweise, denn sie setzt voraus, dass der Glaube schon entwickelt ist und nur noch lernen muss, sich auszudrücken, während der Katechismus dem Glauben allererst hilft, zu wachsen und zu einer klaren Gestalt zu kommen. Luther versteht den Katechismus als „Laienbibel“26; er umfasst alles „was in der Schrift steht und immer gepredigt werden mag, auch alles, was einem Christen not ist zu wissen“27. Der Glaube ist Vertrauen in Gott; aber Vertrauen hat einen Inhalt; der Glaube will wissen, in wen er vertraut und was das bedeutet. Das lässt sich in Sätzen sagen, das lässt sich sogar lernen, worauf Luther größten Wert gelegt hat, so sehr er betont hat, dass der Glaube mehr ist als das Fürwahrhalten von Sätzen. Aber weil der Glaube nichts Diffuses oder Vages, sondern etwas Bestimmtes ist, lässt er sich auch aussagen, und die rechen Sätze können einem Menschen helfen, seinen Glauben zu klären, zu vertiefen, ja sogar neu beleben. Luther sagt von sich selbst: „Ich bin auch ein Doktor und Prediger ... Dennoch tue ich wie ein Kind, das man den Katechismus lehrt, und lese und spreche auch von Wort zu Wort des Morgens und wenn ich Zeit habe, die Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, Psalmen usw. Und muss noch täglich dazu lesen und studieren und kann dennoch nicht bestehen, wie ich gerne wollte, und muss ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben und bleib’s auch gerne.“28 Luther studiert und meditiert den Katechismus natürlich nicht, um neue Informationen zu bekommen. Darum geht es nicht; er kennt ihn auswendig. Sondern es geht darum, dass das, wovon der Katechismus spricht, seine Person, sein Herz und seinen Verstand tiefer ergreift, dass es sein Leben tiefer bestimmt, dass es in den immer neuen Lebenssituationen, in denen er sich befindet, zum Tragen kommt. Wir sollen nicht nur die Bibel auslegen, sondern die Bibel soll auch uns auslegen. II. Ich habe am Beispiel Martin Luthers und seines Umgangs mit der Bibel zu skizzieren versucht, wie die Heilige Schrift für die lutherische Kirche Bedeutung gewinnt. Ich habe das getan in der Hoffnung, dass wir uns von Luther herausfordern lassen, neu über unser Verhältnis zur Heiligen Schrift nachzudenken. Ich möchte nun zum Schluss umgekehrt drei 26 Weimarer Ausgabe. Tischreden, Bd. 5; 581, 30. WA 7;204,8-11. 28 Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel, Göttingen 2014, 916 (Text leicht modernisiert). 27 11 Herausforderungen für unseren Umgang mit der Bibel, vor denen wir gegenwärtig stehen, erörtern. Erste Herausforderung: Heute begegnet man vielen Menschen, die meditieren, und die in ihrer Meditation versuchen, ihren Kopf leer zu bekommen, die Gedanken ziehen zu lassen, und die die Leere genießen. Warum, so fragen sie, soll man sich auf den doch etwas mühsamen Umgang mit der Bibel einlassen? Geht es nicht einfacher? Ist der Umgang mit der Bibel wirklich wichtig? In der Perspektive des christlichen Glaubens wird man auf diese Frage etwa so antworten: Stellen Sie sich einmal vor, dass Gott sich tatsächlich mitgeteilt hat, dass er sich offenbart hat, in der Schöpfung, in der Geschichte mit Israel und definitiv in Jesus Christus. Wenn wir dann wie der Jünger Philippus im Johannesevangelium die Bitte äußern: Zeige uns Gott!, dann wird Jesus antworten: „Wer mich sieht, der sieht Gott“ (Johannes 14. 811). Jesus ist das Gesicht Gottes. Wenn ich also wissen will, wer Gott in Wahrheit ist, komme ich an Jesus nicht vorbei. Wie aber sollen Menschen von Jesus wissen, wenn nicht durch die Überlieferung der Apostel? Diese Überlieferung ist nun freilich maßgeblich bezeugt in der Heiligen Schrift. Darum ist es ein Grundsatz lutherischer Theologie: Wir kommen nicht zu Gott und Gott kommt nicht zu uns ohne das Wort, das wir in der Heiligen Schrift finden, nicht ohne das leibliche Wort, wie die Reformatoren sagten, das hörbare Wort der Predigt und das sichtbare Wort der Sakramente. Dieser Grundsatz bringt uns heute allerdings in größte Probleme. Ist es nicht anmaßend, geradezu arrogant zu sagen, dass