Reformationsfest – Theologischer Abend – Prof. Dr. Theodor Dieter

Auslegung und Bedeutung der Heiligen Schrift für die Kirche der Reformation
Vortrag in der Kirche St. Stephan in Würzburg am 31. Oktober 2015
Theodor Dieter (Strasbourg)
2017 steht vor der Tür! 500 Jahre Reformation! Die Erinnerung ist nicht ganz einfach, denn
wer sich länger mit Martin Luther beschäftigt, spürt immer wieder, wie fremd er uns
geworden ist. In den zahllosen Veranstaltungen zur Erinnerung an die Reformation sollte die
evangelische Kirche sich nicht zu schnell auf Luther berufen, sondern diese Fremdheit
aushalten. Manches an der Reformation kann und soll ruhig der Vergangenheit angehören;
aber in vielem bedeutet Martin Luther und seine Theologie für uns eine aufregende
Herausforderung, der wir uns stellen sollten. Deshalb will ich das Thema „Auslegung und
Bedeutung der Heiligen Schrift für die Kirche der Reformation“ vor allem von Luther her
erörtern. An ihm kann man anschaulich und paradigmatisch erkennen, welche Rolle die
Heilige Schrift in der Kirche der Reformation gespielt hat und auch heute spielen sollte. Das
möchte ich im ersten Teil in sechs Schritten zeigen. Aber auch umgekehrt gibt es
Herausforderungen an Luthers Umgang mit der Heiligen Schrift; drei von ihnen will ich in
einem zweiten Teil am Ende meines Vortrags kurz erörtern.
I.
Erster Schritt: Ein Jahr vor seinem Tod berichtet Luther, wie er als junger Theologieprofessor
die Psalmen und die Briefe des Paulus an die Römer und Galater ausgelegt hat, aber immer
wieder an einem Wort hängen geblieben ist. „Ein ganz ungewöhnlich brennendes Verlangen
hatte mich gepackt“, schreibt er, „Paulus im Römerbrief zu verstehen, aber [...] ein einziges
Wort, das im ersten Kapitel steht, hatte mir bis dahin im Weg gestanden: ‚Die Gerechtigkeit
Gottes wird darin offenbart’ (Röm. 1,17).“1 Luther hatte das Wort „Gerechtigkeit“ so
verstanden, wie das Philosophen tun: gerecht ist, wer jedem das Seine gibt, dem guten
Menschen Gutes, dem bösen Menschen die Strafe. So stellen wir uns einen gerechten Richter
oder einen gerechten Lehrer vor. Aber nun war Luther als Augustinerbruder darin geübt, sich
selbst genau und rücksichtslos zu erforschen, und so erkannte er, wie oft er in seinem Innern
einen Widerwillen und eine Abneigung gegen das hatte, was Gott von ihm wollte. Wenn sich
das nun so verhielt und wenn Gott gerecht ist, dann – so musste er schließen – gehörte er zu
denen, die Unheil von Gott zu erwarten hatten. Er schreibt: „Ich aber, der ich, so untadelig ich
auch als Mönch lebte, vor Gott mich als Sünder von unruhigstem Gewissen fühlte, [...] [ich]
1
Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften Luthers (1545), in: Martin
Luther Ausgewählte Schriften, Bd. 1, hg. v. K. Bornkamm und G. Ebeling, Frankfurt 1982, 13-25, hier: 22.
1
liebte nicht, nein, ich hasste den gerechten und die Sünder strafenden Gott und war im stillen,
wenn nicht mit Lästerung, so doch allerdings mit ungeheurem Murren empört über Gott.“2
Man spürt hier die gewaltigen Emotionen: die Unruhe des Gewissens, das Murren gegen Gott,
ja den Hass gegen Gott. Es war nicht so, dass Luther eine übertriebene Sündenangst gehabt
hätte, wie das oft gesagt wird, dass er halt ein bisschen zu mittelalterlich gewesen wäre und
das Mittelalter noch übersteigert hätte. Nein, Luther war vielmehr ein konsequenter Denker:
Er hat sich selbst realistisch wahrgenommen mit der Frage, die Jesus gestellt hat (Markus
12,30): Liebst du Gott von ganzen Herzen? Und er hat ernst genommen, dass der gerechte
Gott (verstanden im philosophischen Sinn) jedem das Seine gibt, und das heißt: ihm, dem
Sünder, das Unheil. Wenn also im Evangelium die Gerechtigkeit Gottes kundgetan wird, die
jedem das Seine gibt, was sollte daran, so fragte er sich, Evangelium, frohe Botschaft sein?
„So raste ich wilden und wirren Gewissens; dennoch klopfte ich beharrlich an eben dieser
Stelle bei Paulus an mit glühend heißem Durst, zu erfahren, was St. Paulus wolle [= meine].“3
„Bis ich“, fährt Luther fort, „dank Gottes Erbarmen, unablässig Tag und Nacht darüber
nachdenkend, auf den Zusammenhang der Worte aufmerksam wurde.“4 Da steht nämlich
nebeneinander: Erstens, Gottes Gerechtigkeit wird im Evangelium offenbart, und zweitens:
Der Gerechte lebt aus Glauben. Gerechtigkeit hat also etwas mit dem Glauben zu tun, und so
lernt Luther, sie als eine Gabe Gottes zu verstehen. Gerechtigkeit Gottes ist keine Eigenschaft,
die Gott für sich behält, sondern etwas, das er uns mitteilt, damit wir gerecht sein können.
Gott ist der Urheber unserer Gerechtigkeit, wir sind die Empfänger, und das im Glauben. Die
Reaktion auf diese Entdeckung beschreibt Luther so: „Da hatte ich das Empfinden, ich sei
geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten.“5
Das ist eine Urszene für Luthers Umgang mit der Bibel. Ich möchte drei Aspekte
hervorheben:
Erstens betont Luther, dass er beharrlich an dieser Stelle (Römer 1,17) angeklopft habe (vgl.
1. Mose 17,6) und Tag und Nacht über sie nachgedacht und genau auf den Zusammenhang
der Worte geachtet hat. Er hat gründlich mit den biblischen Texten gearbeitet und dabei die zu
seiner Zeit fortschrittlichsten Methoden der Textauslegung gebraucht. Als der Humanist
Erasmus von Rotterdam das Neue Testament in griechischer Sprache herausgab, hat Luther es
sofort verwendet. Er hat Hebräisch gelernt, um das Alte Testament in seiner Sprache lesen zu
können. Später wird er die Ratsherren der deutschen Städte auffordern, Schulen zu gründen,
2
A.a.O., 22f.
A.a.O., 23.
4
Ebd.
5
Ebd.
3
2
damit die Kinder, auch die Mädchen, lesen lernen; sie sollen sich selber mit der Bibel
beschäftigen können.6 Die Auslegung der Bibel fordert den Verstand des Menschen, und der
Verstand muss ausgebildet werden. Die biblischen Texte haben einen klaren und erkennbaren
Sinn; darum kann man mit Argumenten um die rechte Auslegung streiten.
