Das totale Archiv

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Andreas Bernard
Das totale Archiv
Zur Funktion des Nicht-Wissens in der digitalen Kultur
Der Film ist erst knapp fünfzehn Jahre alt, aber die Geschichte, die er erzählt, wirkt wie aus längst vergangenen Zeiten. In Serendipity mit John
Cusack und Kate Beckinsale, einem der größten Kinoerfolge des Jahres
2001, lernen sich ein Mann und eine Frau zufällig beim Weihnachtseinkauf
kennen. Nach ein paar innig verbrachten Stunden in Manhattan trennen
sich die beiden, die längst an andere vergeben sind, ohne mehr als den Vornamen voneinander zu wissen. »Denkst du, das gute alte Schicksal wird mir
eine Nachricht von dir überbringen?«, fragt der Mann zum Abschied. Die
Frau überredet ihn daraufhin, seinen vollen Namen und seine Telefonnummer auf eine Fünf-Dollar-Note zu schreiben, und löst den Schein sofort
bei einem Straßenhändler ein. Wenn sie füreinander bestimmt seien, sagt
sie, würde ihr der beschriftete Geldschein irgendwann wieder begegnen. Sie
selbst speist ihre persönlichen Daten in einen ebenso anonymen und unberechenbaren Kreislauf ein, indem sie Namen und Telefonnummer in einem
Buch hinterlässt, das sie am nächsten Tag an ein Antiquariat verkauft. Die
Handlung des Films besteht schließlich darin, die beiden Schicksalsgefährten Jahre später, kurz vor der geplanten Hochzeit des Mannes, durch die
zirkulierenden Liebeszeichen von damals doch noch zu vereinen.
Heute käme ein Drehbuch zu einem Film wie Serendipity schon nach
den ersten Szenen auf unüberwindbare Weise ins Stocken. Die Vorstellung,
dass sich zwei jüngere Menschen nahekommen, ohne sich beim Abschied
zumindest »Meld’ dich auf Facebook« zuzurufen oder genügend Hinweise
gesammelt zu haben, um einander googeln zu können, ist nicht mehr glaubhaft. Der Schauspieler Tom Hanks hat vor einiger Zeit in einem Interview
gesagt, dass »das Handy ganz viel in der Tradition der romantischen Komödie vernichtet hat, weil jeder jeden immer anrufen kann, oder man macht
ein Foto von etwas, und die Wahrheit kommt heraus«. In dem Genre, das er
in den neunziger Jahren selbst mit erfolgreichen Filmen bedient hat (Sleepless in Seattle oder You’ve Got Mail), sind Wissenslücken der entscheidende
Impuls, um die typischen Geschichten erzählen zu können: Ein Mann und
eine Frau verlieben sich ineinander, aber sie tun das entweder in Unkenntnis
der realen Person, oder sie werden nach einer kurzen Begegnung voneinander getrennt. Nach einer Reihe von Verwicklungen und Missverständnissen
finden sie im Happy End zusammen.
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Die aktuelle Medienrealität hat dieses dramaturgische Prinzip weitgehend eliminiert. Mit dem Smartphone sind die meisten der erzählten Geschichten nicht mehr denkbar. 1999 war es etwa noch möglich, den ErnstLubitsch-Klassiker The Shop Around the Corner von 1940, in dem zwei
verfeindete Angestellte, ohne es zu ahnen, einen romantischen Briefwechsel
beginnen, problemlos ins Zeitalter der E-Mail-Korrespondenz zu überführen. Tom Hanks und Meg Ryan können sich in You’ve Got Mail gleichzeitig
als Geschäftskonkurrenten persönlich bekriegen und eine Liebesaffäre im
Netz beginnen, weil anonyme Chatrooms, fiktive Mailadressen und die Abwesenheit von Suchmaschinen noch keinerlei Beglaubigungsdruck der Identitäten herstellten. In den letzten fünfzehn Jahren, die für die Verfügbarkeit
und Zuordnung von Daten vermutlich größere Veränderungen erbracht haben als das halbe Jahrtausend zwischen Gutenberg und Google, wäre dieser
Stoff kaum noch Remake-fähig: Die sozialen Netzwerke und Dating-Apps
nötigen ihre Nutzer inzwischen zur Echtheit und Einheitlichkeit der Profile.
Die bewährte Triebfeder der Filmhandlung ist also blockiert – und es ist
vor diesem Hintergrund konsequent, dass der größte Komödienerfolg der
letzten Jahre, die Hangover-Trilogie, mit einem Total-Blackout der Helden
nach durchzechter Nacht beginnen muss. Wenn das Web 2.0 die Wissenslücken im alltäglichen Handeln der Figuren stopft, bleiben nur noch Alkohol
und Drogen, um die unerlässlichen Amnesien herbeizuführen, die Verwicklungskomödien am Laufen halten.
