Der totale, globale, digitale Umbruch

TRENDS 2016
Digitalisierung
Der totale, globale,
digitale Umbruch
Die technologische Revolution durch Digitalisierung
stellt mit Big Data, künstlicher Intelligenz, Cloud
­Computing, Robotics und Industrie 4.0 unser Leben
und die Arbeitswelt auf den Kopf.
Von Michael Schmid
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hysiotherapeut müsste man sein.
Zumindest dann, wenn man nicht
riskieren möchte, in seinem Job
bald von einem Computer oder Roboter
ersetzt zu werden. Das ist nur ein Ergebnis einer viel beachteten Studie, in
der die Wissenschaftler Carl Frey und
Michael Osborne von der Uni Oxford
rund 700 Berufsbilder dahingehend
­bewertet haben, ob sie durch den Fortschritt in den Bereichen Machine
­Learning, künstliche Intelligenz und
Robotics ersetzbar werden. Und am
­unwahrscheinlichsten ist das eben bei
Therapeuten der Fall. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen: 47 Prozent der
aktuellen Jobs in unserer Gesellschaft
könnten zumindest potenziell den intelligenten Maschinen zum Opfer fallen.
Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) sieht sogar
knapp 60 Prozent der deutschen Arbeitsplätze mittelfristig dadurch bedroht. In anderen Bereichen werden
­dafür natürlich neue Jobs entstehen,
aber die Zahlen zeigen doch die Größenordnung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, die das
Fortschreiten des Megatrends Digitalisierung mit sich bringt. Dabei sind die
Umbrüche, die neue Technologien in
Wirtschafts- und Arbeitswelt ausgelöst
haben, bereits heute nicht mehr zu
übersehen. Und das Veränderungstempo steigt weiter. „Der Digitalisierungsdruck kommt auch von den Kunden.
Sie erleben, was Apps, Wearables oder
Near­ables beim Sport, bei der Sicherheit und Energieeffizienz ihrer Häuser
oder für ihre Mobilität bringen, und verlangen nach einer derart smarten Art
der Interaktion zum Beispiel auch im
Umgang mit ihrer Bank“, konstatiert
Klaus Malle, Österreich-Chef des Beratungsunternehmens Accenture.
WENDEZEIT
Point of no Return
FOTO: GETTY
Die von der Digitalisierung ausge­
gangene technologische Revolu­
tion hat mit einer ganzen Reihe
von konkreten Anwendungen und
Businessmodellen mittlerweile ih­
ren Point of no Return schon deut­
lich überschritten und wird 2016
sowie in den folgenden Jahren zu
tief greifenden und weitgehenden
Veränderungen in allen Bereichen
des Lebens, der Arbeitswelt und
der Gesellschaft führen.
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Mitten in der digitalen Revolution. „Was
immer man digitalisieren kann, wird
man auch digitalisieren“, prognostiziert
der Managementexperte, Berater und
Bestsellerautor Fredmund Malik und
sieht in der Digitalisierung einen Umbruch von historischer Dimension. Träger und Infrastruktur der Digitalisierung ist, no na, das Internet. Es produziert unablässig Daten, egal ob von
Usern oder aus dem „Internet der Dinge“, in dem jedes beliebige Objekt permanent online sein kann. „Big Data“ >
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Digitalisierung
> analysiert und kombiniert diesen Da­
tenschatz und liefert so Prognosen und
Entscheidungshilfen. Verbindet man
dies wiederum mit lernfähiger Software,
lassen sich über Algorithmen ganz und
gar automatisiert höchst komplexe Zu­
sammenhänge erfassen und neue Inhal­
te schaffen, was bisher qualifizierten
Wissensarbeitern vorbehalten war.
Im Finanzbereich etwa sind es längst
nicht mehr nur die Angestellten an den
Schaltern, deren Tätigkeit von Auto­
maten übernommen wird. Selbst hoch
spezialisierte und hoch bezahlte Asset
Manager sehen sich neuerdings der Kon­
kurrenz sogenannter „Robo-Advisors“
gegenüber, einer Software, die eine maß­
geschneiderte Anlagestrategie für jeden
einzelnen Kunden und dessen indivi­
duelle Situation – von Familienstand
über Risikoneigung bis zu steuerlichen
Belangen – erstellen kann.
Geschäftsmodell gesucht. Letztgenann­
tes Beispiel zeigt: Technologie ist kaum
mehr der Engpass. Vielmehr geht es bei
der Digitalisierung aus der Sicht der
Unternehmen jetzt um die besten Ideen,
die vorhandenen technologischen Mög­
lichkeiten in tragfähige und vor allem
ertragsfähige Geschäftsmodelle umzu­
münzen. Aus der Sicht von Klaus Malle
sind dabei im Management neue Quali­
täten gefragt: „Bisher ging es darum,
Prozesse zu optimieren und Produkte
schneller auf den Markt zu bringen.
