Hans-Werner Goetz, Proseminar Geschichte: Mittelalter, Stuttgart 1993, S. 32-37. 1.3 Besonderheiten der Mediävistik Das Mittelalter als Epoche Auf solchen Grundlagen läßt sich nun nach den Besonderheiten und dem Nutzen der mittelalterlichen Geschichte fragen. 1.3.1 Begriff und Epoche »Mittelalter" - das ist traditionell die Epoche zwischen 500 und 1500 nach Christus, zwischen Antike und Neuzeit, wobei die genauen Anfangs- und Enddaten umstritten und letztlich nicht zu bestimmen sind.20 Der Zufallsbegriff »Mittelalter" - als abschätzige Epochenbezeichnung schon von den Humanisten für die Zeit zwischen Antike und damaliger Gegenwart geprägt - wurde in diesem Sinn etwa von Christoph Cellarius (1634-1707) in seiner »Historia tripartita" als Epocheneinteilung zugrunde gelegt und fand seither weitere Verbreitung. Der Beginn des Mittelalters, traditionell oft mit dem Ende des Weströmischen Reiches (476) angesetzt, schwankt tatsächlich zwischen dem Toleranzedikt Konstantins (313) und der Errichtung des europäischen Abendlandes durch Karl den Großen,21 das Ende, traditionell mit der Entdeckung Amerikas (1492) oder Luthers Thesenanschlag (1517) verbunden, zwischen der Eroberung Konstantinopels durch die Türken (1453) und der Französischen Revolution (1789).22 Heute tritt niemand mehr ernsthaft für konkrete Anfangs- und Enddaten ein. Es ist vielmehr selbstverständlich, daß jede Epoche in einem langen Prozeß entsteht und wieder zu Ende geht, daß es Übergangsphasen gibt, deren ungefähre Grenzen in erster Linie davon abhängen, welchen Aspekten man im Spektrum der historischen Betrachtungsweise den Vorzug gibt, ob man primär politische, kulturelle oder sozioökonomische Entwicklungen zugrunde legt: Was wir „Mittelalter" nennen, ist tatsächlich allmählich geworden und ebenso allmählich wieder vergangen. Ungeachtet solcher unterschiedlichen Ansätze im einzelnen wird der Begriff „Mittelalter" heute, trotz (oder wegen) seiner inhaltlichen Offenheit, fast allgemein akzeptiert für eine Epoche, die ihr durchaus eigenes Gepräge besitzt. Aus einer Art Synthese von antiker Tradition, spätantikem Christentum und neuen germanischen Trägern entstand bei gleichzeitiger Verlagerung des räumlichen Schwerpunktes vom Mittelmeer nach Norden allmählich eine neue Kultur, die freilich selbst alles andere als statisch war, sondern sich ständig weiterentwickelte (wobei zunehmend das 11./12. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht als eine Umbruchszeit erkannt ist, so daß sich Frühund Spätmittelalter im Vergleich deutlich voneinander abheben). Das Ende der Epoche aber muß zwangsläufig problematischer werden, je mehr unsere eigene Zeit sich davon entfernt und sich der Unterschiede auch der folgenden Jahrhunderte zur Gegenwart bewußt wird. Eine Epocheneinteilung bleibt grundsätzlich sinnvoll, da Geschichte sich in Zeit und Raum abspielt. Die (traditionelle) Einteilung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit aber ist nur ein solcher Versuch, Epochen zu bilden, ein Versuch, der keineswegs unproblematisch ist, für den sich dennoch auch gute Gründe finden lassen und der Im Rahmen einer Proseminareinführung schon deshalb unerläßlich ist, weil der universitäre Wissenschaftsund Seminarbetrieb sich bis heute weitgehend daran orientiert. 