Der Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis
Wie uns Politiker und Ökonomen regelmäßig sagen, leben wir in einer Wissensgesellschaft; Nicht-Wissen wird mehr denn je als zwangsläufiges Defizit
aufgefasst, als ein unter allen Umständen zu behebender Mangel. Die Krise der romantischen Komödie ist ein anschaulicher erster Hinweis darauf,
dass es womöglich auch eine gegenläufige Strömung der Geschichte gibt:
den in den Kultur- und Sozialwissenschaften der letzten Jahre zunehmend
geäußerten Verdacht, dass ein bestimmtes Maß an Nicht-Wissen notwendig ist, um Ereignisse und Prozesse zu organisieren oder in Gang zu setzen.
Im Hinblick auf die digital organisierte Kultur könnte man fragen: Welche
Funktion hat das Nicht-Wissen auf dem Weg zum totalen Archiv der Gegenwart?
Seit Anfang dieses Jahrhunderts hat sich das Versprechen der Vernetzung,
wie es die digitalen Technologien von jeher formulieren, mit beachtlicher Intensität eingelöst: zunächst durch die Etablierung der Suchmaschinen, seit
etwa 2005 in Gestalt der sozialen Medien, in jüngster Zeit schließlich durch
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das sogenannte Internet der Dinge. Daten, Personen, Dienste, Gegenstände
stehen in ständiger Verbindung zueinander, sollen »kommunizieren«, ihren
Standort offenbaren, »teilen« und »geteilt werden«. Aufschlussreich ist aber
das Verhältnis dieser ubiquitären Vernetzung, die ja auch eine ubiquitäre
Identifikation ist, zur Geschichte der menschlichen Einbildungskraft, zum
Status der Imagination – und zwar einerseits in kulturellen Erzeugnissen
wie der Literatur oder dem Kino, andererseits aber auch in der Gestalt von
Fantasien, Wünschen und Erinnerungen, die ja nicht einfach willkürliche
und zeitlose Regungen sind, sondern eine alle betreffende Geschichte haben; sie reagieren zum Beispiel auf die Weisen, wie technische Medien Vorstellungen in Realitäten verwandeln.
Sucht man etwa im Kanon der Tragödien und Komödien nach den einschlägigsten, wirkungsmächtigsten Heldenfiguren und Handlungskonstellationen, wird man sofort erkennen, dass dem Nicht-Wissen zwischen den
Akteuren elementare Bedeutung zukommt. Es sind Kommunikationslücken,
schicksalhafte oder durch Intrigen herbeigeführte Unterbrechungen der
Verbindung, die das Drama einer nicht wiedergutzumachenden Schuld oder
das Vergnügen spielerisch aufgelöster Missverständnisse ins Werk setzen.
Von Sophokles’ König Ödipus über Shakespeares tragische und komische
Helden (der Doppelselbstmord Romeos und Julias aus der Fehldeutung
eines Scheintods genauso wie die Verkennungsspiele im Sommernachtstraum) bis zum Personal des klassischen und spätbürgerlichen Dramas ist
das Nicht-Wissen der Figuren konstitutiv für das, was in den Stücken geschieht. Paul Valérys Satz »Der Mensch kann nur handeln, weil er imstande
ist, nicht zu wissen« formuliert vor allem auch eine poetologische Wahrheit,
und es ist aufschlussreich, dass die wichtigsten theoretischen Abhandlungen über die Gesetze der Dichtkunst diese Dynamik ins Zentrum ihrer Ausführungen stellen. »Die Dinge, mit denen die Tragödie die Zuschauer am
meisten ergreift«, sagt Aristoteles in seiner Poetik, sind »die Peripetien und
die Wiedererkennungen.« Das »Umschlagen von Unkenntnis in Kenntnis«
macht laut Aristoteles »Fundament« und »Seele« des Dargestellten aus.
Wenn es stimmt, dass die romantische Komödie am Vernetzungssog digitaler Medien zugrunde zu gehen droht, dann hat diese Entwicklung mit
der narrativen Statik restlos erfasster Identitäten und Beziehungen zu tun.
Einerseits scheint es, als würden die populärsten zeitgenössischen Liebesromane, die in der Gegenwart spielen, wie etwa Pascal Merciers Nachtzug
nach Lissabon, ihren vorgeblichen Realismus nur noch um den Preis des Verdrängens technologischer Entwicklung entfalten können (die titelgebende
Reise der Hauptfigur wäre durch eine bloße Internetrecherche zu ersetzen).
Andererseits sorgt diese Stagnation dafür, dass in jüngster Zeit gerade rück-
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wärtsgewandte Erzählwelten reüssieren, in denen die aktuellen Konstellationen des Wissens noch nicht galten. Die Konjunktur des Fantasy-Genres
in Literatur, Kino und Fernsehen hält seit einigen Jahren an, die TolkienRenaissance, der spektakuläre Erfolg der Harry-Potter-Geschichten, eine
weltweit umjubelte Fernsehserie wie Game of Thrones. Man kann diese
Konjunktur zweifellos mit der Medienrealität unserer Gegenwart und ihren
narrativen und imaginativen Konsequenzen in Verbindung bringen.
