Ein stein, ein buch, ein schirm-a

Ein Stein, ein Buch, ein
Film
Über
ein
ungewöhnliches
(Film)Projekt vor dem Neuen
Museum in Berlin
Jeden Morgen um kurz vor
zehn schiebt der „man in black“
seinen Karren auf die Brücke
zur Museumsinsel und baut auf:
Stuhl und Tisch a la Thonet,
darauf
ein
Buch,
so
großformatig, dass man noch
von Ferne die überwiegend
weißen Seiten erkennt. Der
komplett schwarz gekleidete
Mann setzt sich auf den Stuhl,
spannt dazu je nach Wetterlage
seinen
großen
schwarzen
Schirm auf und fängt an, umzublättern.
Ganz
bedächtig,
vielleicht zwei oder drei Seiten
pro Minute, slow motion. Und
damit sind wir mitten im Thema.
Es war sehr heiß in den letzten
Wochen, jedenfalls immer wieder mal. Trotzdem saß dieser
Mann dort mitten auf der
Brücke bei knalligster Hitze
korrekt
in
langärmligem
Schwarz
mit
weißen
Handschuhen
wie
ein
Pantomime, Einer, der ein wichtiges Gästebuch zu verwalten
hat.
Aber ein Gästebuch mitten auf
der von Touristen und Autos
frequentierten offen zugänglichen Brücke vor der Dauerbaustelle Neues Museum?
Er freut sich, angesprochen zu
werden, schließlich sitzt er deswegen da. Wenn keiner fragt,
was er eigentlich macht, tut er
nichts weiter als freundlich zu
gucken und - umzublättern. Das
Angelika Brötzmann
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Buch liegt aufgeschlagen in
Blickrichtung
zu
den
Passanten. Er zeigt es, führt
vor. Ganz WachturmheftchenAnbieter, Abwartender, nicht
Marktschreier. Nur dass er
dabei sitzt. Und auf dem Tisch
dieses Buch liegt.
Endlich! Endlich fragt ihn also
einer.
„Das ist ein Film.“
Wie, ein Film? Das ist doch ein
Buch!
Und dann geht’s los. Wahrscheinlich funktioniert der Einstieg immer so, jedenfalls ist
der Mann in Schwarz, Peter
Baer heißt der Mittvierziger,
jetzt in seinem Element. Nicht
dass ein Endlosmonolog beginnt. Er antwortet tatsächlich
nur auf konkrete Fragen, wohl
überlegt, aber gerne ein bisschen ausschweifend und immer
mit Zitaten und Vergleichen aus
Philosophie, Kunstgeschichte,
seinem
offenbar
breiten
Spektrum
erlernter
Kulturwissenschaft. Der Stein
des Anstoßes, die Tradition des
Non-Actors, der Vorführer im
Hintergrund, die Projektion
einer Oberfläche im dreidimensionalen Raum…
Wenn gerade niemand kommt
und ihn nach dem Weg zum
Pergamonmuseum, zur Friedrichstraße oder zum Brandenburger Tor fragt, blättert er
weiter die schweren 37 Seiten
um, als suche er eine besonders interessante Passage,
hätte aber vergessen auf
welcher Seite die stand. Dabei
ist das ein Bildband. Auf jeder
Seite nichts anderes zu sehen
als die Oberfläche eines
quadratischen
Pflastersteins.
Immer
derselbe.
Immer
dieselbe Einstellung. Nur seine
Position jeweils minimal auf der
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Horizontalen
verschoben.
Würde man das Buch wie ein
Daumenkino
durchrattern,
nähme man die Bewegung
wahr, die der Stein macht: von
rechts nach links. Er kommt ins
Bild und geht wieder raus.
Mehr nicht.
Bewegt sich die Kamera oder
der Stein?
Tja.
Wieder folgt ein Diskurs. Diesmal über Perspektive, Hüllen,
Wahrnehmungsebenen.
Als
„Urbane Kommentare“ hat Baer
sein Projekt beim Bezirksamt
angemeldet. Deshalb findet er
es auch völlig in Ordnung,
wenn er an manchen Tagen
vorbeikommenden
und
anhaltenden Touristen mehr als
Auskunftsgeber
für
die
musealen Attraktionen in Mitte
dient als dass er sie in Betrachtungen über „Stein und
Fleisch“, wie zum Beispiel sein
Montagsthema
lautet,
verwickeln kann.
Jeder Tag steht unter einem
anderen Motto, so wie an
jedem Tag ein anderes Buch
auf seinem Tisch liegt. Sechs
Tage, für jede Seite des Steins
einer.