1.3.2 Funktionen der mittelalterlichen Geschichte Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Mittelalter oft abschätzig beurteilt: Es gilt - mit den Augen der Aufklärung bzw. des Bürgertums - als „finster“ und rückständig, als das »Pfaffenzeitalter", in dem Weltliches und Geistliches miteinander um den Vorrang stritten;23 als »mittelalterlich" werden gern solche Zustände bezeichnet, die hoffnungslos veraltet sind (auch wenn sie tatsächlich vielfach erst später entstanden sind).24 Da hilft es wenig, den Begriff selbst abschaffen zu wollen.25 Es gilt vielmehr, das Bild vom „finsteren" Mittelalter durch Forschung und intensive Öffentlichkeitsarbeit aufzuhellen. In dieser Hinsicht erfüllt das Studium der mittelalterlichen Geschichte wichtige Funktionen: (l)Das Mittelalter gehört zu unserer Vorgeschichte. Die Ursprünge so mancher heutigen Einrichtung gehen ins Mittelalter zurück. Auch wenn diese Anfänge weit zurückliegen, ist ihre Kenntnis oft notwendig zum Verständnis der Gegenwart. Das gilt, um nur einige Beispiele zu nennen, für die Stadtbildung ebenso wie für die Ausbildung der europäischen Nationen und Staatenwelt, für die Universitäten ebenso wie für die kirchlichen Institutionen, für den Föderalismus ebenso wie für die sich überlebenden Monarchien; aber auch die bis heute erhaltenen, wenngleich durch die nachfolgende Entwicklung vielfach veränderten Überreste wie Burgen und Kirchen, Landschaftsbilder, Stadtgrundrisse, Ortsnamen, Feste oder manche Begriffe und Redewendungen lassen sich nur aus ihrer Zeit heraus verstehen: Die moderne Welt ruht gerade mit ihrem Pluralismus und ihrer Dynamik auf Grundlagen des vermeintlich so fernen Mittelalters.26 (2) Auf der anderen Seite - und das ist noch entscheidender – hebt sich das Mittelalter, eben weil es eine eigene Epoche bildet, durch seine Andersartigkeit von der Gegenwart ab, die durch den Vergleich mit dem in vielem so fernen Mittelalter um so deutlicher in ihrer Eigenständigkeit hervortritt und dadurch verständlicher wird: Es ist also gerade das Fremde, das .Mittelalterliche am Mittelalter", das durch Vergleichsmöglichkeiten und Denkalternativen bewußtseinsbilden wirkt (und auch verdeutlicht, daß der gegenwärtige Mensch nicht der einzige Maßstab ist, an dem alles andere zu messen wäre). Die älteren Epochen sind daher, entgegen manchen restriktiven Tendenzen, unverzichtbarer Bestandteil des Geschichtsstudiums und des Schulunterrichts. Vergleichende Betrachtungsweisen entsprechen den modernen, auf den Menschen und seine Verhaltensweisen gerichteten Interessen (im Sinne einer historischen Anthropologie). Gerade aus dem Gegenwartsbezug erwachsene, vergleichende Fragestellungen (o. S. 20ff.) erfordern aber eine - von Spezialisten zu erarbeitende - zeitgemäße Sicht des Mittelalters aus den damaligen Bedingungen heraus, wenn man fehlerhafte Rückprojektionen und Zirkelschlüsse vermeiden will. Hier sind Mittelalterhistoriker/innen gefordert. (3) Die Erforschung des typisch Mittelalterlichen (in und neben aktuellen Fragestellungen) ist schließlich auch nötig, damit die Geschichtswissenschaft eine kritische Funktion gegenüber Klischeevorstellungen erfüllen kann. Ferne Zeiten eignen sich zur Mythenbildung, besonders wenn das allgemeine Wissen darüber gering ist. Solche Mythen lassen sich aber leicht zur (falsch verstandenen) Legitimierung benutzen.27 (Es mag genügen, hier an die Germanenideologie im „Dritten Reich* zu erinnern.) Ein treffendes