Quell der literarischen Erfindung
Was die Kategorie des Nicht-Wissens in umfassenderem Sinne schärft,
ist eine epistemologische Perspektive, die man vielleicht eine Technologiegeschichte der Imagination nennen könnte, die Auseinandersetzung mit
den architektonischen, infrastrukturellen, nachrichten- und verkehrstechnischen Bedingungen der Einbildungskraft zu einer bestimmten Zeit. Dieses
Verhältnis spielt nicht nur in unserer Gegenwart eine große Rolle, sondern
hat zum Beispiel auch die Autoren in den Jahrzehnten um die Wende zum
19. Jahrhundert beschäftigt – in einer Epoche, in der ohnehin schon viele
Grundfragen der digitalen Kultur auftauchen: der Enthusiasmus oder die
Skepsis gegenüber enzyklopädischen Projekten, das Verhältnis von souveränem Subjekt und übermächtigen Datenmassen, das Problem der Repräsentationsweisen von Wissen über den Menschen.
Von Georg Christoph Lichtenberg gibt es einen bemerkenswerten Eintrag
in den Sudelbüchern aus den 1770er Jahren, schlicht »Romane« überschrieben, in dem genau dieses Verhältnis von Wissen, Nicht-Wissen und literarisch gestalteter Einbildungskraft zur Debatte steht. Lichtenberg schreibt:
»Unsere Lebens-Art ist nun so simpel geworden, und alle unsere Gebräuche
so wenig mystisch …, daß ein Mann der einen deutschen Roman schreiben
will fast nicht weiß wie er Leute zusammenbringen oder Knoten knüpfen
soll. Denn da die Eltern jetzt in Deutschland durchaus ihre Kinder selbst säugen, so fallen die Kindervertauschungen weg, und ein Quell von Erfindung
ist verstopft, der nicht mit Geld zu bezahlen war … Ferner da in England
die Schornsteine nicht bloß Rauch-Kanäle, sondern hauptsächlich die Luftröhren der Schlafkammern sind, so geben sie zugleich einen vortrefflichen
Weg ab unmittelbar und ganz ungehört in jede beliebige Stube des Hauses
zu kommen … In Deutschland käme ein Liebhaber schön an, wenn er einen Schornstein hinab klettern wollte … Endlich eine rechte Hindernis von
Intriguen ist der sonst feine und lobenswürdige Einfall der Postdirektoren
in Deutschland …, daß sie statt den englischen Postkutschen und Maschinen, in denen sich eine schwangere Prinzessin weder schämen noch fürchten
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dürfte zu reisen, die so beliebten offnen Mistwagen eingeführt haben. Denn
was die kommoden Kutschen in England und ihre vortrefflichen Wege für
Schaden tun ist mit Worten nicht auszudrücken. Für das erste, wenn ein
Mädchen mit ihrem Liebhaber aus London des Abends durchgeht, so kann
sie in Frankreich sein ehe der Vater aufwacht … Hingegen in Deutschland
wenn auch der Vater den Verlust seiner Tochter erst am dritten Tage gewahr
würde, wenn er nur weiß daß sie mit der Post gegangen ist, so kann er sie zu
Pferde immer auf [der] dritten Station wieder kriegen.«
Lichtenberg beschäftigt sich hier, wie er schreibt, mit dem »Quell der literarischen Erfindung«, der durch infrastrukturelle Realitäten verstopft oder
beschleunigt werden kann. Das Gebot des Selbststillens, wie es sich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in Deutschland und Frankreich durchsetzte, der von Land zu Land unterschiedliche Durchmesser der Kamine oder
die Geschwindigkeit von Postkutschen haben Einfluss auf die Plausibilität
von Erzählungen in verschiedenen Nationalliteraturen, und immer ist es
das Nicht-Wissen – die eigene genealogische Herkunft oder die Fluchtroute
eines Liebespaars betreffend –, das die Dynamik der Handlung ausmacht.
Lichtenbergs Prognose bewahrheitet sich vor allem im Zusammenhang
mit den »Kindsvertauschungen«: Bis zur Wende zum 19. Jahrhundert ist
die europäische Literatur noch von unfreiwilligen Geschwisterlieben bevölkert, die prominentesten vielleicht die Eltern Mignons in Wilhelm Meisters
Lehrjahre und Paul und Virginie von Bernardin de Saint-Pierre. Die sozialhistorische Referenz dieses narrativen Impulses ist das Ammenwesen. Es
führt dazu, dass es auf dem Transport der kaum identifizierbar gemachten
Säuglinge aufs Land, oft in großer Zahl auf dem gleichen Wagen, immer
wieder zu Verwechslungen kam; Geschwisterkinder verloren sich auf diese
Weise aus den Augen und kamen – zumindest in der literarischen Fantasie –
als ahnungslose jugendliche Liebespaare wieder zusammen. Mit dem Ende
des Ammenwesens und der ständigen Anwesenheit und Identifikation aller
Kinder innerhalb der Kleinfamilie büßt das Inzestmotiv in der Literatur seine Legitimation ein.
