Literatur LITERATUR Spezial auf der Buchmesse Leipzig: Halle 5, Stand K 300 Donnerstag, 17. März 2016, Nr. 65 n Seite 5: Wunschkind bleiben. Kirsten Achtelik begibt sich ins reproduktionspolitische Getümmel n Seite 8: Callcenter der Engel. Laurie Penny kann auch Kurzgeschichten n Seite 13: Die Gleichmacher. Ein Romanfragment von Gisela Elsner n Seite 15: Cybersozialismus: Sascha Rehs Roman über ein wenig bekanntes Projekt Salvador Allendes n Seite 17: Comic-Pionier: Der Verlag Reprodukt wird 25. Gespräch mit dem Gründer Dirk Rehm JESSICA RINALDI/REUTERS Alba Maya (l.) und Margarita Eiroa (r.) kämpfen seit mehr als dreißig Jahren Hand in Hand für ihre Rechte. Gay Pride Parade in New York am 26.6.2011 Toughe Cousinen Über die Wahlverwandtschaft von linker Leidenschaft und queerer Politik. Von Thomas Wagner »Wenn du eine Person liebst, küsse sie oder lass dir was anderes einfallen, wovon ihr beide was habt – aber was immer du tust, lass die Personen, die du liebst, nie mit der falschen Gesellschaft allein!« Barbara Kirchner W as ich nicht kenne, damit befasse ich mich nicht. So lässt sich die Haltung vieler Linker beschreiben, die sich, mit queerer Politik konfrontiert, eher reserviert zeigen. Das müsste nicht so sein, denn die Berührungspunkte sind leicht auszumachen. Fangen wir bei der Wortbedeutung an. Während »queer« im adjektivischen Gebrauch auf Personen oder Handlungen gemünzt ist, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen, bezeichnete »links« ursprünglich jene Delegierten der französischen Nationalversammlung, denen es verwehrt war, die als »ehrenvoll« eingestuften Plätze rechts vom Parlamentspräsidenten einzunehmen. Das betraf zunächst die Republikaner, später Sozialdemokraten und Kommunisten. Wer sich als »links« oder »queer« versteht, weicht also ab von der Norm und sollte für Verhältnisse kämpfen, die es jeder und jedem ermöglichen, zu lieben, wen immer er oder sie mag. Gerade in jüngerer Zeit gingen queerer Aktivismus und linkes Engagement auch in Sachen Theorie eine fruchtbare Verbindung ein. Ihr Nährboden war eine neue soziale Bewegung, die im September 2011 in New York City ihren Ausgang nahm. Damals trafen im New Yorker Zuccotti-Park jene Protagonistinnen aufeinander, die heute als wichtigste Autorinnen des jüngeren Feminismus gelten. Das Wohnzimmer der Künstlerin Molly Crabapple, deren bürgerlicher Name Jennifer Caban lautet, wurde zu einer Art informellem Zentrum für Journalistinnen und Aktivisten der Occupy-Bewegung. Hier traf die junge britische Journalistin Laurie Penny, die Crabapple bereits im Jahr zuvor in London kennengelernt hatte, auf die Feministin Melissa Grant, die 2014 das Buch »Hure spielen« veröffentlichen sollte. »Sie tranken meinen Kaffee, stöpselten ihre Laptops an meine Steckdosen, arbeiteten auf Deadlines zu«, schreibt Crabapple in ihrer demnächst in englischer Sprache erscheinenden Biographie »Drawing Blood«. Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten trafen auf Künstler; Sexarbeiterinnen, Intellektuelle und obdachlose Jugendliche protestierten gemeinsam gegen Polizeigewalt und Kapitalismus. »Viele von ihnen waren von zu Hause ausgerissen. Viele waren queer oder transsexuell: die neunzehn Jahre alte Rina, das Pärchen Envy und Franklin, das sich neun Monate zuvor im Camp in Washington kennengelernt hatte, Little Sean aus Philadelphia, der so tief in seinem dreckstarrenden Schlafsack steckte, dass nur die Rastalocken herausschauten; er hatte vor meinen Augen einen Dollar, den er wirklich gebraucht hätte, verbrannt, nur um mir zu beweisen, wie sehr er Geld hasste, und dann hatte er mir erzählt, dass seine Eltern ihn rausgeschmissen hatten. Auf der anderen Straßenseite hielten bewaffnete Polizisten im Schichtdienst Wache und sahen den Demonstranten beim Schlafen zu«, erinnert sich Laurie Penny in ihrem 2015 erschienenen Buch »Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution«. Penny gehört zur ersten Generation von Feministinnen, die mit dem Internet aufgewachsen ist. Leidenschaftlich polemisiert sie gegen jene Sorte Feminismus, die den Fortschritt der Emanzipation danach bemisst, wie viele Frauen es in die Vorstände großer Konzerne geschafft haben. Es gebe »schon viel zu viele Vorstandszimmer, und keins von ihnen brennt.