Und doch, das ist das Zweite, und doch betont Luther, dass es Gottes Erbarmen war, das ihm
das rechte Verständnis von Gottes Gerechtigkeit eröffnet hat. Gerade weil er Tag und Nacht
nachdachte, wie er betont, konnte er es nur als ein Geschenk Gottes begreifen, dass sich ihm
schließlich das rechte Verständnis erschlossen hat. Es ist ihm etwas zuteil geworden, was er
trotz aller Anstrengung nicht selber machen konnte. Deshalb hat Luther immer wieder betont,
dass die Beschäftigung mit der Bibel mit dem Gebet um den Heiligen Geist beginnen sollte.
Das war für ihn keine fromme Übung, die man auch lassen kann, sondern es entsprang der
Erfahrung, dass die wahre Erkenntnis, die Erkenntnis, in der die Augen des Herzens
aufgehen, immer etwas ist, das einem widerfährt. Es geht ja nicht nur darum, dass sich der
Sinn der biblischen Sätze oder Texte erschließt, es kommt auch darauf an, dass sie Menschen
als wahr einleuchten und etwas für ihr Leben bedeuten.
Drittens: Wir haben gesehen, dass der Umgang mit der Bibel für Luther mit den stärksten
Emotionen verbunden war, mit Verzweiflung und Hass, bevor er die rechte Einsicht
gewonnen hatte, dann aber mit Liebe und reinem Glück. Die biblischen Texte sind für Luther
nicht nur der Gegenstand, den er auslegt; das Verhältnis kehrt sich auch um, die Texte legen
ihn, den Ausleger aus. Sie sagen ihm, wer er selbst ist und wie er sich einzuschätzen hat, wer
Gott ist und was er von ihm zu erwarten hat. Als Mönch hat er intensiv mit der Bibel gelebt.
Sieben Mal am Tag hat er zusammen mit seinen Mitbrüdern das Stundengebet gehalten, zu
dem als wesentliches Element die Psalmen gehörten. Die biblischen Texte haben ihn geprägt
und bestimmt; nur darum konnte ein neues Verständnis der Texte auch eine so tief greifende
Wirkung entfalten. Was Luther nun als Mönch erfahren hatte, das wollte er als Reformator
auch allen Christen zugute kommen lassen; zwar nicht die sieben Stundengebete, aber doch
den täglichen Umgang mit der Heiligen Schrift.
Zweiter Schritt: Wer im Umgang mit der Heiligen Schrift eine solche Einsicht wie Luther
gewonnen hat, der wird diese Einsicht um nichts in der Welt aufzugeben bereit sein. Das hat
sich 1521 in Worms gezeigt, als Luther vor Kaiser und Reich erscheinen musste, nachdem er
von der Kirche in den Bann getan, also ausgeschlossen worden war. Luther war in der
Meinung nach Worms gekommen, dort seine Lehre verteidigen zu müssen. Er wurde aber nur
6
Vgl. Eine Predigt Martin Luthers, dass man Kinder zur Schule halten solle (1530), in: Martin Luther
Ausgewählte Schriften, Bd. 5, hg. v. K. Bornkamm und G. Ebeling, Frankfurt 1982, 91-139.
3
mit der Forderung, alle seine Schriften zu widerrufen, konfrontiert. Daraufhin hat er seine
berühmte Antwort gegeben: „Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder einen klaren Grund
widerlegt werde – denn allein dem Papst oder den Konzilien glaube ich nicht, da es feststeht,
dass sie häufig geirrt und sich auch selbst widersprochen haben –, so bin ich durch die von
mir angeführten Schriftworte bezwungen. Und solange mein Gewissen durch die Worte
Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit
bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“7 Diese Szene gilt als eine
Sternstunde des Gewissens, eine Ursituation, in der die Freiheit des Gewissens, die Berufung
auf das Gewissen verwirklicht wurde. Aber man sollte schon etwas genauer zusehen. Luther
selbst spricht ja nicht davon, dass sein Gewissen frei ist, sondern sagt im Gegenteil, dass es
gebunden ist. Er kann nicht widerrufen, weil sein Gewissen gebunden ist. Es ist, wie er sagt,
gebunden durch die Worte der Heiligen Schrift, die er in seinen Schriften angeführt hat. Die
Heilige Schrift kann aber nur für jemanden verbindlich sein, wenn sie verstanden wird.
Offenbar hat Luther die Schrift anders verstanden als seine Gegner. Deshalb muss man
Luthers Ausspruch so verstehen: Mein Gewissen ist gebunden durch die Schriftworte, so wie
ich sie mit guten Gründen verstanden und wie ich das in meinen Schriften dargelegt habe.
Luther beruft sich Luther nicht auf sein Gewissen, wenn es darum geht zu behaupten, dass
seine Auslegung der Heiligen Schrift zutreffend ist. Vielmehr sagt Luther ausdrücklich: Ich
bin ein Mensch, ich kann irren. Darum bittet er darum, dass ihm nachgewiesen wird, dass
seine Auslegung der Schrift falsch ist. Dann, falls dieser Nachweis überzeugend geführt
worden sein sollte, sei er bereit zu widerrufen.8 Niemand hat jedoch auf dem Reichstag einen
solchen Versuch gemacht. Luthers Gewissen hindert ihn daran zu widerrufen, denn es ist
Zeuge dessen, dass Luther bestimmte Schriftworte nicht anders verstehen kann, es sei denn, er
würde eines Besseren belehrt. Aber Luther beruft sich nicht auf sein Gewissen um zu sagen,
dass sein Verständnis der Bibel recht ist. Das ist Sache der Diskussion. Das Gewissen ist
keine Offenbarungsinstanz. Der Satz, gegen das Gewissen zu handeln gefährde die Seligkeit,
7
Übersetzung nach Kurt-Victor Selge, Capta conscientia in verbis Dei, Luthers Widerrufsverweigerung in
Worms, in: Der Reichstag zu Worms von 1521. Reichspolitik und Luthersache, hg. v. F. Reuter, Köln / Wien
2
1981, 180-207, hier: 180.
8
K.-V. Selge zitiert aus der zweiten Rede Luthers in Worms: „Weil ich aber ein Mensch bin und nicht Gott,
kann ich meinen Schriften nicht anders beistehen, als mein Herr Jesus Christus seiner Lehre beigestanden hat,
der, als er vor Hannas über seine Lehre befragt wurde und ein Diener ihm ins Gesicht schlug, gesagt hat: Habe
ich unrecht getan, so beweise, dass es unrecht ist (Joh 18, 23). Wenn der Herr selbst, der wusste, dass er nicht
irren könne, es nicht verschmäht, selbst von einem niederen Knecht ein Zeugnis gegen seine Lehre zu hören, wie
viel mehr muss dann ich Nichts, der nur irren kann, darum bitten und erwarten, ob jemand wider meine Lehre
Zeugnis vorbringen will. Darum bitte ich um der Barmherzigkeit Gottes willen, Eure Majestät, Eure
durchlauchtigsten Herrschaften oder wer auch immer es vermag, sei er der Höchste oder Geringste, so wolle er
Zeugnis geben, die Irrtümer widerlegen, sie mit Propheten- und Evangelienzeugnissen überwinden; denn ich
werde, wenn ich belehrt worden bin, jeden möglichen Irrtum widerrufen, und werde der erste sein, der meine
Bücher ins Feuer wirft.“ (Selge, a.a.O., 185f.)