Friedrich Schlegel stellt in seiner Vorlesung über Geschichte der alten und
neuen Literatur wenig später, im Jahr 1812, eine ganz ähnliche Frage. Den
Befund, dass es dem gegenwärtigen deutschen Roman an Vitalität mangle,
vor allem im Vergleich zu einem von Schlegel verehrten Buch wie Don Quijote, bringt er mit der »allzustreng vervollkommneten bürgerlichen Ordnung«
in Zusammenhang, die sich seither ergeben habe. Gehemmt von der »Deutlichkeit« der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse, wie sie Schlegel nennt,
suche der deutsche Roman notdürftig »irgend eine Öffnung, einen Eingang
zu gewinnen in ein Gebiet, wo die Fantasie sich freier bewegen kann«, und
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sei es nur eine fahrende Theatergruppe. »Der Begriff des Romantischen in
diesen Romanen«, schreibt Schlegel, »fällt meistens ganz zusammen mit
dem Begriff des Polizeiwidrigen.« Und er schließt die Prognose an, »daß
bei einer durchaus vollkommenen Polizei, (wenn der Handelsstaat völlig
geschlossen, und selbst der Paß der Reisenden mit einer ausführlichen Biographie und einem treuen Portraitgemälde versehen sein wird) ein Roman
schlechtweg unmöglich sein würde, weil alsdann gar nichts im wirklichen
Leben vorkommen könnte, was dazu irgend Veranlassung, oder einen wahrscheinlichen Stoff darbieten würde.«1
Diese Weissagung hat sich bekanntlich nicht bestätigt. Romane werden
bis heute geschrieben, und es zeigt sich, dass sich das unermüdliche Kaleidoskop der Imagination im Zeichen einer gewandelten Medienwirklichkeit
immer wieder neue Muster und Einstellungen sucht. Dennoch markiert
dieser Zusammenhang von Nicht-Wissen, Einbildungskraft und Erzählen
eine literatur- und kulturwissenschaftliche Fähre, die es weiter zu verfolgen
lohnt.
Poetologie des Wissens
Die produktive Kraft des Nicht-Wissens erfährt in den Kultur- und Sozialwissenschaften gerade einige Aufmerksamkeit. Das ist, bedenkt man die
maßgeblichen theoretischen Impulse der letzten Jahrzehnte, nur konsequent. Denn Disziplinen wie die Wissenschaftsgeschichte oder die historische Epistemologie sind in der Folge Canguilhems, Foucaults, Kittlers,
Rheinbergers oder wiederentdeckter Autoren wie Ludwik Fleck von Verfahren der Entsemantisierung geprägt. An die Stelle der Rekonstruktion
wissenschaftlicher Wahrheitsgehalte, die sich von Autor zu Autor, von Epoche zu Epoche überholen und überbieten, ist das Augenmerk auf die Verteilung des Wissens getreten – auf die politischen oder sozialen Mechanismen
seiner Verifikation, auf die medialen und experimentalen Voraussetzungen
von Erkenntnis oder auch auf eine »Poetologie« des Wissens, die, wie Joseph Vogl einmal schrieb, »die Herstellung von Wissensobjekten und Aussagen unmittelbar mit der Frage nach der Inszenierung und Darstellbarkeit
verknüpft«.
Gerade unter diesen theoretischen Prämissen aber muss zum einen die
Kehrseite dessen, was zu einer bestimmten Zeit, für bestimmte »Denkstile«
1
Bernd Seiler gebührt der Dank, diese Textstellen Lichtenbergs und Schlegels in
seiner Studie Die leidigen Tatsachen von 1983 aufgespürt zu haben.
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als wahr und erkenntnisfördernd gilt, eine gleichberechtigte Rolle spielen;
die Freilegung einer »Ordnung des Diskurses« hat sich auch um das Negativ dieser Ordnung zu kümmern, um das herausgefallene, ausgesonderte,
als veraltet, verfehlt, gefährlich oder noch unausgegoren geltende Wissen.