Beispiel zeitgebundener (Fehl-) Interpretation und Ausschlachtung historischer Fakten hat Klaus Schreiner untersucht: den Friedensschluß zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander in. in Venedig 1177 nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen, die zugleich ein Ringen der Mächte wie der Prinzipien enthielten.28 Ein so wichtiges Ereignis bedurfte im Mittelalter unbedingt symbolischer Formen: Friedrich I., vom Bann gelöst, küßte dem Papst die Füße, der ihm seinerseits den Friedenskuß erteilte. Zeitgenössische Chronisten sahen darin vor allem die Eintracht symbolisiert, doch konnte dieses Ereignis im Laufe der Zeit infolge gewandelter Wertvorstellungen leicht uminterpretiert werden. Bereits im späten Mittelalter empfand man den Fußkuß als Schmach, und so wurde er, je nach Standpunkt, hervorgehoben, verschwiegen oder entschuldigt. Bei Luther, der den Fußkuß verurteilte, wurde der Papst zum Antichrist. Bildliche Darstellungen der Folgezeit erzielten eine Entlarvung des entsprechend dargestellten oder von Dämonen umgebenen Papstes als Werkzeug des Teufels; der Fußkuß wurde zum Fußtritt umgestaltet, oder der Papst setzte seinen Fuß auf den Hals des Kaisers. Das 19. Jahrhundert erblickte in dieser Geste dann weniger eine Entlarvung das Papstes als vielmehr eine Niederlage des Kaisers. Historienmalerei und Dichtung bemühten sich daher, die Gleichberechtigung beider Partner herauszustellen, die nun in vollem Ornat auftraten; bei Christian Dietrich Grabbe wurde aus dem Fußkuß ein Handkuß, Maler machten daraus einen Friedenskuß oder zeigten, wie der Papst den Kaiser mit offenen Armen empfing (so Julius Schnorr von Carolsfeld in den Kaisersälen der Münchener Residenz); der Fußkuß wurde dagegen zur Karikatur. Es ist die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, das Geschichtsbild durch Berufung auf die Quellen vor so viel „willkürlicher", auf zeitgebundenem Verständnis beruhender Ausdeutung zu schützen. Alexander III., so stellt Schreiner fest, wollte tatsächlich weder die deutsche Nation kränken noch das staufische Kaisertum demütigen noch antichristlich handeln. Ähnliche Fehldeutungen, die uns in der Vergangenheit leichter auffallen, gilt es ebenso in der Gegenwart zu vermeiden. Wir brauchen ein wissenschaftlich fundiertes Wissen über das Mittelalter, um Mißdeutungen vorzubeugen und um zu verhindern, daß am Mittelalter nur das Exotische reizt, daß der Weg ins Mittelalter in eine Gegenwelt führt statt in die eigene Geschichte.29 Darüber hinaus erlaubt gerade der zeitliche und damit in der Regel auch emotionale Abstand meist eine sachlichere Betrachtung: Unser Urteil über fernere Zeiten ist in Fragen der persönlichen Betroffenheit nicht ganz in demselben Maße von außerwissenschaftlichen Faktoren bestimmt wie gegenüber gegenwartsnahen Epochen. Ebenso gilt es, das in den letzten Jahren neu erwachte öffentliche Interesse am Mittelalter, das sich im Buchmarkt, in Fernsehsendungen, Vortragsreihen, Ausstellungen oder Jubiläen äußert, aufzugreifen und zu lenken. (Der sog. »Boom" ist dabei mit Hartmut Boockmann vielleicht nur als eine Rückkehr in den Normalzustand zu werten, nachdem - freilich nur in Deutschland - das vordem vorwiegend unter nationalstaatlichen Vorzeichen betrachtete Mittelalter nach dem letzten Weltkrieg im öffentlichen Geschichtsbewußtsein weitgehend ausgeblendet wurde.) Die Mediävistik aber muß die von außen an sie herangetragenen Fragen an das Mittelalter aufgreifen und der Öffentlichkeit ein Mittelalterbild vermitteln, das die Unkenntnis mindert und dadurch Mythen vermeiden hilft. Eine Einführung in das Studium der mittelalterlichen Geschichte muß auf solche Gesichtspunkte Rücksicht nehmen und daher sowohl das Mittelalterspezifische, Feme, im Blick behalten als auch moderne Fragen, Themen und Ansätze beachten. 