4
ist im übrigen kein Satz, den Luther aufgebracht hätte; er ist vielmehr ein Satz des
mittelalterlichen Kirchenrechts, das ausdrücklich festgelegt hat: Wer gegen das Gewissen
handelt, pflastert sich den Weg zur Hölle!9 Luther hat also für seine Verweigerung des
Widerrufs mittelalterliches Kirchenrecht in Anspruch genommen. Wenn es jedoch um die
Richtigkeit seiner Schriftauslegung ging, hat Luther vernünftige Argumente vorgebracht und
die Bereitschaft gezeigt, sich durch bessere Argumente korrigieren zu lassen. Das Gewissen
ist, jedenfalls für Luther, keine autonome Instanz, sondern eine Instanz, die an der Heiligen
Schrift gebildet werden muss; sie ist, wie der lateinische Name „conscientia“ sagt, ein
Mitwissen, ein Bewusstsein, dass jemand – in unserem Fall – nach sorgfältiger Prüfung zu
einem bestimmten theologischen Urteil gekommen ist. Dieses Urteil kann er solange nicht als
falsch erklären, als er seinen möglichen Irrtum nicht eingesehen hat. Hätte Luther widerrufen,
ohne eines Besseren belehrt worden zu sein, dann hätte er in vollem Bewusstsein etwas für
falsch erklärt, von dem er überzeugt war, dass es wahr und heilsam ist. Damit hätte er seine
Existenz als Christ verletzt und gefährdet. Wäre Luther aber nicht bereit gewesen, sich durch
bessere Argumente berichtigen zu lassen, dann hätte er sich für unfehlbar erklärt, was er doch
als Mensch nicht sein kann. Das Gewissen ersetzt die Bemühung um das rechte Verständnis
der Bibel nicht, es setzt dieses Bemühen vielmehr voraus.
Dritter Schritt: Weil es für Menschen von grundlegender Bedeutung ist, dass sie ihr Leben
von der Heiligen Schrift bestimmen lassen, hat Luther dafür ein umfangreiches Programm
entwickelt. Dazu gehört natürlich an erster Stelle die Übersetzung der Bibel. Gegen Ende
seines Zwangsaufenthalts auf der Wartburg übersetzt Luther das Neue Testament in 11
Wochen ins Deutsche. Nach seiner Rückkehr nach Wittenberg geht er die Übersetzung
zusammen mit seinem brillanten Fachkollegen für Griechisch, Philipp Melanchthon, kritisch
durch. Das Neue Testament deutsch erscheint im September 1522 und wird sogleich, obwohl
es sehr teuer ist, ein Bestseller; es muss bereits im Dezember in einer revidierten Fassung
nachgedruckt werden. Die Übersetzung des Alten Testaments dauert viel länger; die Vollbibel
in deutscher Sprache kann erst 1534 veröffentlicht werden. Welche Mühe die Übersetzung
gekostet hat, zeigt sich etwa, wenn Luther von der Übersetzung des Hiob-Buchs berichtet:
„Im Hiob erbeiten [mühten uns ab] also, M[agister] Philipp [Melanchthon], Aurogallus [– er
war Professor für Hebräisch in Wittenberg –] und ich, dass wir in vier Tagen zuweilen kaum
drei Zeilen konnten fertigen [fertigstellen].“10 Luther hat auch seine eigenen Übersetzungen
9
Decretum Gratiani, c. 91ff. C. XI, qu. 3.
H. Volz, Einleitung zu D. Martin Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545, hg. v. H.
Volz, Bonn 2008, 33*-144*, hier: 67*.
10
5
immer wieder revidiert, bis er mit ihnen zufrieden sein konnte. Ein Beispiel: Psalm 23 ist
Ihnen im Ohr. Die Übersetzung beginnt mit: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts
mangeln.“ Den folgenden Vers hat Luther zunächst, der hebräischen Sprachmelodie folgend,
so übersetzt: „Er lässt mich weiden, da viel Gras steht, und führet mich zum wasser, das mich
erkühlet.“ Das ist richtig übersetzt, aber es ist kein gutes Deutsch. Darum ändert Luther seine
Übersetzung in: „Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen
Wasser.“11 Aus „er lässt mich weiden, da viel Gras steht“ wird: „er weidet mich auf einer
grünen Aue“, und aus dem „Wasser, das erkühlet“ wird „frisches Wasser“. Hat man die
Übersetzung, dann ist sofort klar: So muss es heißen! Aber man muss eben darauf kommen!
Luthers Grundsatz beim Übersetzen lautete: „Wer Deutsch reden will, der darf nicht der
Weise der hebräischen Worte folgen, sondern muss darauf sehen, wenn er den hebräischen
Mann versteht, dass er den Sinn fasse und denke also: Lieber, wie redet der deutsche Mann in
solchem Fall? Wenn er nun die deutschen Worte hat, die hierzu dienen, so lasse er die
hebräischen Worte fahren und spreche frei den Sinn heraus aufs beste Deutsch, so er kann.“12
Aber dieses Verfahren hat für Luther – das sollte man heute bedenken – auch Grenzen: Wenn
eine gelungene deutsche Formulierung den Sinn des biblischen Textes nicht genau zu treffen
vermochte, dann hat es Luther vorgezogen, eine weniger elegante deutsche Fassung zu
nehmen, um dem spezifischen Profil eines Textes gerecht zu werden.
Zu Luthers Zeit hat es keine gemeinsame deutsche Schriftsprache gegeben; es gab zahlreiche
Dialekte. Luther hat sich der sächsischen Kanzleisprache bedient, die als Verkehrssprache am
weitesten verbreitet war. „Ich habe“, meint Luther, „eine allgemein verständliche Sprache und
keine besondere; daher kann man mich in Nieder- und Oberdeutschland verstehen. Ich rede
nach der sächsischen Kanzlei, der alle deutschen Fürsten folgen.“13 Dennoch hat man dem
Bibeldruck in Basel ein Glossar, eine Liste mit etwa 200 Wörtern beigegeben, die im
Oberdeutschen nicht geläufig waren, aber in Luthers Übersetzung vorkamen.14 Luther bat
Freunde, Ausdrücke zu sammeln, die nicht aus seiner Kindheitsgegend stammten, er war
sozusagen „wortgierig“15 (Lewischaroff), und er schuf neue Worte und Wendungen. Wie tief
Luthers Übersetzung in die deutsche Sprache hineingewirkt hat, kann man auch an den vielen
11
Vgl. Volz, a.a.O., 89*.