sich Gott in Jesus Christus definitiv, endgültig, unüberbietbar offenbart? Ist das nicht eine Verachtung der anderen Religionen? Darauf würde Luther wohl antworten: Was ist wirklich anmaßend? Was ist arrogant? Wenn Gott tatsächlich die unendliche Mühe auf sich genommen hat, in Jesus Mensch zu werden, zu leiden, sogar zu sterben und wieder aufzuerstehen, und das, um die unfassbare Not der Menschen zu teilen und schließlich zu überwinden, wenn das also der Fall ist, wäre es dann nicht anmaßend, dies als eine religiöse Möglichkeit unter vielen zu verstehen, wenn doch Christus für alle Menschen gelebt hat und gestorben ist? Christus ist ja nicht nur für die Christen gestorben, sondern für alle Menschen. Wäre es nicht in höchstem Maß arrogant, Gott erkennen zu wollen und an dem Weg, den er selbst gewählt hat, vorbeizugehen und ihn so zu verachten? Wer also ist arrogant? Hier geht es um Grundeinsichten und Grundentscheidungen der Lebensorientierung, die nicht mit der Forderung nach Nichtdiskriminierung beantwortet werden können, weil die Frage der Wahrheit auf einer anderen Ebene liegt als die rechtliche oder moralische Forderung der Nichtdiskriminierung. 12 Den Anspruch zu erheben, dass Gott sich in Christus definitiv offenbart hat, heißt aber nicht, intolerant zu sein, denn Toleranz kommt erst da wirklich ins Spiel, wo man den Wahrheitsanspruch einer anderen Religion bestreitet und ihr dennoch einen Platz in der Gesellschaft zugesteht. Wenn man die jeweiligen Ansprüche der Religionen für gleich gültig hält, also ihnen gegenüber gleichgültig ist, dann bedarf es keiner Toleranz. Toleranz, das Ertragen eines anderen, ist erst da gefragt, wo ich das Anderssein des Anderen nicht billige und doch bereit bin, mit ihm zusammenzuleben. Die Frage nach der Wahrheit ist elementarer als die Frage der Toleranz; gerade darum schließen sich Wahrheitsanspruch und Toleranz nicht aus. Die Frage, warum der Umgang mit der Bibel für Christinnen und Christen so wichtig ist, hat uns also zu einer sehr aktuellen Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft heute steht, geführt. Eine zweite Herausforderung: Viele Menschen, auch in der Kirche, sagen: In der Bibel tritt mir eine vergangene Sprache und Denkweise entgegen, die ich nicht verstehe und mit der ich nichts anfangen kann. Ich erinnere mich an eine Situation in meiner Vikarsausbildung vor vielen Jahren, die sich mir ins Gedächtnis eingeprägt hat. Wir sollten das Gleichnis vom reichen Kornbauern für den Schulunterricht vorbereiten und hatten dazu einige 15-, 16 jährige Schüler eingeladen. Wir lasen den Text vom Bauern, der eine reiche Ernte einfährt, Scheunen baut, sich zufrieden zurücklehnt, zu dem aber Gott sagt: „Du Narr! Heute Nacht wird man deine Seele von dir fordern.“ Dieser Satz war für die Schüler völlig unverständlich. Was ist denn das: die Seele, die man fordert? Sie konnten die Pointe der Erzählung nicht verstehen. Nun könnte man eine moderne Übersetzung machen und schlicht sagen: „Heute Nacht wirst du sterben. Was hast du dann davon, dass du volle Scheunen hast?“ Diesen Satz hätten die Schüler verstehen können. Damit wäre zwar das Sprachproblem gelöst gewesen, nicht jedoch das Sachproblem. Das Wort „Seele“ steht hier nämlich auch für die Frage: Gibt es ein Leben nach dem Tod und wie hängt es mit dem Leben vor dem Tod zusammen? Dabei ist klar, dass beinahe alle Wörter in diesem Fragesatz selbst Fragen enthalten: Was heißt „nach dem Tod“ für den Verstorbenen? Gibt es für den Verstorbenen eine Zeitlinie, so dass man „vor“ und „nach“ dem Tod unterscheiden kann? Kann man die Existenz vor und „nach“ dem Tod Leben nennen und in welchem Sinn? Aber genau diese Fragen will das Gleichnis wecken. Das Unverständnis ist also nicht zuerst ein Sprachproblem, sondern das Problem, dass eine Fragestellung, die Menschen über Jahrtausende bewegt hat, in Vergessenheit geraten ist. Nun könnte man darauf so reagieren und sagen: Vergessen wir das Gleichnis! Die Kirche soll nicht Fragen beantworten, die die Menschen heute nicht stellen. Kümmern wir uns lieber um die Bewältigung des alltäglichen Lebens! Aber würden wir dann nicht genau das tun, was der 13 reiche Kornbauer macht? Zu ihm aber sagt Gott: „Du Narr!