20) Vgl. Hermann HEIMPEL, Über die Epochen der mittelalterlichen Geschichte, in; Ders., Der Mensch In seiner Gegenwart. Acht historische Essays, Göttingen 21957, S. 42-66; Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth, hg. v. Peter Segl, Sigmaringen 1997. 21) Vgl, den Band: Zur Frage der Perlodengrenze zwischen Altertum und Mittelalter, hg, v. Paul Egon Hübinger (Wege der Forschung 51) Darmstadt 1969. 22) Vgl. Stephan Skalweit, Der Beginn der Neuzeit (Erträge der Forschung 178) Darmstadt 1982. 23) Vgl. Klaus Arnold, Das »finstere" Mittelalter. Zur Genese und Phänomenologie eines Fehlurteils, Saeculum 32, 1981, S. 287300. 24) Vgl. Fred C. Robinson, Medieval, The Middle Ages, Speculum 59, 1984, S. 745-756. 25) So Toby burrows, Unmaking the Middle Ages, Journal of Medieval History 7, 1981, S.127-134. 26) Vgl. dazu (aus der Sicht des Neuzeithistorikers) Thomas Nipperdey, Die Aktualität des Mittelalters. Über die historischen Grundlagen der Modernität, GWU 32, 1981, S. 424-431; Hartmut Boockmann, Die Gegenwart des Mittelalters (WJS Corso) Berlin 1988. 27) Beispiele späterer Mittelalterverarbeitung bietet: Framisek Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln-Wien 1975 (z.B. S.338ff. zum Mythos Friedrich Barbarossas im 19.Jh.). Vgl. auch MittelalterRezeption. Ein Symposium, hg. v. Peter Wapnewski, Stuttgart 1986. 28) Klaus Schreiner, Vom geschichtlichen Ereignis zum historischen Exempel. Eine denkwürdige Begegnung zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander m. in Venedig 1177 und ihre Folgen in Geschichtsschreibung, Literatur und Kunst, in: Mittelalter-Rezeption (wie Anm. 27) S. 145-176. Zum Bild der Staufer in Spätmittelalter und Neuzeit vgl. auch Arno Borst, Die Staufer in der Geschichtsschreibung, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte Kunst - Kultur, Bd. 3, Aufsätze, Stuttgart 1977, S, 263-274, der aufzeigt, wie sehr das spätere Bild vom staufisch-welflschen Streit und vom Streit um die Italienpolitik geprägt ist. Vgl. auch die Beiträge von Walter Migge (ebd. S. 275-286) und Kurt Locher (ebd. S. 291-309) zum Nachleben der Staufer in der Literatur und bildenden Kunst: Der offizielle Zyklus in der Pfalz Goslar zog bewußt eine Linie von den Staufern zu Wilhelm L; vgl. außerdem: Hartmut Boockmann, Friedrich I. Barbarossa in der Malerei und Bildenden Kunst des Historismus, Bullettino deU'Istituto Storico Italiano per il Medio Evo 96, 1990, S.347-365. 29) Vgl. dazu Boockmann (o. Anm. 26); Horst Fuhrmann, Das Interesse am Mittelalter in heutiger Sicht. Beobachtungen und Vermutungen (Schriften des Historischen Kollegs. Dokumentationen 2) München 1987 (auch in: Ders., Einladung ins Mittelalter, u. S. 55, S. 262-280); Ernst Voltmer, Das Mittelalter ist noch nicht vorbei..., in: Ecos Rosenroman. Ein Kolloquium, hg. v. Alfred Haverkamp, München 1987, S. 187-228.
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