A.a.O., 92* (Text leicht modernisiert).
13
A.a.O., 120.
14
Eine Seite aus diesem Glossar ist abgedruckt in J. Schefzyk / E. Zwink (Hg.), Luthers Meisterwerk. Ein Buch
wie eine Naturgewalt, Mainz 2015, 85. Beispiele: „Anstoß“ = „ergernuß, strauchlung“, „Braussen“ =
„rauschen/sausen“, „Eyffer“ = „ernst“, „Flehen“ = „bitten/ernstlich begeren“, „Freyen“ = „weiben/eelich
werden“, „Gegent“ = landtschafft“, „Getreyde“ = „korn/frucht“ usw.
15
Diesen Ausdruck gebraucht Sibylle Lewischaroff in ihrem interessanten Vortrag „Von der Wortgewalt“, in:
M.L. Knott / T. Brovot / U. Blumenbach (Hg.), Denn wir haben Deutsch. Luthers Sprache aus dem Geist der
Übersetzung, Berlin 2015, 19-30, hier: 24.
12
6
Redewendungen sehen, die wir alltäglich gebrauchen und die aus jener Übersetzung
stammen. Wendungen wie „ein Herz und eine Seele, „dienstbare Geister“, „ein Dorn im
Auge“, ein „Fallstrick“, „ein Buch mit sieben Siegeln“, „im Dunkeln tappen“, „sein Herz
ausschütten“, „seine Hände in Unschuld waschen“, jemanden „auf den Händen tragen“. Viele
weitere Beispiele finden Sie im Büchmann, in dem Buch Geflügelte Worte.16 So hat Luther
wesentlich zur Ausbildung einer einheitlichen deutschen Sprache beigetragen.
Vierter Schritt: Nun hatte man also die Bibel in deutscher Sprache. Manche sagen dann, wie
etwa der EKD-Text „Rechtfertigung und Freiheit“: „Für die Reformatoren ist keine kirchliche
Autorität als Garant der richtigen Schriftauslegung erforderlich. Jeder Christ ist selbst in der
Lage, die biblischen Texte zu verstehen.“17 Gewiss, die Autoritäten der römischen Kirche
konnten für die Reformatoren nicht die rechte Schriftauslegung garantieren; mit ihnen waren
die Reformatoren ja gerade im Konflikt. Aber kann man darum schon folgern, dass eine
kirchliche Autorität für die rechte Schriftauslegung nicht erforderlich sei? Luther jedenfalls
hat die Sache nicht so einfach gesehen. Man möge drei Dinge bedenken.
Erstens: Luther hat zu jedem Buch der Bibel eine Vorrede geschrieben, die dem Leser und der
Leserin helfen sollte, das jeweilige Buch recht zu verstehen.18 Wenn Luther selbst trotz seines
intensiven Umgangs mit der Bibel Jahre gebraucht hat, sie recht zu verstehen, kann man dann
erwarten, dass irgendein Leser, der die Bibel zur Hand nimmt, sie gleich verstehen kann?
Luther hat sich sehr genaue Gedanken gemacht über die Bedingungen, die gegeben sein
müssen, damit der Einzelne tatsächlich selber die Bibel lesen kann. Ein Beispiel: Als er den
Kommentar Melanchthons zum Römerbrief herausgab, hat er im Vorwort betont, man möge
bitte die Heilige Schrift nicht allein, also nicht sola scriptura lesen, sondern zusammen mit
den Erläuterungen des Fachmannes Melanchthon.19
Zweitens: In seiner „Predigt, dass man Kinder zur Schule halten solle“ wirbt Luther energisch
dafür, dass Eltern ihre Kinder zum Unterricht schicken und sie nicht aus Geiz zu Haus
behalten. „Wo die Theologen verschwinden, da verschwindet Gottes Wort“,20 ruft Luther den
Eltern zu. Er sagt nicht: Ihr habt doch die Bibel, und jeder kann die Bibel lesen. Was braucht
man da noch die Pfarrer? Ja gewiss, jeder kann die Bibel lesen, aber das geschieht sinnvoll
und fruchtbar nur im Rahmen der Kirche, in der das Wort Gottes von gut ausgebildeten
16
Vgl. Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes, gesammelt und erläutert von Georg
Büchmann, Frankfurt 331981, 1-50.
17
Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext der EKD, Gütersloh 2014, 80.
18
Luthers Vorreden zur Bibel, hg. v. H. Bornkamm, Göttingen 31989.
19
Vgl. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 10II; 310,12-16.
20
A.a.O. (siehe Anm. 6), 132.
7
Pfarrern gepredigt wird.21 „Man braucht nicht allein hochgelehrte Doktoren und Magister der
Schrift; man muss auch einfache Pfarrer haben, die das Evangelium und den Katechismus
verbreiten beim jungen und ungebildeten Volk, taufen, Sakramente reichen usw., auch wenn
sie nicht zum Streit gegen die Ketzer taugen.“22 Für die theologischen Debatten mit den
Ketzern um die Wahrheit des Evangeliums braucht man offenbar die hochgelehrten Doktoren.
Und dazu, dass jeder Glaubende selbst die Bibel lesen kann, braucht man Pfarrer, die eine
elementare intellektuelle Kompetenz und existentielle Erfahrung mit dem Wort Gottes haben.
Man sollte nicht falsche Alternativen aufstellen, hier etwa: Ich kann die Bibel selber lesen, auf
der einen Seite, und die Autorität der Kirche, auf der anderen Seite. Für Luther ist das keine
Alternative, sondern ein notwendiges Zusammenspiel. Drittens: Jeder kann die Bibel lesen,
gewiss, aber die Pointe Luthers ist nicht, dass das jeder kann, sondern dass jeder und jede nur
dann wirklich Zugang zu ihr finden, wenn die Bibel zum Lebensbuch wird. In der Vorrede
zum Brief des Paulus an die Römer schreibt er: „Diese Epistel [= Brief] ist das rechte
Hauptstück des Neuen Testaments und das allerlauterste Evangelium, welche wohl würdig
und wert ist, dass sie ein Christenmensch nicht allein von Wort zu Wort auswendig wisse,
sondern täglich damit umgehe als mit täglichem Brot der Seele.“23 Das heißt es, die Bibel zu
lesen!