« Die im Mainstreamfeminismus davon losgelöste Forderung nach gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt ist in Pennys Augen dazu geeignet, den Druck auf die Frauen Lesen, lesen, lesen Neue Bücher zu links und queer von Laurie Penny, Barbara Kirchner, Nina Power, Anne Bax, Ursula K. Le Guin, Erwin Riess, Kirsten Achtelik, Michael Hirsch, Frigga Haug und Ruth May, Jazra Khaleed, Gisela Elsner und vielen anderen sowie Neuigkeiten aus der Kunst und von Brecht n Fortsetzung auf Seite zwei 24 SEITEN EXTRA jW auf der Buchmesse Leipzig: Halle 5, Stand K 300 • jungewelt.de/leipzig GEGRÜNDET 1947 · DONNERSTAG, 17. MÄRZ 2016 · NR. 65 · 1,50 EURO · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT Mehr Opposition Mehr Handel Mehr Wandel Mehr Kontinent 2 3 7 12 Berlin: Linkspartei will vor allem wieder China: Lockruf der Wirtschaft – Gauck in den Senat. Ihr Jugendverband kommt demnächst zu Besuch. kritisiert das. Ein Interview Von Jörg Kronauer Kuba: US-Präsident Obama lockert kurz vor seinem Besuch auf der Insel einige Sanktionen Vorabdruck: Ein ethnisch verstandener Nationalismus ist Russland fremd. Von Hannes Hofbauer Schlag gegen Neonazis Internationale Kritik an Enteignungen Israels Bundesinnenminister verbietet »Weisse Wölfe Terrorcrew«. Linke-Abgeordnete kritisieren langes Wegschauen der Behörden. Von Markus Bernhardt B New York. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon (Foto) hat Israel aufgefordert, die jüngsten Enteignungen von Grund und Boden im Westjordanland rückgängig zu machen. Derartige Aktionen behinderten eine »Zwei-Staaten-Lösung«, erklärte Bans Sprecher Stephane Dujarric am Dienstag in New York. Er erinnerte daran, dass die israelischen Siedlungsaktivitäten im Westjordanland gegen internationales Recht verstießen. Auch die Bundesregierung kritisierte, die Entscheidung sende »ein falsches Signal zur falschen Zeit«. Eine Sprecherin von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte am Mittwoch in Berlin, es sei zu befürchten, dass Israel mit dem Schritt »die Voraussetzung für die Ausweitung von Siedlungen« schaffen wolle. Tel Aviv hatte am Dienstag bestätigt, dass südlich von Jericho 234 Hektar Land zu Staatseigentum erklärt wurden. (AFP/dpa/jW) CHRISTIAN-DITSCH.DE undesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat am Mittwoch den neofaschistischen Zusammenschluss »Weisse Wölfe Terrorcrew« (WWT) auf Grundlage des Vereinsgesetzes verboten. Zugleich veranlasste er in den Morgenstunden in zehn Bundesländern Razzien bei Mitgliedern der Organisation. Polizeiliche Maßnahmen gab es in 15 Objekten gegen 16 Personen. Offiziell hatte sich die WWT im Jahr 2008 als Fangruppe der Band »Weisse Wölfe« gegründet. Einige Vereinsanhänger traten in der Vergangenheit – vor allem in Hamburg – im Zuge schwerer Straftaten in Erscheinung. Der militante Zusammenschluss, dessen harter Kern offenbar aus rund 25 Personen besteht, soll über Mitglieder in Brandenburg, SchleswigHolstein, Niedersachsen, NordrheinWestfalen und Berlin verfügt haben. »Die ›Weisse Wölfe Terrorcrew‹ ist eine Vereinigung von Neonazis, die unsere bestehende demokratische und gesellschaftliche Ordnung ablehnt und an ihrer Stelle eine ›Volksgemeinschaft‹ und eine Diktatur nach dem Vorbild des Nationalsozialismus errichten will«, begründete Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière am Mittwoch das Verbot. Die in zehn Bundesländern vertretene Gruppierung habe sich »durch ein erhebliches Maß an Gewaltbereitschaft und Aggressivität« ausgezeichnet. Warum der Bundesinnenminister und die zuständigen Behörden erst jetzt ein Verbot erließen, nachdem WWT sich über Jahre hinweg zu einem bundesweiten Zusammenschluss mit lokalen »Sektionen« entwickeln konnte, ist unklar. Gründe für ein Vereinsverbot hatten bereits seit Jahren existiert. So fanden schon 2009 in Hamburg und anderen Bundesländern Razzien statt. Ihr Ziel war »Volksgemeinschaft« und Diktatur: WWT-Anhänger während eines Aufmarschs in Wittstock 2012 Ende 2012 hatte auch die Generalbundesanwaltschaft ein Verfahren wegen der möglichen »Bildung einer terroristischen Vereinigung« eingeleitet. So sollten die Beschuldigten ein »WerwolfKommando« gegründet und das Ziel verfolgt haben, das politische System der Bundesrepublik zu stürzen. Das Verfahren war jedoch im Oktober 2014 eingestellt worden. In einer Informationsbroschüre, welche Hamburger Antifaschisten jedoch schon vor geraumer Zeit zum Wirken und den Mitgliedern des Vereins veröffentlicht hatten, wurde mehrfach gewarnt, dass das »Aktionsspektrum der WWT« keineswegs