Dem
Betrachter
erschließt sich der Wechsel
nicht wirklich, schließlich kann
er
nicht
vergleichen,
er
bekommt ja jeweils nur eine der
Steinseiten - pro Tag - zu
sehen. Aber Peter Baer meint
es ernst. Sechs Steinseiten,
sechs Fotobände, die er an
sechs Tagen jeweils sechs
Stunden lang ununterbrochen
„projiziert“.
In einem seiner früheren Projekte, ein oder zwei Jahre her,
hat er tatsächlich eine urbane
Projektion installiert. Im Berliner
Stadtteil Wedding zeigte Bär
haushoch ein Stück Seife. Olive
aus Aleppo. Sieht eigentlich
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auch aus wie ein Stein. Manche
dachten an Werbung, andere
besannen sich auf die erste
Kulturhauptstadt des Islams
oder es entspann sich eine
allgemeine Konversation über
Gerüche.
Diesmal hat sich Peter Baer
entschlossen, auf den Projektor
und ein echtes Screening zu
verzichten.
Trotzdem besteht er darauf,
das aktuelle Werk Film zu
nennen. Ein graviertes Schild
auf
seinem
Vorführtisch
benennt den Produzenten:
Wedding Film. Das sind er und
seine Partnerin Clara Taborda,
deren künstlerische Heimat laut
eigener Aussage in
den
Bereichen Musiktheater und
Tanz liegt. Eine Webseite existiert nicht - getreu dem zur
Schau gestellten Minimalismus
in Form und Werk.
Den
Hauptdarsteller
ihres
Films, einen 10 cm kleinen
Pflasterstein, der schon allein
aufgrund des Großdrucks der
Bildbände
über
sich
„hinausgewachsen“ ist, haben
die Akteure aus dem Bodenbelag des Holocaust-Denkmals stibitzt. Allerdings schon
während der Bauphase. Da hatten sie ihn sich für zwei Tage
„ausgeborgt“, um ihn im Studio
zu fotografieren und nachts
wieder heimlich unter die
übrigen Steine gemischt. „So
dass wir davon ausgehen, dass
genau DIESER Stein einer der
900.000 Pflastersteine ist, auf
denen tagtäglich rumgetreten
wird im Denkmal für die
Ermordeten Juden Europas“
konstatiert Baer.
Dass es genau 900.000
Pflastersteine sind, weiß Peter
Baer aus eigener Zählung. „Es
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ist blöd und es glaubt ja jeder,
wir hätten einfach gerundet,
aber es sind tatsächlich genau
900.000!“
Mithilfe
zweier
ausgeklügelter
Zählsysteme
haben Taborda und Baer die
Steine am Holocaust-Denkmal
gezählt.
Auch
das
dort
angestellte Aufsichtspersonal
habe hilfsbereit mitgemacht und
alle sind zum selben Ergebnis
gekommen. Halbe oder irgendwie zurechtgeschnittene Steine
wurden, soviel Korrektheit bei
ihrer empirischen Grundlagenforschung muss sein, dabei
als jeweils ganze Steine
gezählt.
Peter Baer ist ein akribischer
Mensch. Pünktlich kommt er an
seinen
derzeitigen
unbezahlten - Arbeitsplatz,
insgesamt sieben Wochen lang.
Noch bis Ende September.
Einziges Utensil, das neben
dem Buch auf seinem Tisch
liegt ist ein flacher breiter
Pinsel. Damit wischt der weiß
Behandschuhte vorsichtig vor
jedem
Umblättern
kleine
Insekten von den Blattseiten,
falls sich mal welche darauf
verirrt haben. Damit er im
Abspann guten Gewissens
sagen kann: „no animals were
harmed“.
Nein, Dieter Kosslick ist noch
nicht bei ihm vorbeigekommen.
Leider. Denn das sei tatsächlich
sein Ziel, gesteht der Produzent
und Regisseur: eine Einladung
zur Berlinale oder auf die Filmfestspiele nach Venedig oder
nach Edinburgh. Dort würde er
„seinen Film“ gerne vorblättern.
Immer, wenn Peter Baer am
Ende eines Bandes angelangt
ist, sagt er übrigens - egal ob
ihm gerade jemand zuhört oder
nicht - ENDE.
Angelika Brötzmann
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„ ,ein stein“ - das Komma am Anfang ist Bestandteil des Titels und
soll Raum lassen für Satzanfänge, erklärt der… "Filmemacher"
@ A. Brötzmann
Angelika Brötzmann 0173 2188189 Am Festungsgraben 1 10117 Berlin
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