Fünfter Schritt: Dazu, dass die Bibel zum Lebensbuch wird, will Luther auch dadurch
beitragen, dass er biblische Texte in Lieder umsetzt. Eine besondere Weise, die Heilige
Schrift präsent zu machen, ist für Luther das Kirchenlied. Schon in seiner ersten Vorlesung
sagte der junge Professor seinen Studenten, dass sich Singen und Sagen so unterschieden wie
einen Psalm singen oder ihn nur mit dem Verstand erkennen. Das Wort gehöre zum Verstand,
der Gesang zum Affekt, zum Gefühl. Das reflektierte Luthers Erfahrung als Mönch, der jeden
Tag im Stundengebet die Psalmen gesungen hat. 1523 schreibt Luther: „Ich habe die Absicht,
nach dem Exempel der Propheten und der alten Väter der Kirche deutsche Psalmen für das
Volk zu schaffen, das heißt geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang
unter den Leuten bleibe.“24 Dafür erfindet Luther die Gattung des deutschen Psalmliedes. Von
Luther sind insgesamt 37 Lieder überliefert, die er gedichtet und für die er teilweise auch
Melodien komponiert hat. Luthers Hochschätzung der Musik ist bekannt, und weil wir in
21
Luther schrieb sehr viele Kommentare zu den Evangelien- und Episteltexten, die für die Sonntags- und
Feiertagsgottesdienste vorgesehen waren, und gab sie in Sammlungen heraus („Postillen“: Adventspostille,
Wartburgpostille, Weihnachtspostille, Fastenpostille, Sommerspostille, Hauspostille, Winterpostille). Die
Prediger sollten die Auslegungen als Hilfsmittel für ihre Predigten verwenden und eigenständig zu Predigten
machen.
22
A.a.O. (siehe Anm. 6), 111.
23
Luthers Vorreden zur Bibel (siehe Anm. 18), 177 (Hervorhebung hinzugefügt).
24
Weimarer Ausgabe. Briefe 3; 220,1-3.
8
Bayern sind, möchte ich aus einem Brief Luthers an den Hofkapellmeister der bayrischen
Herzöge, Ludwig Senfl, aus dem Jahr 1530 zitieren: „Ich [...] lobe sogar Deine Herzöge von
Bayern sehr, so wenig sie mir auch geneigt sind, und achte sie vor anderen, weil sie die Musik
so pflegen und ehren. Und es ist kein Zweifel: Viele Samen guter Eigenschaften stecken in
den Gemütern, die von der Musik ergriffen werden [...] Und ich urteile frei heraus und scheue
mich nicht zu sagen, dass nach der Theologie keine Kunst sei, die der Musik gleichzustellen
wäre, weil sie allein nach der Theologie das schenkt, was sonst allein die Theologie schenkt:
ein ruhiges und fröhliches Herz.“25 Was Luther an der Musik besonders schätzt, ist ihre
Wirkung auf die Affekte. Weil die Musik traurige, depressive Menschen wieder fröhlich zu
machen vermag, hat sie eine besondere Nähe zum Evangelium. Ich möchte zwei Beispiele
von Luthers Liedschaffen im Dienst des Wortes Gottes kurz erwähnen.
Das bekannteste Beispiel eines Psalmliedes ist „Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott
erhör mein Rufen.“ Hier nimmt Luther Psalm 130 auf, einen so genannten Bußpsalm; er legt
ihn textnah aus und fügt doch kurze Ergänzungen hinzu, die den Psalm im Licht des
Römerbriefs interpretieren. In einfachen, elementaren Worten wird hier Theologie ins Lied
und zum Singen und Klingen gebracht. Während das Lied anfänglich mit der Melodie eines
Osterlieds gesungen wurde, hat Luther dann selbst eine passendere Melodie komponiert. Sie
beginnt mit einem Quintsprung in die Tiefe und geht sogleich wieder nach oben, so dass man
singend tatsächlich in die Tiefe hinabsteigt und mit dem Gebet wieder aufsteigt. Wenn Sie
einmal Lied und Psalm nebeneinander legen, können Sie sehen, wie Luther den Psalm in ein
gesungenes Gebet verwandelt hat. Das ist eine höchst intensive Weise, biblische Inhalte so
weiterzugeben, dass sie Verstand und Herz ansprechen und auswendig präsent sind.
Als zweites Beispiel nehme ich eines der bekanntesten Weihnachtslieder, „Vom Himmel
hoch, da komm ich her“. Es zeigt, wie kreativ Luther die Botschaft der Engel auf dem
Hirtenfeld von Bethlehem in ein Lied umgesetzt hat. Das Lied wurde im Wittenberger
Gesangbuch von 1535 mit der Melodie eines weltlichen Liedes abgedruckt. Dessen Text
lautete interessanterweise so: „Ich komm von fremden Landen her / und bring euch viel der
neuen Mär. Der neuen Mär bring ich euch viel, mehr dann ich euch hier sagen will“. In
Luthers Zeit sind Nachrichten zum Teil von fahrenden Sängern, die von Dorf zu Dorf zogen,
verbreitet worden. Ein solcher Sänger hat sich auf den Marktplatz gestellt und das, was er zu
sagen hatte, mit den Worten angekündigt: „Von fernen Landen komm ich her und bring euch
viel der neuen Mär“ – ich bringe euch viele neue Informationen. Wenn nun Luther dieses
Lied aufnimmt, dann lässt er den Weihnachtsengel wie einen fahrenden Sänger auf dem
25
Martin Luther Ausgewählte Schriften, Bd. 6, hg. v. K. Bornkamm / G. Ebeling, Frankfurt 1982, 133f.
9
Marktplatz auftreten, der die gute Nachricht von der Geburt des Gottessohnes publik macht.
Diese Melodie und den Text haben oft auch junge Burschen gebraucht, wenn sie sich abends
auf dem Tanzplatz mit Mädchen getroffen haben. Sie traten in Wettstreit miteinander, wer die
bessere Geschichte zu dieser Melodie erzählen konnte. Der Sieger hat dann von einem
Mädchen einen Kranz bekommen. Weil es bei diesem Singwettbewerb vielleicht manchmal
etwas derb zugegangen ist, hat Luther dann doch später für dieses Lied eine eigene Melodie
geschaffen, und das ist die Melodie, die wir bis heute singen.
Wieder können Sie, wenn Sie das Lukasevanglium, Kapitel 2, neben das Lied legen,
verfolgen, wie Luther die Worte des Evangeliums in seinem Lied aufgenommen hat. Dabei
geht es Luther darum, dass wir die Geburt Jesu nicht nur als ein vergangenes Ereignis sehen,
sondern dass wir gleichzeitig mit ihm werden. Das gelingt ihm, indem er den Engel als
fahrenden Sänger erscheinen lässt, der uns direkt anspricht: „Vom Himmel hoch, da komm
ich her, ich bring euch gute neue Mär“ – euch! Indem wir die Worte der ersten Strophe
singen, hören wir zugleich dem Engel zu, der zu uns spricht. Den Inhalt der „guten, neuen
Mär“ stellt Luther so vor, dass er die Worte des Engels mit kurzen Ergänzungen versieht und
so theologisch weiterdenkt und auslegt. Spielerisch-singend werden 2000 Jahre überbrückt,
wir sind mitten im Geschehen von Bethlehem, und Bethlehem ist hier und heute. Und beide,
Verstand und Herz, Wahrnehmung und Gefühl sind mit dem gesungenen Lied angesprochen
und bewegt.