Zum anderen versuchen die ergiebigsten Forschungsansätze, diesen epistemologischen Gegenstand selbst ins Positive, Produktive, Operationale
zu wenden. Nicht um »Unwissenheit« geht es, also um das, was in klarer
Opposition zum Gewussten falsch und korrigierbar wäre, sondern um eine
fundamentalere Lücke, um eine Kategorie, die über das bloße Negativ hinaus die Gültigkeit der Oppositionen von wahr und falsch, von darstellbar
und undarstellbar in Frage stellt und dadurch spezifische Erkenntniseffekte erzeugt. »Wie Gesellschaften ihr Nicht-Wissen verwalten, gehört sicher
zu den schwierigsten Fragen der Kulturtheorie«, schreibt etwa Albrecht
Koschorke,2 und er äußert die Vermutung, dass »geregeltes Nicht-Wissen,
zumindest eine regulierte Nicht-Kenntnisnahme, nachgerade Grundlage
eines zivilen Zusammenlebens« sei.3
Man könnte diese These anhand von drei Aspekten veranschaulichen:
Zunächst natürlich anhand der Kategorie des »Geheimnisses«, die schon
von Georg Simmel als »eine der größten geistigen Errungenschaften der
Menschheit« gewürdigt wurde und jene »Grundlage« des Sozialen im Modus des Nicht-Wissens sichert, sowohl innerhalb von kleinen Gruppen als
auch zwischen Staaten. Die Funktionsweise von Institutionen, und nicht
nur von Geheimbünden oder Nachrichtendiensten, ist auf Undurchsichtigkeiten errichtet. In der digitalen Kultur allerdings, sowohl bei ihren prägenden Gestaltern als auch bei ihren schärfsten Kritikern, ist das Geheimnis
schlecht beleumundet. Transparenz lautet die Leitkategorie – in den Plädoyers von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg über die Notwendigkeit
weltumspannender Kommunikation genauso wie im dissidenten Konzept
des »Leak«. Diese beiden scheinbar so weit voneinander entfernten Positionen treffen sich jedoch in ihrem unbedingten Vertrauen auf die aufklärerische Wirkung von Wissen und Erkenntnis. Die soziale Bedeutung des
Geheimnisses ist für beide vernachlässigenswert.
Dass zweitens auch die normativen Fundamente einer Gesellschaft von
Nicht-Wissen stabilisiert werden, lässt sich anhand des Begriffs der »Dunkelziffer« verdeutlichen, dem der Soziologe Heinrich Popitz vor fast fünfzig
Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink 1999.
3 Albrecht Koschorke, Nichtwissen. Umrisse eines Forschungsfeldes [unveröffentlichtes Exposé zu einem Antrag bei der DFG].
2
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Jahren einen großartigen Text gewidmet hat.4 Die »Geltung der Normen«
in einem Staat, schreibt Popitz, sei daran gebunden, dass nicht jede einzelne Übertretung aufgedeckt und bestraft werde; dies sei weder in einem
verwaltungspraktischen Sinne möglich, weil die »Sanktionsorganisation«
überfordert wäre, noch in einem moralischen, weil die Masse der Delinquenten eine allgemeine »Abstumpfung der Sanktionsbereitschaft« herbeiführe und die gesellschaftlichen Normen ihre »Schutzfunktion« verlieren
würden. Von diesem Argument leitet Popitz die eminente Notwendigkeit
der »Dunkelziffer« für das Funktionieren eines Gesellschaftssystems ab, die
dem »Starren« und »Überfordernden« der Norm, wie er schreibt, »Entlastung … durch die Begrenzung der Verhaltensinformation« schaffe. Die Kategorie der »Dunkelziffer«, so die Schlussfolgerung, »öffnet eine Sphäre, in
der sich das Normen- und Sanktionssystem nicht beim Wort nehmen muß,
ohne doch seinen Geltungsanspruch offenkundig aufzugeben … Sie ermöglicht … eine Unschärfe-Relation des sozialen Lebens«.
Heinrich Popitz bringt die Kategorie des strategischen Nicht-Wissens als
Antidot gegen die Bedrohung einer »durchsichtigen Gesellschaft« in Stellung, und es ist in Bezug auf das von Friedrich Schlegel Gesagte aufschlussreich, dass er die Möglichkeit des Ausbrechens aus dieser Schreckensvision
vollständiger Erfassung sogleich an die Möglichkeit des literarischen Erzählens bindet. »Es bieten sich«, schreibt Popitz, »stets wieder neue Chancen, sich den Informationsinteressen zu entziehen. Selbst Orwell kann seine
Utopie der perfekten Verhaltensinformation als Roman schreiben: Die Geschichte, die er erzählt, kann nur in Gang kommen, weil die Perfektion –
trotz der eingebauten Fernsehapparaturen – eben nicht erreicht ist. Es lässt
sich doch etwas ›im Geheimen‹ tun.«
Ein dritter Aspekt beträfe schließlich eine bestimmte Zäsur innerhalb der
Geschichte des Wissens vom Menschen, deren Fragen und Konsequenzen
wir auch heute, auf der Schwelle der digitalen Kultur, wieder zu diskutieren
haben. Es geht um die Anfänge der numerischen Statistik in der Zeit um
1800, wie sie etwa Wolfgang Schäffner untersucht hat, also jenen Übergang
vom Wissen zum »Datenwissen«, der laut Schäffner »epistemologische
Fragen nicht mehr an menschliche Vermögen wie Vernunft, Verstand oder
Gedächtnis bindet, sondern an eine spezifische Materialität …, wie sie im
Problem der Übertragung und Speicherung von Datenmassen auftaucht«.5
Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm
und Strafe. Tübingen: Mohr 1968.