“? Die Bibel will uns gerade neue und tiefere Dimensionen unseres Lebens erschließen; darum wäre es nicht sinnvoll, die Bibel einfach am Lebensverständnis der heutigen Menschen zu messen. Wir würden den Mehrwert, den die Bibel uns vermitteln kann, zunichtemachen, wenn wir unsere heutigen, oft sehr reduzierten und armen Auffassungen zum Maß des Verstehens machen würden. Darum ist es die Aufgabe, im Umgang mit der Heiligen Schrift die Fremdheit mancher ihrer Texte auszuhalten, sich von ihnen herausfordern zu lassen und zu sehen, ob sich durch sie nicht Tiefendimensionen unserer Existenz erschließen. Ohne die Begegnung mit diesen Texten wären wir genau um diese Dimensionen ärmer. Das ist im Übrigen gar nicht zuerst eine Aufgabe mit Blick auf Menschen, die außerhalb der Kirche sind, sondern zuerst mit Blick auf uns selbst, die wir in der Kirche sind oder soweit wir in der Kirche sind. Denn wenn wir die Erfahrung machen, dass der Umgang mit der Bibel uns neue Lebensdimensionen erschließt, wird das auch andere ins Fragen bringen. Und wenn man genauer darüber nachdenkt, dann taucht in jedem Menschen irgendwann die Frage auf, um die es in jenem Gleichnis geht, denn wir alle gehen auf dieses „nach dem Tod“ zu; diese Unausweichlichkeit aber stellt uns Fragen, denen wir nicht entgehen können. Ich komme zur dritten Herausforderung, die ich ansprechen möchte. Luther hat immer wieder betont, dass die Texte der Heiligen Schrift einen klaren, erkennbaren Sinn haben, und dass dunkle, schwer verständliche Stellen von den hellen und klaren Stellen her auszulegen sind. Das ist darum so wichtig, weil diese Klarheit es uns erlaubt, im Licht der biblischen Botschaft unsere eigenen Gedanken über Gott und uns selbst zu korrigieren. Deshalb hat Luther so heftig gegen die polemisiert, die die Bibel willkürlich ausgelegt haben und betont: „das Wort sie sollen lassen stahn“. Ohne diese Klarheit bleiben wir in unseren eigenen Gedanken gefangen, sind in uns selbst verkrümmt. Wenn wir die Bibel so lesen, dass wir darin nur unsere eigenen Gedanken finden, dann ist die Offenbarung in Christus letztlich umsonst geschehen, und wir drehen uns weiter um uns selbst. Gerade die Generation Selfie braucht den „festen Buchstaben“, um aus ihrer Selbstverliebtheit befreit zu werden. Aber nun beobachten wir, dass auch Menschen mit gutem Willen und der Kompetenz zum Verstehen die biblischen Texte unterschiedlich auslegen und unterschiedliche Folgerungen daraus ziehen. Manche behaupten heute, ein Text habe in sich selbst gar keinen Sinn; der Sinn entstehe erst im Lesen oder im Leser oder der Leserin. In der Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ heißt es: „Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens, bleibt entscheidend, wie Kirche 14 und Theologie die Bibel auslegen und welche Orientierung sie damit geben.“29 Dieser Satz ist geschichtsbewussten Katholiken sofort aufgefallen, denn das ist seit 500 Jahren der katholische Standardvorwurf gegen die evangelische Berufung auf die Schrift. Er lautet: Die Heilige Schrift ist gar nicht so eindeutig, wie ihr Evangelischen das immer sagt. Darum muss die Kirche – das heißt das Lehramt – klären, wie die Schrift zu verstehen ist. Und nun sagt ein EKD-Text explizit: Es sei entscheidend, wie die Kirche die Bibel auslegt. Das ist ein buchenswerter Satz! Ein anderer Text der EKD, „Rechtfertigung und Freiheit“ setzt einen anderen Akzent, wenn betont wird, dass „mit dem reformatorischen Schriftprinzip darauf vertraut wird, dass Gott durch den Heiligen Geist die richtige Auslegung seines biblischen Wortes der Kirche eingibt – mithin die Kirche zur harmonischen Einheit ihrer Stimmen leitet und nicht in die disharmonische Vielstimmigkeit von Individuen“30. Angesichts der Vielfalt der Stimmen, auf die viele Protestanten ja mächtig stolz sind, fällt