Arbeiten bis zum Umfallen Bericht: Greg Verweyen Der 65

Arbeiten bis zum Umfallen |Manuskript
Arbeiten bis zum Umfallen
Bericht: Greg Verweyen
Der 65-jährige Hans Hilgert macht sich fertig für eine Schicht als Fernfahrer. Mit einer
künstlichen Hüfte und nach einem schweren Herzinfarkt ist er nicht gerade fit - eine Ladung
Tabletten, damit er die nächste Fuhre durchsteht.
Hans Hilgert, gelernter Rettungssanitäter:
"Das Herz muss stabilisiert werden, das ist ganz klar. Ich habe einen zu hohen
Cholesterinspiegel, brauche Betablocker und zur Blutverdünnung dieses Salithrom, das ist das
Allerwichtigste. Zusätzlich brauch ich um den Magen zu stabilisieren ein Medikament, damit
der nicht übersäuert."
Sein Kompagnon auf der Straße ist der 68-jährige Lothar Hoeder. Gemeinsam planen sie die
Route. Die beiden Rentner werden am Nachmittag einen 40-Tonnen-LKW nach Belgien
bringen, Fahrtzeit: etwa 18 Stunden.
Hans Hilgert: "Dir geht’s doch noch relativ gut. Du hast doch keine Wehwehchen, sagst du
immer."
Lothar Hoeder: "Na ja, ich hab´s auch mit den Knien und mit dem Rücken, durch die ganze
Möbelschlepperei."
Lothar Hoeder war Möbeltransporteur. Mit 68 ist er jetzt eigentlich in Rente - aber er muss
weiter arbeiten, da er auf den Zuverdienst angewiesen ist. Doch jede Fahrt ist eine Tortur.
Lothar Hoeder, pensionierter Möbeltransporteur:
"Wie krieg ich das hin. Immer diese Angst. Der Druck, das geht immer im Kopf rum. Muss
Tempo machen, muss Tempo machen, muss Tempo machen."
15.00 Uhr. Es geht los. Das Wetter ist schlecht. Eine zusätzliche Belastung für die Senioren.
Schon das Einsteigen fällt nach dem Herzinfarkt hörbar schwer. So wie diese beiden Rentner
arbeiten viele Geringverdiener oft bis ins hohe Alter, in körperlich anstrengenden Jobs. 100
bis 400 Euro im Monat können sich die Seniorentrucker so dazuverdienen.
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verwendet werden. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Urheberberechtigten ist unzulässig.
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Lothar Hoeder:
"Ich hätte persönlich nie daran geglaubt, dass ich mit 68 noch auf dem LKW sitze. Also das
war überhaupt nicht vereinbart."
Wie lange wird das gut gehen - Lothar Hoeder und Hans Hilgert wissen nur eins - sie werden
weiter schuften müssen, bis es gar nicht mehr geht.
Hans Hilgert:
"Die Angst, die ich hab, wenn der Gesundheitszustand, wenn sich der verschlechtert kann ich
diese Tätigkeiten nicht mehr machen. Das ist die einzige Angst die ich habe, weil dann mein
Lebensstandard in den Keller geht."
Der Zusammenhang von Lebensstandard und Lebenserwartung wird im
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung analysiert. Professor Rolf Rosenbrock
registriert gerade für Geringverdiener in Ostdeutschland ein erschreckendes Ergebnis.
Prof. Rolf Rosenbrock, Gesundheitsforscher:
"Auf jeden Fall wissen wir, dass eben arme Menschen und jetzt speziell in den neuen
Bundesländern, wenn sie geringere Renten beziehen und auch geringere Einkommen vorher
hatten, früher sterben."
Das Ost-West-Gefälle ist deutlich. Am ältesten werden Frauen und Männer in BadenWürttemberg, dann folgen die anderen westlichen Bundesländer. In Brandenburg,
Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern hat man durchschnittlich zwei
Jahre weniger zu leben. Die Lebenserwartung sinkt, wenn das Armutsrisiko steigt.
Psychischer Druck und empfundene soziale Ungerechtigkeit senken die Lebenserwartung.
Und natürlich - der Verdienst. Wenn man Menschen an der Armutsgrenze und Menschen im
Wohlstand vergleicht, werden die Unterschiede noch krasser.
Prof. Rolf Rosenbrock, Gesundheitsforscher:
"Die Zahlen haben mich schon sehr überrascht und auch beunruhigt. Wir sehen hier bei den
Männern, da haben Männer die bei null bis 60 Prozent, also an der Armutsgrenze oder
drunter leben, eine Lebenserwartung ab Geburt von 70,10 Jahren. Und Männer im
Wohlstand, die sagen wir 150 Prozent des Durchschnittseinkommens haben, leben eben 80,
90 Jahre im Durchschnitt. Das sind 10,80 Jahre mehr."
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Zurück zur Risikogruppe: gering verdienende Männer. Die chronischen Krankheiten, mit
denen die beiden statistisch rechnen müssen, haben sie schon. Inzwischen ist es 19 Uhr.
Regen und Dunkelheit setzen Hans und Lothar zu. Hans Hilgerts zweite Hüfte macht bereits
Probleme. Mit jedem weiteren Jahr, das er und seine gleichaltrigen Kollegen hinterm Steuer
verbringen müssen, wird es schwieriger.
Hans Hilgert:
"Da haben alle die gleichen Probleme wie ich, der 47er, 48er Jahrgang, die haben alle die
Probleme, die sind jetzt an einer Altersgrenze angelangt, wo es zum vollen Leistung bringen nicht
reicht. Es reicht halt einfach nicht mehr, die Kraft reicht nicht mehr."
Nach der Kaffeepause muss es gleich weitergehen. Schuften bis zum Umfallen - spätestens
dann ist das Einkommen zu einer Frage von leben und sterben geworden.
Prof. Rolf Rosenbrock, Gesundheitsforscher:
"Wir wissen, dass Gesundheit und Lebenserwartung durch Einkommenspolitik, durch
Arbeitsmarktpolitik, durch Arbeitspolitik und durch Sozialpolitik beeinflussbar und steuerbar
sind. Also sind die Zahlen, die wir jetzt da finden, natürlich ein Aufruf an die Politik sich zu
überlegen, wie sie die Lebenslage von Geringverdienern und armen Menschen verbessern
kann. Denn es kann nicht sein, dass wir in einem so reichen Land ganze Bevölkerungsgruppen
haben, die immer weniger Lebenserwartungen haben, während im Durchschnitt die
Lebenserwartung und auch die Gesundheitserwartung zunehmen."
Die Senioren sind inzwischen sechs Stunden unterwegs. Lothars kaputtes Knie schmerzt.
Fahrerwechsel.
Hans Hilgert: "Dir werden ja schon die Knochen wehtun, jetzt haste ja deine Schicht hinter dir.
Jetzt übernehme ich, du kannst ja dann schön wieder ausruhen."
Die Aussichten sind nicht rosig. Doch beide Männer hoffen auf einen ordentlichen
Lebensabend - trotz Statistik - denn würde die Recht behalten, blieben Lothar noch zwei
Jahre, Hans noch fünf.
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