5 Wolfgang Schäffner, Nicht-Wissen um 1800. Buchführung und Statistik. In: Joseph
Vogl (Hrsg.), Poetologien des Wissens um 1800. München: Fink 2010.
4
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Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein reicht der epistemologische Ehrgeiz, das
Wissen einer Nation, etwa in Gestalt von Tableaus, vollständig und transparent aufscheinen zu lassen. Das Übermaß an Wissen aber, das »den Raum
des produktiven Subjekts übersteigt«, wie Wolfgang Schäffner schreibt, erfordert eine andere Methode, eine Ablösung der deskriptiven durch die numerische Statistik, die das Nicht-Wissen »in einen operablen Raum« verwandelt. An die Stelle der vollständigen Ausbreitung aller Daten tritt jetzt
die »Operationalisierung des Fehlenden« durch Verfahren der »Stichprobe«, des »Hochrechnens« oder des »Mittelwerts«. Nicht-Wissen kann also,
wenn man diese drei Stränge zusammenführt, als Voraussetzung des Sozialen, des Narrativen und als Voraussetzung des Wissens selbst bezeichnet
werden.
Liebe ist kein Zufall
Die Wissensorganisation unserer Gegenwart – beruhend auf Internet-Protokollen, Algorithmen oder »Big Data« – stellt genau diese Fragen mit neuer
Intensität. Wo verlaufen die Grenzen zwischen Wissen und Nicht-Wissen,
zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Berechenbarkeit und Inkommensurabilität in der digitalen Kultur? Die allgegenwärtige Vernetzung
erzeugt, wie anfangs beschrieben, zunächst einen neuen, bislang wohl ungekannten Überschuss an verfügbarem Wissen. Unterbrechung, Fremdheit,
Distanz, diese konstitutiven Bedingungen des Erzählens, werden durch die
Rationalisierungs- und Erfassungsströme des Digitalen tendenziell aufgehoben.
Diese Rationalisierung betrifft aber auch grundlegende Ausprägungen
des kollektiven Imaginären, wie etwa die kulturellen und sozialen Vorstellungen von Liebe und vom Zueinanderfinden der Paare. Wie die Soziologin
Eva Illouz in den letzten Jahren materialreich untersucht hat, ist das OnlineDating zumindest in den westlichen Gesellschaften zur vorherrschenden
Praxis für Alleinstehende oder Promiskuitive geworden, einen Liebespartner zu finden. Die entsprechenden Agenturen werben damit, das Zustandekommen amouröser Beziehungen berechenbar zu machen: Wer genügend
Informationen über sich und seine Wünsche in den Profilen und MultipleChoice-Fragebögen hinterlässt, so das Versprechen, wird den Richtigen mit
großer Wahrscheinlichkeit treffen. »Liebe ist kein Zufall«, heißt der flächendeckend plakatierte Werbeslogan von elitepartner.de, und diese Behauptung widerspricht natürlich vehement jenem »romantischen Code«, um mit
Luhmann zu reden, der in den letzten 250 Jahren das Zueinanderfinden von
Paaren und die Synthese von Liebe und Ehe organisiert hat.
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Dass dieser Code gerade auf Kontingenz und Nicht-Wissen basiert, hat
etwa Hegel in seiner Ästhetik verdeutlicht, in einem »Zufälligkeit der Liebe« überschriebenen Abschnitt. Die romantische Empfindung sei – anders
als der »objektive Gehalt des Daseins, mit Familie, politischen Zwecken,
Vaterland, Pflichten des Berufs« – ganz dem verliebten Menschen selbst
überlassen, und die Frage, warum es für ihn »just nur dieser oder diese einzelne ist, das findet seinen Grund in der subjektiven Partikularität, in dem
Zufall der Willkür«. Umgekehrt könne das Leiden an der Liebe, die falsche
Wahl oder die ausbleibende Erwiderung, wie Hegel sagt, nicht als »Unrecht
an sich« und »allgemeines Interesse« betrachtet werden: »Denn«, so Hegel,
»es ist nichts in sich Notwendiges«, dass ein Mann »sich gerade auf dieses
Mädchen kaprizioniere«. Die Idee der romantischen Liebe zählt auf die Unvorhersehbarkeit und Irrationalität der Begegnung: dass im ewigen Strom
der Passanten und flüchtig vorbeiziehenden Gesichter plötzlich die eine Gestalt – ein »Blitz« wie in Baudelaires berühmtestem Gedicht – auftauchen
würde, die dem Leben einen neuen Sinn geben könnte. Im Online-Dating
wird dieser schicksalhafte Moment durch akkurate Datenberechnung ersetzt, durch die mathematisch gestützte Arbeit des »matching«. Denn
Paarvorschläge ergeben sich in den großen Agenturen weniger durch die
eigenständige Suche der Klienten in den Karteien und Profilen als vielmehr
mithilfe von Computerprogrammen, die aus den Daten und BrowsingGewohnheiten eines Nutzers verlässlichere Vorlieben destillieren sollen als
dieser selbst.