Jetzt geht es um die Neudefinition von
Geschäftsmodellen.“ Ob es dabei gelingt,
mit dem rasanten Veränderungstempo
Schritt zu halten, ist für den Berater er­
folgskritisch: „Gewinner und Verlierer
gab es mit jeder Veränderung, diese ist
massiv und tief, deshalb sind auch die
Chancen und Risiken so groß.“
Die erwähnten Entwicklungen bei
den Arbeitsplätzen sind also nur das
Spiegelbild jener Situation, mit der die
Manager in den Chefetagen bei der Neu­
erfindung von Geschäftsmodellen nun
konfrontiert sind: Die Digitalisierung
verteilt nicht nur die Marktanteile neu,
sie stellt die Verhältnisse in vielen
Branchen völlig auf den Kopf. Während
laut einer Analyse des internationalen
Consulters Bain lediglich die Branchen
Medien, IT und Telekommunikation
schon einen größeren Teil des Weges zu
den bis 2020 erwarteten Veränderun­
gen durch die digitale Disruption hinter
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ARBEITSWELT. Industrie 4.0 bedroht Arbeitsplätze und schafft zugleich neue. Die Umschichtung
geht zulasten von Jobs mit geringem bis mittlerem Qualifikationsniveau.
„Wir vertrauen
Internetplattformen mehr
als den alten
Institutionen.“
Rachel Botsman Oxford University
„Stationärer
Handel muss
Erlebnis anbieten, sonst
verliert er
gegen Online.“
Martin Unger Contrast
sich gebracht haben, steht das anderen
relevanten Industrien erst bevor. Laut
Martin Unger, Geschäftsführer des hei­
mischen Beraters Contrast Manage­
ment-Consulting, besteht etwa im Han­
del die hohe Kunst darin, Geschäftsmo­
delle zu gestalten, bei denen einander
Stores und Online-Business ergänzen,
nicht kannibalisieren. „Der stationäre
Handel muss Erlebnis, Inszenierung,
Inspiration bieten und darf den Point
of Sale nicht vernachlässigen, auch
wenn der Anteil des Onlinegeschäfts
zunimmt“, mahnt der Experte. Er sieht
neue Kooperationen und Allianzen in
diesem Bereich im Vormarsch und
nennt etwa das Angebot von Finanz­
dienstleistungen im Supermarkt. .
Den digitalen Wandel in der heimi­
schen Industrie hat eine Studie von
PwC und Strategy& unter die Lupe ge­
nommen. Sie konstatiert, dass dort die
Digitalisierung von Produkten, Wert­
schöpfungsketten und Geschäftsmodel­
len angekommen ist und Industrie 4.0
gesamte Unternehmen transformieren
wird. Davon erwarten die sich Produk­
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Coaching-Markt
Viele skurrile Angebote
„Master- und Zertifikatslehrgänge täuschen Qualität vor
und verwirren Interessenten.“
Michael Tomaschek Austrian Coaching Council
„Business“ und „Life“ beschreiben die
zwei großen Coaching-Richtungen.
Dazu gibt es Setting- und Methodenbezeichnungen, etwa „Outdoor“- oder
„Wingwave“-Coaching, das mit dem
REM-Phasen-Effekt arbeitet. Im Trend
sind Coachings mit Spezialisierung auf
Hochsensible und Introvertierte. Dazu
kommen außergewöhnliche Angebote
und Neuschöpfungen, die kritisch zu
betrachten sind:
„Unter Führungskräften ist
der eigene Coach fast schon
ein Statussymbol.“
Isabella Weindl Unternehmensberaterin
Selbstständiger vom Coaching leben,
braucht es bei einem Zehnstundenschnitt
rund 250 Kunden pro Jahr“, kalkuliert Tomaschek, der neben dem Coaching-Dachverband auch eine Coaching Business
Academy gegründet hat. Keine Illusionen
machen sollten sich jene, denen Führungskräfte-Coaching für große Konzerne vorschwebt: Der Coaching-Pool von
Daimler in Sindelfingen etwa besteht aus
rund zwölf Coaches. Der Executive-Bereich, wo Tagsätze von angeblich bis zu
10.000 Euro im Spiel sind, ist dünn gesät.
Die Angaben, mit denen Executive Coaches für sich werben, sind aufgrund ihrer
Anonymitätspflicht auch nicht nachprüfbar. In der Realität verdienen Coaches ihr
Geld am ehesten mit Trainings, Seminaren und Bücherverkäufen.