dieses Vertrauen in den Heiligen Geist nicht ganz leicht. Gibt der Heilige Geist die richtige Auslegung ein? Und wie tut er das? Von Luther kann man lernen, dass der Heilige Geist nicht unmittelbar, sondern durch menschliches Tun hindurch wirkt, und deshalb wird man fragen, welche Verfahren die evangelischen Kirchen haben, Kontroversen im Verständnis der Schriftauslegung auszutragen. Diese Verfahren sind leider wenig entwickelt; man hört eher höchst unterschiedliche und oft sehr gegensätzliche Wortmeldungen an vielen verschiedenen Stellen, aber es gibt wenig Orte der Begegnung und Institutionen, in denen die Vertreter unterschiedlicher Positionen zusammenkommen und einen Konsens in ihrem Verständnis der Heiligen Schrift suchen. Das wäre aber von größter Bedeutung, wenn man den Anspruch erheben will, dass die Heilige Schrift von sich her auch heute etwas Bestimmtes zu sagen hat und die lutherische Kirche das auch gemeinsam ausdrücken kann. Wir hatten in den letzten Wochen Gelegenheit, die Bischofssynode in Rom zu Fragen der Familie zu verfolgen. Auch das katholische Lehramt kommt um Kontroversen um das rechte Verständnis der Bibel nicht herum und findet nicht einfach eine Lösung; auch da gibt es viel Ratlosigkeit, und die Kontroversen ähneln in vielem den Kontroversen auf evangelischer Seite. Es geht dabei nicht so sehr um die Auslegung der Heiligen Schrift, etwa des Wortes Jesu zur Ehescheidung, sondern vielmehr um die Anwendung und das Weiterdenken dieses Wortes zum Beispiel für die Frage des Umgangs mit wiederverheirateten Geschiedenen. Sachlich geht es um die Spannung zwischen dem harten Wort Jesu zur Ehescheidung und der Barmherzigkeit Gottes, von der Jesus so oft gesprochen und die er im Umgang mit den 29 Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2013, 58. 30 Rechtfertigung und Freiheit, a.a.O. (siehe Anm. 17), 38. 15 Menschen konsequent praktiziert hat. Die Synode in Rom hat noch keine überzeugende Lösung für diese Spannung gefunden, aber ich finde es höchst beeindruckend, dass hier etwa 200 Mitglieder des Lehramts drei Wochen lang zusammen gekommen sind, um im direkten Gespräch die Differenzen im Verständnis anzusprechen und miteinander nach Lösungen zu suchen. Allein die Institution einer solchen Synode, auf der man frei sprechen konnte, ist ein hilfreiches Instrument auf der Suche nach dem rechten Verständnis und der rechten Anwendung der Heiligen Schrift. Von der Ernsthaftigkeit dieses Ringens könnten die evangelischen Kirchen durchaus etwas lernen! An Martin Luther und den anderen Reformatoren kann man sehen, welche lebensverändernde Kraft der intensive Umgang mit der Heiligen Schrift hat, welche intellektuellen Energien er freisetzt, welche institutionellen Änderungen in Schule, Universität und Kirche er zur Folge hat, welche schöpferischen Kräfte er in Lieddichtung, Musik und sogar Malerei freigesetzt hat. Wir, Evangelische und auch Katholiken, können dankbar für das sein, was wir in der Reformation geschenkt bekommen haben. Aber mit dieser Dankbarkeit sollte sich auch die selbstkritische Frage verbinden, wie wir mit dem großen Erbe der Reformation umgehen. Unsere Situation ist heute in vielem eine andere als die der Reformatoren. Dennoch sollten wir diesen Unterschied der Zeiten nicht zur Flucht vor der Herausforderung, vor die uns die Reformation stellt, nutzen. Die erste der 95 Thesen Luthers zum Ablass lautet: „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße, dann will er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“31 Darum kann man der Reformation ohne Bereitschaft zur Umkehr nicht recht gedenken. Das heißt im Blick auf unser heutiges Thema: Richtiges Gedenken braucht die Bereitschaft, sich von der unglaublichen Leidenschaft, in der Luther mit der Bibel umgegangen ist, anstecken zu lassen. Evangelische können im Jahr 2017 nur dann stolz auf die Reformation sein, wenn sie diese Herausforderung annehmen. (www.strasbourginstitute.org) 31 WA 1; 233,10f. 16
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