Es hat den Anschein, als träte die Geschichte der Liebe im Modus des
Online-Dating in eine neue Epoche. Die Suchmasken und Algorithmen
schaffen erneut eine äußere Instanz, die über die Stiftung von Liebesbeziehungen entscheidet. Heute sind es nicht mehr Eltern und Familien, die
das Zusammenkommen von Paaren bestimmen, sondern die Programmierer und Psychologen der Dating-Agenturen. Die arrangierte Ehe feiert im
21. Jahrhundert eine unerwartete Rückkehr.
Unsichtbarkeit der Funktionsweisen
Digitale Technologie stellt Wissen in einer Fülle und Omnipräsenz bereit,
die alles Nicht-Wissen zu eliminieren scheint. Jede Abendgesellschaft, jeder Spaziergang findet heute in einer perfekt ausgestatteten Bibliothek statt,
und als soziales Emblem unserer Zeit kann die Tischrunde gelten, in der
eine Frage auftaucht, und fast alle greifen zum Telefon oder Tablet, um
das Problem durch ein paar Tastendrucke zu lösen. In Unterhaltungen fällt
manchmal noch das Wort »wandelndes Lexikon« für Menschen, die sich
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auf Nachfrage auch in den abseitigsten Wissensgebieten beschlagen zeigen.
Diese Bezeichnung trifft inzwischen aber auf jede Person mit Smartphone
in der Tasche zu; als Kompliment ergibt sie keinen Sinn mehr. Und das computergesteuerte Sammeln und Zuordnen großer Datenmengen ermöglicht
nicht nur den Zugriff auf Vergangenheit und Gegenwart, sondern setzt sich,
wie man regelmäßig aus den Nachrichten erfährt, auch als kriminalistisches oder ökonomisches Prognoseverfahren durch, das die Verbrechenswahrscheinlichkeit oder das Kaufverhalten in bestimmten Kollektiven und
Regionen präzise vorherzusagen vermag.
»Algorithmus« und »Big Data« heißen die Erkenntnisinstrumente unserer Gegenwart – und doch besteht die Ambivalenz der digital gestalteten Wissensorganisation darin, dass zwar ihre Effekte, ihre Anordnungen
und Verteilungen, für uns alle sichtbar und wirkungsmächtig sind, ihre
spezifische Funktionsweise aber mehr denn je im Unsichtbaren bleibt.
Die Codes der Algorithmen, die die Reihenfolge der Google-Treffer, die
Zusammensetzung der Facebook-Timeline oder die »matches« der Dating-Agenturen bestimmen, sind ein Geheimnis, vielleicht einigen Programmierern der Unternehmen bekannt, vielleicht aber nicht einmal das,
weil komplexe, proliferierende Computercodes sich nicht auf so konkrete Weise darstellen und an einem nur für Eingeweihte zugänglichen Ort
aufbewahren lassen wie etwa das wohlgehütete Originalrezept von CocaCola.
Nicht zuletzt deshalb wäre es wünschenswert, dass sich die sogenannten Digital Humanities um eine Poetologie des digitalen Wissens bemühen
würden. Bislang allerdings zeichnen sich weite Teile dieser Forschungsbereiche eher durch einen im Bewusstsein eigener Avantgarde vorgetragenen Erkenntnisoptimismus aus sowie durch ein erstaunliches Maß an Geschichtsvergessenheit. Ergiebiger könnte es sein, genau jenen Bruch, jene
Diskontinuität zu analysieren, die zwischen den visualisierbaren Effekten
der computergesteuerten Wissensorganisation und ihren Codes besteht,
den mathematischen Ursprüngen der Programmiersprachen, die die Nutzer der Endgeräte vor mehr als dreißig Jahren verlernt haben, als die ersten
Macintosh-Computer mit einem intuitiv und voraussetzungslos zu bedienenden Interface auftauchten. Das Problem lautet also: Wie ist der Algorithmus repräsentierbar? In jüngster Zeit war es vor allem der New Yorker
Medienphilosoph Alexander Galloway, der diesen Fragen nachgegangen ist:
Er unterteilt das digital verarbeitete Wissen, mit einer etwas angreifbaren
Unterscheidung, in rohe, numerische »Daten« und in »Informationen«, die
in Buchstabenschrift, Bild oder Film dargestellt werden können. Produktiv
ist diese Unterscheidung aber deshalb, weil Galloway durch sie jenen Riss
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einzukreisen vermag, der zwischen mathematisch berechnetem und visualisiertem Wissen liegt.