Als Einzelgänger ist Coaching ein hartes Biz. Kein Wunder, dass die großen
Consulting-Firmen schon auf die Idee
gekommen sind, Coaching als eigene
Schiene anzubieten. Im Internet bilden
sich bereits Coaching-Cluster: Unter
yourcoach247.com sind rund um die Uhr
Master-, Senior- oder Premiumcoaches
zum Minutentarif buchbar. „Meine größte Angst ist, dass diese stark beziehungsorientierte Beratungsform zukünftig von
standardisierten Evaluierungsprogrammen gesteuert wird,“ sagt Isabella
Weindl. Schon jetzt werden im Internet
„Package“-Ausbildungen mit Webinaren,
E-Learning und Skype-Meetings angeboten – von 20 Teilnehmern je 2.000
Euro Gebühren einzustreifen, scheint
wesentlich lukrativer, als selbst Klientel
zu akquirieren. Die Entwicklung kommt
einem „Kettenbriefsystem“ gleich – und
bringt so manche Coaching-Skurrilität
mit sich (siehe Kasten rechts).
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Fernlehrgangs zum „Coach für Zukunftskompetenzen“. Kursbeschreibung im Web: „Sie arbeiten die Unterlagen durch und reflektieren sie mit
der Lehrgangsleiterin Cornelia S. via
Mail oder Skype (auch direkt auf ihrer
Weltreise ab 08/2015).“
● Auch im Web: „Coach mit Arschtrittgarantie“. Bettina K. coacht zur
Selbstverwirklichung genauso wie zum
eigenen Online-Business.
● In Wien-Ottakring haben fünf
Damen in einem Gassenlokal einen
„Coaching-Salon“ eröffnet. Hier gibt
es quasi „Coaching to go“. Die Pakete
haben effektvolle Namen wie „Für
mich soll’s rote Rosen regnen“. Dieses
etwa richtet sich an jene, die gerade
zu kurz kommen, und kostet 190 Euro.
● Das Wifi bietet Lehrgänge mit klingenden Namen wie „Diplomlehrgang
Integrationscoach mit interkultureller
Kompetenz“ oder „Personal-Coach im
tiergestützten Setting“.
● Das Modewort Coaching ist vor
nichts mehr sicher: „die umweltberatung“ bietet einen Kurzlehrgang zum
„Energie-Coach“ an. Dieses Angebot
richtet sich an Menschen, die Jugendliche auf den Energie-Führerschein
vorbereiten möchten. HaushaltsCoach Bärbel Huber unterstützt bei
der Organisation der Hausarbeit.
● Aus Marketinggründen werden
auch verstärkt Wortneuschöpfungen
geboren und geschützt: Job-Coaching
heißt dann „Berufungscoaching
WAVE“, Life-Coaching wird zum
„­RealityCoaching“ und das Fachgespräch zum „SRCC: Supervised Real
Client Coaching“.
Problem Qualitätssicherung. Überlegungen zur Standardisierung der Ausbildung stehen zwar im Raum, die Frage
„Qualitätssicherung oder Business?“ dabei vermutlich aber im Wege. In Deutschland konnten sich die mittlerweile
30 verschiedenen Coaching-Verbände
bislang nicht auf eine Mindestdauer von
150 Stunden einigen. Im Frühjahr kam
man wenigstens zu einem gemeinsamen
„Professions-Commitment“. Im Dschungel der Zeugnisse und Zertifikate verlieren selbst Profis den Überblick.
Um die Qualität der Szene zu verbessern, wurde der österreichische Coaching-Dachverband aus einer Initiative
von Ausbildungseinrichtungen gegründet. Aber auch Verbände und Kammerorganisationen kämpfen um Qualifika­
tionshoheit und Marktanteile. So wird
innerhalb der Branche diskutiert, ob es
notwendig sei, dass das Wifi als Organisation der WKO selbst Ausbildungen
­anbietet. Und zum Rollenkonflikt eines
Dachverbands, der selbst am Ausbildungsmarkt mitspielt, meint Obmann
Tomaschek: „Funktionsträger sind bei
­allem Eigeninteresse dem Wohle und der
Weiterentwicklung des großen Ganzen
verpflichtet.“
Einig ist man sich, dass professionelles Coaching einer seriösen Ausbildung
bedarf. Solange es diesbezüglich keine
einheitliche Lösung gebe, sei jeder für
sich selbst verantwortlich. Coaches genauso wie Coachees – denn niemand
muss sich von einem 0815-Coach unterstützen lassen. „Letztlich zählen Erfahrung und die Chemie in der Beziehung“,
sagt Psychologin Schallert: „Es setzen
sich ohnehin nur die wirklich guten
­Coaches langfristig durch.“
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fotos: Georg Lembergh, Foto Weinwurm, beigestellt
● Spannend klingt das Angebot des
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