nur die Verbreitung neonazistischer Propaganda in Form von Texten und Videos beinhalte. Es reiche bis zu gezielten Angriffen auf Menschen, die nicht der Neonazi-Ideologie entsprechen. Unterdessen kündigten verschiedene Linke-Landtagsabgeordnete, darunter Kerstin Köditz aus Sachsen, an, die Umtriebe von WWT in ihren Bundesländern genauer beleuchten zu wollen. Der sächsische NSU-Untersuchungsausschuss habe bereits am Montag »einen dahingehenden Beweisantrag beschlossen«, berichtete Köditz. »Solange die Strafverfolgungsbehörden nicht effektiver gegen die zunehmende Bewaffnung von Neonazis und militanten rassistischen Netzwerken und Gruppen vorgehen und die Auf- klärungsquote bei den Brandanschlägen und schweren Sachbeschädigungen gegen Flüchtlingsunterkünfte so niedrig ist, führen Verbote nicht zu einer Schwächung oder Einschüchterung der militanten Neonazibewegung«, warnte Martina Renner, Sprecherin für antifaschistische Politik der Linksfraktion im Bundestag. Ähnlich äußerte sich die Hamburger Innenpolitikerin Christiane Schneider (Die Linke). »Konsequenz aus dem staatlichen Totalversagen bei der Aufklärung des NSU-Terrors muss die konsequente Aufdeckung und Bekämpfung militanter Neonazistrukturen sein.« Das aktuelle Verbot könne »nur ein Schritt sein«. http://kurzlink.de/Inforeader_WWT Antifaschisten abgeschoben VVN-Aktivisten zurück in Berlin. Hunderte Teilnehmer bei Waffen-SS-Marsch in Riga M ehrere hundert Menschen marschierten gestern durch die lettische Hauptstadt Riga, um das Andenken an die lettischen Divisionen der Waffen-SS hochzuhalten. Neben einigen Veteranen der SS-Einheiten und Nachkommen waren auch Abgeordnete der nationalistischen »Lettischen Nationalen Allianz« dabei, die als kleinerer Koalitionspartner an der Regierung beteiligt ist. Ein Journalist des russischen Senders RT, der die SS-Fans befragte, warum sie Nazis verehren, wurde von Ordnungskräften aus dem Marsch gedrängt und von der Polizei festgenommen. An Protesten von Angehörigen der jüdischen Gemeinde und der Organisation »Lettland ohne Nazismus« beteiligten sich rund 50 Personen, unter starker Polizeibegleitung, aber in Sichtweite des SSAufmarsches. Darunter waren auch 20 Demonstranten aus der Bundesrepublik, die einem Aufruf der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) gefolgt waren, nach Riga zu reisen. Die VVN-BdA berichtete gestern, dass die Immigrationspolizei im Hotel der Delegation nach weiteren Deutschen gesucht habe, die auf einer Liste »unerwünschter Ausländer« stehen. Die fünf aus Berlin stammenden Antifaschisten, die am Dienstag am Flughafen Riga festgenommen worden waren (jW berichtete), sind mittlerweile wieder in Berlin. Die lettischen Behörden hatten ihnen unter Hinweis auf die Liste des Innenministeriums als »Persona non grata« die Einreise verweigert und gedroht, sie in ein Internierungslager an der weißrussischen Grenze zu sperren, wenn sie nicht sofort zurückflögen. Am Dienstag abend war die Gruppe von der Polizei schließlich an die lettisch-litauische Grenze gebracht worden, wo sie in einen Fernbus nach Berlin steigen mussten. Die rasche Abschiebung war den lettischen Behörden so wichtig, dass sie die Fahrkarten selbst bezahlten. Der Leiter des Jerusalemer Simon-WiesenthalZentrums, Efraim Zuroff, nannte die Aktion der lettischen Polizei im Internet »empörend«. Frank Brendle Deutsche Bahn AG meldet Milliardenverlust Berlin. Die bundeseigene Deutsche Bahn AG hat im vergangenen Jahr trotz eines Rekordumsatzes einen hohen Verlust verzeichnet. Unterm Strich stand ein Minus von 1,3 Milliarden Euro, wie das Unternehmen am Mittwoch in Berlin mitteilte. Im Jahr 2014 hatte die Bahn noch einen Gewinn von 988 Millionen Euro verbucht. Als Gründe für den Verlust wurden zum Beispiel Sonderabschreibungen und Sonderbelastungen durch den Konzernumbau genannt. Die Leistung der Güterbahn DB Cargo ging 2015 um 4,3 Prozent zurück. Im Personenverkehr sank die Zahl der Reisenden der Regionalverkehrstochter DB Regio um rund 30 Millionen oder 1,2 Prozent auf 2,5 Milliarden. Dagegen fuhren mehr Menschen mit Fernzügen. Dies sei erfreulich, sagte BahnChef Rüdiger Grube in Berlin. Insgesamt aber sei festzustellen: »Wir haben nicht das erreicht, was wir uns vorgenommen haben.« (dpa/jW) wird herausgegeben von 1.817 Genossinnen und Genossen (Stand 11.3.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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