Man kann zum Beispiel die Darstellung des Geheimnisverrats von Edward Snowden, wie sie von dem Film Citizenfour (2014) unternommen
wurde, genau unter diesem Aspekt der Repräsentativität oder Nicht-Repräsentativität digital vermittelter Datenmassen analysieren. Die Begegnung
von Glenn Greenwald und Laura Poitras mit Snowden in dem Hotelzimmer
in Hongkong ist höchst ergreifend; es ließe sich einiges sagen über die Wiederkehr der Figur des Opfers im Zusammenhang mit dem Whistleblower,
über die lebensverändernde Brisanz seiner Tat; aber es ist eben nicht so
leicht zu erkennen, worin die inhaltliche Brisanz der Äußerungen im Einzelnen liegt. Im Übermaß an abstrakten, verschlüsselten Daten und Zeichen lässt sich keine konkrete Abbildung finden. Poitras zeigt in Citizenfour
etwa immer wieder die entschlüsselten Begrüßungsformeln am Anfang der
E-Mail-Korrespondenzen mit Snowden, aber dann, wenn es entscheidend
wird, bricht die Einstellung ab – und dass die kollektive Empörung über die
Enthüllungen erstaunlich verhalten blieb, liegt vermutlich in hohem Maße
an diesem Problem der Darstellbarkeit.
Der Algorithmus ist eine Autorität, aber ihr Kalkül, ihre Regierungsweise
bleibt im Dunkeln. Für große Teile der Internetgemeinschaft, der indifferent-konsumistischen wie der politisch aktiven, ist die Welt des Digitalen
weiterhin ein Raum der Transparenz, der Partizipation, der Freiheit – also
modernste Ausprägung der Errungenschaften der Moderne. Wer das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen, das dieser Raum produziert, aber
genauer untersucht, könnte auch zu dem Ergebnis kommen, dass genau
jene 250 Jahre alten Elemente einer bürgerlichen Öffentlichkeit angesichts
der Funktionsweisen digitaler Kultur auf die Probe gestellt sind.
Das ist zumindest die These eines Aufsatzes von Claus Pias und Timon
Beyes über Transparenz und Geheimnis, in dem sie den Versuch unternehmen, digitale Kulturen »im Zeichen … der fundamentalen Intransparenz«
zu denken.6 Wenn es ein Kennzeichen moderner Wissens- und Gesellschaftsorganisation ist, dass sie sowohl die von Geheimnis und Willkür getragene
Herrschaft des absoluten Souveräns als auch die Providenz der Zukunftsvorstellungen durch Konzepte der Offenheit, Kontingenz und Teilhabe ersetzen, dann lassen sich zwischen der vormodernen Welt und der digitalen
Kultur tatsächlich eine Reihe von anschlussfähigen Gemeinsamkeiten finden. Algorithmen schaffen Providenz: Sie sagen uns auf Amazon und Net6
Timon Beyes / Claus Pias, Transparenz und Geheimnis. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaft, Nr. 2, Dezember 2014.
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flix, welche Bücher oder Fernsehserien uns ebenso gefallen werden, nachdem wir einen Kauf getätigt haben; sie schlagen uns Freunde in den sozialen
Netzwerken vor; sie stiften Ehepartner und lassen jene Selbstermächtigung
der romantisch-subjektiven Partnerwahl ein wenig in den Hintergrund treten, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Liebesanbahnung
bestimmt hat. Auch die vieldiskutierte Unmöglichkeit, auf Facebook Affekte wie Hass und Trauer oder Erfahrungen des Scheiterns darzustellen,
erinnert Pias und Beyes an vormoderne höfische »Rituale des Konsenses«,
die noch keine kritische Öffentlichkeit kannten. »An die Stelle, die einst die
Weisheit (oder Willkür) des Herrschers bezeichnete«, schreiben sie, rückt
die »Souveränität der Datenverarbeitung«.
Die Analyse des Nicht-Wissens hat daher keineswegs, wie es vielleicht bei
einem ersten Blick auf diese Kategorie scheinen mag, einen Beigeschmack
von Irrationalismus, sondern kann im Gegenteil einen Beitrag zur Analyse
von Machtstrukturen im digitalen Zeitalter liefern. Wie Alexander Galloway sagt: »The point of unrepresentability is the point of power. And the
point of power today is not the image. The point of power today resides in
networks, computers, information, and data.«7 Dass die mächtigsten Akteure dieser Sphäre genau wissen, in welch langer und erhabener Tradition
der Wissensinstanzen sie sich befinden, machen sie in aller spielerischen
Souveränität deutlich, zum Beispiel schon durch ihre Namengebung. Das
zweite O im Akronym »Yahoo«, dem ersten großen Webportal der Internetgeschichte, steht für das Wort »Orakel«.
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