Sechster Schritt: Eine andere Weise, die Bibel unter die Leute zu bringen, ist der
Katechismus, die Kinderlehre des Glaubens, wie Luther sagt. Er enthält fünf Hauptstücke:
Glaubensbekenntnis, Zehn Gebote, Vaterunser, Taufe, Abendmahl, teilweise auch einen
Anhang über die Beichte. 1529 hat Luther den Kleinen und den Großen Katechismus verfasst
als Reaktion auf die erschreckenden Erfahrungen bei den Visitationen. Die Unkenntnis über
den Glauben war bei Pfarrern groß und erst recht bei den Gemeindegliedern. Was sollte da die
Rede vom allgemeinen Priestertum, wonach jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, sich
Priester nennen darf, wenn er nicht einmal das Vaterunser und die Zehn Gebote und auch das
Glaubensbekenntnis nicht kannte? Die Situation wird ähnlich gewesen sein wie heute
vielerorts in unserer Gesellschaft. So enttäuschend die Lage war, Luther hat nicht resigniert,
sondern mit dem Katechismus ein christliches Bildungsprogramm sondergleichen aufgelegt,
das bis heute Menschen hilft, in den christlichen Glauben hineinzufinden und in ihm zu
wachsen. Damals haben in manchen Ländern Kinder mit Übersetzungen von Luthers
Katechismus ihre Sprache gelernt. In Slowenien zum Beispiel hat der Reformator Primus
10
Truber mit der Übersetzung des Kleinen Katechismus sogar die slowenische Schriftsprache
geschaffen; der Katechismus war zugleich das erste Lehrbuch für die Schulkinder. Heute
würden wir sagen, dass Luther mit dem Katechismus die Christen sprachfähig machen wollte.
Aber das ist eine verkürzende Ausdrucksweise, denn sie setzt voraus, dass der Glaube schon
entwickelt ist und nur noch lernen muss, sich auszudrücken, während der Katechismus dem
Glauben allererst hilft, zu wachsen und zu einer klaren Gestalt zu kommen.
Luther versteht den Katechismus als „Laienbibel“26; er umfasst alles „was in der Schrift steht
und immer gepredigt werden mag, auch alles, was einem Christen not ist zu wissen“27. Der
Glaube ist Vertrauen in Gott; aber Vertrauen hat einen Inhalt; der Glaube will wissen, in wen
er vertraut und was das bedeutet. Das lässt sich in Sätzen sagen, das lässt sich sogar lernen,
worauf Luther größten Wert gelegt hat, so sehr er betont hat, dass der Glaube mehr ist als das
Fürwahrhalten von Sätzen. Aber weil der Glaube nichts Diffuses oder Vages, sondern etwas
Bestimmtes ist, lässt er sich auch aussagen, und die rechen Sätze können einem Menschen
helfen, seinen Glauben zu klären, zu vertiefen, ja sogar neu beleben. Luther sagt von sich
selbst: „Ich bin auch ein Doktor und Prediger ... Dennoch tue ich wie ein Kind, das man den
Katechismus lehrt, und lese und spreche auch von Wort zu Wort des Morgens und wenn ich
Zeit habe, die Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, Psalmen usw. Und muss
noch täglich dazu lesen und studieren und kann dennoch nicht bestehen, wie ich gerne wollte,
und muss ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben und bleib’s auch gerne.“28 Luther
studiert und meditiert den Katechismus natürlich nicht, um neue Informationen zu
bekommen. Darum geht es nicht; er kennt ihn auswendig. Sondern es geht darum, dass das,
wovon der Katechismus spricht, seine Person, sein Herz und seinen Verstand tiefer ergreift,
dass es sein Leben tiefer bestimmt, dass es in den immer neuen Lebenssituationen, in denen er
sich befindet, zum Tragen kommt. Wir sollen nicht nur die Bibel auslegen, sondern die Bibel
soll auch uns auslegen.
II.
Ich habe am Beispiel Martin Luthers und seines Umgangs mit der Bibel zu skizzieren
versucht, wie die Heilige Schrift für die lutherische Kirche Bedeutung gewinnt. Ich habe das
getan in der Hoffnung, dass wir uns von Luther herausfordern lassen, neu über unser
Verhältnis zur Heiligen Schrift nachzudenken. Ich möchte nun zum Schluss umgekehrt drei
26
Weimarer Ausgabe. Tischreden, Bd. 5; 581, 30.
WA 7;204,8-11.
28
Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel,
Göttingen 2014, 916 (Text leicht modernisiert).
27
11
Herausforderungen für unseren Umgang mit der Bibel, vor denen wir gegenwärtig stehen,
erörtern.
Erste Herausforderung: Heute begegnet man vielen Menschen, die meditieren, und die in
ihrer Meditation versuchen, ihren Kopf leer zu bekommen, die Gedanken ziehen zu lassen,
und die die Leere genießen. Warum, so fragen sie, soll man sich auf den doch etwas
mühsamen Umgang mit der Bibel einlassen? Geht es nicht einfacher? Ist der Umgang mit der
Bibel wirklich wichtig? In der Perspektive des christlichen Glaubens wird man auf diese
Frage etwa so antworten: Stellen Sie sich einmal vor, dass Gott sich tatsächlich mitgeteilt hat,
dass er sich offenbart hat, in der Schöpfung, in der Geschichte mit Israel und definitiv in Jesus
Christus. Wenn wir dann wie der Jünger Philippus im Johannesevangelium die Bitte äußern:
Zeige uns Gott!, dann wird Jesus antworten: „Wer mich sieht, der sieht Gott“ (Johannes 14. 811). Jesus ist das Gesicht Gottes. Wenn ich also wissen will, wer Gott in Wahrheit ist, komme
ich an Jesus nicht vorbei. Wie aber sollen Menschen von Jesus wissen, wenn nicht durch die
Überlieferung der Apostel? Diese Überlieferung ist nun freilich maßgeblich bezeugt in der
Heiligen Schrift. Darum ist es ein Grundsatz lutherischer Theologie: Wir kommen nicht zu
Gott und Gott kommt nicht zu uns ohne das Wort, das wir in der Heiligen Schrift finden, nicht
ohne das leibliche Wort, wie die Reformatoren sagten, das hörbare Wort der Predigt und das
sichtbare Wort der Sakramente.
Dieser Grundsatz bringt uns heute allerdings in größte Probleme. Ist es nicht anmaßend,
geradezu arrogant zu sagen, dass sich Gott in Jesus Christus definitiv, endgültig,
unüberbietbar offenbart? Ist das nicht eine Verachtung der anderen Religionen? Darauf würde
Luther wohl antworten: Was ist wirklich anmaßend? Was ist arrogant? Wenn Gott tatsächlich
die unendliche Mühe auf sich genommen hat, in Jesus Mensch zu werden, zu leiden, sogar zu
sterben und wieder aufzuerstehen, und das, um die unfassbare Not der Menschen zu teilen
und schließlich zu überwinden, wenn das also der Fall ist, wäre es dann nicht anmaßend, dies
als eine religiöse Möglichkeit unter vielen zu verstehen, wenn doch Christus für alle
Menschen gelebt hat und gestorben ist? Christus ist ja nicht nur für die Christen gestorben,
sondern für alle Menschen. Wäre es nicht in höchstem Maß arrogant, Gott erkennen zu wollen
und an dem Weg, den er selbst gewählt hat, vorbeizugehen und ihn so zu verachten? Wer also
ist arrogant? Hier geht es um Grundeinsichten und Grundentscheidungen der
Lebensorientierung, die nicht mit der Forderung nach Nichtdiskriminierung beantwortet
werden können, weil die Frage der Wahrheit auf einer anderen Ebene liegt als die rechtliche
oder moralische Forderung der Nichtdiskriminierung.
12
Den Anspruch zu erheben, dass Gott sich in Christus definitiv offenbart hat, heißt aber nicht,
intolerant zu sein, denn Toleranz kommt erst da wirklich ins Spiel, wo man den
Wahrheitsanspruch einer anderen Religion bestreitet und ihr dennoch einen Platz in der
Gesellschaft zugesteht. Wenn man die jeweiligen Ansprüche der Religionen für gleich gültig
hält, also ihnen gegenüber gleichgültig ist, dann bedarf es keiner Toleranz. Toleranz, das
Ertragen eines anderen, ist erst da gefragt, wo ich das Anderssein des Anderen nicht billige
und doch bereit bin, mit ihm zusammenzuleben. Die Frage nach der Wahrheit ist elementarer
als die Frage der Toleranz; gerade darum schließen sich Wahrheitsanspruch und Toleranz
nicht aus. Die Frage, warum der Umgang mit der Bibel für Christinnen und Christen so
wichtig ist, hat uns also zu einer sehr aktuellen Herausforderung, vor der unsere Gesellschaft
heute steht, geführt.
Eine zweite Herausforderung: Viele Menschen, auch in der Kirche, sagen: In der Bibel tritt
mir eine vergangene Sprache und Denkweise entgegen, die ich nicht verstehe und mit der ich
nichts anfangen kann. Ich erinnere mich an eine Situation in meiner Vikarsausbildung vor
vielen Jahren, die sich mir ins Gedächtnis eingeprägt hat. Wir sollten das Gleichnis vom
reichen Kornbauern für den Schulunterricht vorbereiten und hatten dazu einige 15-, 16 jährige
Schüler eingeladen. Wir lasen den Text vom Bauern, der eine reiche Ernte einfährt, Scheunen
baut, sich zufrieden zurücklehnt, zu dem aber Gott sagt: „Du Narr! Heute Nacht wird man
deine Seele von dir fordern.“ Dieser Satz war für die Schüler völlig unverständlich. Was ist
denn das: die Seele, die man fordert? Sie konnten die Pointe der Erzählung nicht verstehen.
Nun könnte man eine moderne Übersetzung machen und schlicht sagen: „Heute Nacht wirst
du sterben. Was hast du dann davon, dass du volle Scheunen hast?“ Diesen Satz hätten die
Schüler verstehen können. Damit wäre zwar das Sprachproblem gelöst gewesen, nicht jedoch
das Sachproblem. Das Wort „Seele“ steht hier nämlich auch für die Frage: Gibt es ein Leben
nach dem Tod und wie hängt es mit dem Leben vor dem Tod zusammen? Dabei ist klar, dass
beinahe alle Wörter in diesem Fragesatz selbst Fragen enthalten: Was heißt „nach dem Tod“
für den Verstorbenen? Gibt es für den Verstorbenen eine Zeitlinie, so dass man „vor“ und
„nach“ dem Tod unterscheiden kann? Kann man die Existenz vor und „nach“ dem Tod Leben
nennen und in welchem Sinn? Aber genau diese Fragen will das Gleichnis wecken. Das
Unverständnis ist also nicht zuerst ein Sprachproblem, sondern das Problem, dass eine
Fragestellung, die Menschen über Jahrtausende bewegt hat, in Vergessenheit geraten ist. Nun
könnte man darauf so reagieren und sagen: Vergessen wir das Gleichnis! Die Kirche soll nicht
Fragen beantworten, die die Menschen heute nicht stellen. Kümmern wir uns lieber um die
Bewältigung des alltäglichen Lebens! Aber würden wir dann nicht genau das tun, was der
13
reiche Kornbauer macht? Zu ihm aber sagt Gott: „Du Narr!“? Die Bibel will uns gerade neue
und tiefere Dimensionen unseres Lebens erschließen; darum wäre es nicht sinnvoll, die Bibel
einfach am Lebensverständnis der heutigen Menschen zu messen. Wir würden den Mehrwert,
den die Bibel uns vermitteln kann, zunichtemachen, wenn wir unsere heutigen, oft sehr
reduzierten und armen Auffassungen zum Maß des Verstehens machen würden. Darum ist es
die Aufgabe, im Umgang mit der Heiligen Schrift die Fremdheit mancher ihrer Texte
auszuhalten, sich von ihnen herausfordern zu lassen und zu sehen, ob sich durch sie nicht
Tiefendimensionen unserer Existenz erschließen. Ohne die Begegnung mit diesen Texten
wären wir genau um diese Dimensionen ärmer. Das ist im Übrigen gar nicht zuerst eine
Aufgabe mit Blick auf Menschen, die außerhalb der Kirche sind, sondern zuerst mit Blick auf
uns selbst, die wir in der Kirche sind oder soweit wir in der Kirche sind. Denn wenn wir die
Erfahrung machen, dass der Umgang mit der Bibel uns neue Lebensdimensionen erschließt,
wird das auch andere ins Fragen bringen. Und wenn man genauer darüber nachdenkt, dann
taucht in jedem Menschen irgendwann die Frage auf, um die es in jenem Gleichnis geht, denn
wir alle gehen auf dieses „nach dem Tod“ zu; diese Unausweichlichkeit aber stellt uns
Fragen, denen wir nicht entgehen können.
Ich komme zur dritten Herausforderung, die ich ansprechen möchte. Luther hat immer wieder
betont, dass die Texte der Heiligen Schrift einen klaren, erkennbaren Sinn haben, und dass
dunkle, schwer verständliche Stellen von den hellen und klaren Stellen her auszulegen sind.
Das ist darum so wichtig, weil diese Klarheit es uns erlaubt, im Licht der biblischen Botschaft
unsere eigenen Gedanken über Gott und uns selbst zu korrigieren. Deshalb hat Luther so
heftig gegen die polemisiert, die die Bibel willkürlich ausgelegt haben und betont: „das Wort
sie sollen lassen stahn“. Ohne diese Klarheit bleiben wir in unseren eigenen Gedanken
gefangen, sind in uns selbst verkrümmt. Wenn wir die Bibel so lesen, dass wir darin nur
unsere eigenen Gedanken finden, dann ist die Offenbarung in Christus letztlich umsonst
geschehen, und wir drehen uns weiter um uns selbst. Gerade die Generation Selfie braucht
den „festen Buchstaben“, um aus ihrer Selbstverliebtheit befreit zu werden. Aber nun
beobachten wir, dass auch Menschen mit gutem Willen und der Kompetenz zum Verstehen
die biblischen Texte unterschiedlich auslegen und unterschiedliche Folgerungen daraus
ziehen. Manche behaupten heute, ein Text habe in sich selbst gar keinen Sinn; der Sinn
entstehe erst im Lesen oder im Leser oder der Leserin. In der Orientierungshilfe der
Evangelischen Kirche in Deutschland „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als
verlässliche Gemeinschaft stärken“ heißt es: „Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und
der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens, bleibt entscheidend, wie Kirche
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und Theologie die Bibel auslegen und welche Orientierung sie damit geben.“29 Dieser Satz ist
geschichtsbewussten Katholiken sofort aufgefallen, denn das ist seit 500 Jahren der
katholische Standardvorwurf gegen die evangelische Berufung auf die Schrift. Er lautet: Die
Heilige Schrift ist gar nicht so eindeutig, wie ihr Evangelischen das immer sagt. Darum muss
die Kirche – das heißt das Lehramt – klären, wie die Schrift zu verstehen ist. Und nun sagt ein
EKD-Text explizit: Es sei entscheidend, wie die Kirche die Bibel auslegt. Das ist ein
buchenswerter Satz! Ein anderer Text der EKD, „Rechtfertigung und Freiheit“ setzt einen
anderen Akzent, wenn betont wird, dass „mit dem reformatorischen Schriftprinzip darauf
vertraut wird, dass Gott durch den Heiligen Geist die richtige Auslegung seines biblischen
Wortes der Kirche eingibt – mithin die Kirche zur harmonischen Einheit ihrer Stimmen leitet
und nicht in die disharmonische Vielstimmigkeit von Individuen“30. Angesichts der Vielfalt
der Stimmen, auf die viele Protestanten ja mächtig stolz sind, fällt dieses Vertrauen in den
Heiligen Geist nicht ganz leicht. Gibt der Heilige Geist die richtige Auslegung ein? Und wie
tut er das? Von Luther kann man lernen, dass der Heilige Geist nicht unmittelbar, sondern
durch menschliches Tun hindurch wirkt, und deshalb wird man fragen, welche Verfahren die
evangelischen Kirchen haben, Kontroversen im Verständnis der Schriftauslegung
auszutragen. Diese Verfahren sind leider wenig entwickelt; man hört eher höchst
unterschiedliche und oft sehr gegensätzliche Wortmeldungen an vielen verschiedenen Stellen,
aber es gibt wenig Orte der Begegnung und Institutionen, in denen die Vertreter
unterschiedlicher Positionen zusammenkommen und einen Konsens in ihrem Verständnis der
Heiligen Schrift suchen. Das wäre aber von größter Bedeutung, wenn man den Anspruch
erheben will, dass die Heilige Schrift von sich her auch heute etwas Bestimmtes zu sagen hat
und die lutherische Kirche das auch gemeinsam ausdrücken kann.
Wir hatten in den letzten Wochen Gelegenheit, die Bischofssynode in Rom zu Fragen der
Familie zu verfolgen. Auch das katholische Lehramt kommt um Kontroversen um das rechte
Verständnis der Bibel nicht herum und findet nicht einfach eine Lösung; auch da gibt es viel
Ratlosigkeit, und die Kontroversen ähneln in vielem den Kontroversen auf evangelischer
Seite. Es geht dabei nicht so sehr um die Auslegung der Heiligen Schrift, etwa des Wortes
Jesu zur Ehescheidung, sondern vielmehr um die Anwendung und das Weiterdenken dieses
Wortes zum Beispiel für die Frage des Umgangs mit wiederverheirateten Geschiedenen.
Sachlich geht es um die Spannung zwischen dem harten Wort Jesu zur Ehescheidung und der
Barmherzigkeit Gottes, von der Jesus so oft gesprochen und die er im Umgang mit den
29
Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine
Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2013, 58.
30
Rechtfertigung und Freiheit, a.a.O. (siehe Anm. 17), 38.
15
Menschen konsequent praktiziert hat. Die Synode in Rom hat noch keine überzeugende
Lösung für diese Spannung gefunden, aber ich finde es höchst beeindruckend, dass hier etwa
200 Mitglieder des Lehramts drei Wochen lang zusammen gekommen sind, um im direkten
Gespräch die Differenzen im Verständnis anzusprechen und miteinander nach Lösungen zu
suchen. Allein die Institution einer solchen Synode, auf der man frei sprechen konnte, ist ein
hilfreiches Instrument auf der Suche nach dem rechten Verständnis und der rechten
Anwendung der Heiligen Schrift. Von der Ernsthaftigkeit dieses Ringens könnten die
evangelischen Kirchen durchaus etwas lernen!
An Martin Luther und den anderen Reformatoren kann man sehen, welche lebensverändernde
Kraft der intensive Umgang mit der Heiligen Schrift hat, welche intellektuellen Energien er
freisetzt, welche institutionellen Änderungen in Schule, Universität und Kirche er zur Folge
hat, welche schöpferischen Kräfte er in Lieddichtung, Musik und sogar Malerei freigesetzt
hat. Wir, Evangelische und auch Katholiken, können dankbar für das sein, was wir in der
Reformation geschenkt bekommen haben. Aber mit dieser Dankbarkeit sollte sich auch die
selbstkritische Frage verbinden, wie wir mit dem großen Erbe der Reformation umgehen.
Unsere Situation ist heute in vielem eine andere als die der Reformatoren. Dennoch sollten
wir diesen Unterschied der Zeiten nicht zur Flucht vor der Herausforderung, vor die uns die
Reformation stellt, nutzen. Die erste der 95 Thesen Luthers zum Ablass lautet: „Wenn unser
Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße, dann will er, dass das ganze Leben der
Glaubenden Buße sei.“31 Darum kann man der Reformation ohne Bereitschaft zur Umkehr
nicht recht gedenken. Das heißt im Blick auf unser heutiges Thema: Richtiges Gedenken
braucht die Bereitschaft, sich von der unglaublichen Leidenschaft, in der Luther mit der Bibel
umgegangen ist, anstecken zu lassen. Evangelische können im Jahr 2017 nur dann stolz auf
die Reformation sein, wenn sie diese Herausforderung annehmen.
(www.strasbourginstitute.org)
31
WA 1; 233,10f.
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