GK 2015-1 Grundkurs Geschichte (Sachsen

Grundkurs Geschichte (Sachsen): Abiturprüfung 2015
Ersttermin – Aufgabe A
M 1:
Auszug aus einer im Frühjahr 1848 verbreiteten Berliner Flugschrift:
Extra-Blatt der Volks-Stimme
Die konstitutionellen Zehn Gebote. Den Männern aus dem Volke gewidmet […]
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FRAGE. Wie lauten die konstitutionellen zehn Gebote?
ANTWORT. Erstes Gebot: Ich bin Dein konstitutioneller König, der Dich zwar stets
nach Kräften angeführt hat und nicht eher ruhen wird, bis er Dein Bestes ausgeführt hat; Du sollst aber jetzt auch andere Stimmen hören neben mir.
F. Welches sind diese andern Stimmen?
A. Hauptsächlich die Volksstimme.
F. Was ist das – die „Volks-Stimme?“
A. Das ist unsere Stimme, die bis jetzt etwas belegt war. […]
F. Wie lautet das zweite Gebot?
A. Du sollst den Namen eines freien Volkes nicht ohne Grund führen, denn das deutsche Reich wird den nicht ungestraft lassen, der mit geschlossenem Munde und
gefesselten Händen die Freiheit verkündigen und verfechten will.
F. Was ist das?
A. Du sollst Dich nicht ein freies Volk schelten lassen, so lange Du vor jedem Bajonette den Hut oder die Schlafmütze ziehen mußt; so lange Du das Rechte weder
thun noch sprechen darfst. […]
F. Wie lautet das dritte Gebot?
A. Du sollst die Festtage der Freiheit heiligen.
F. Welches sind diese Festtage?
A. Erstens der 18. März?
F. Was bedeutet der 18. März?
A. Am 18. März haben wir uns die Freiheit aus den Mündungen der Kanonen herausgeholt. Am 18. März haben Hunderte unserer edlen Brüder die errungene Freiheit
mit ihrem Blute besiegelt. Und als die Sonne aufging, blutig roth, erleuchtete sie
ein freies starkes Volk. Das ist die Bedeutung des 18. März, und darum soll er uns
heilig sein, als der erste Freiheits-Festtag.
F. Und welches ist der zweite Festtag der Freiheit?
A. Derjenige Tag, an welchem wir eine Verfassung auf den breitesten Grundlagen erhalten werden. […]
F. Wie lautet das vierte Gebot?
A. Du sollst Freiheit und Recht ehren, und das Wohl des Vaterlandes fördern, so
lange Du lebest auf Erden. […]
F. Wie lautet das fünfte Gebot?
A. Du sollst nicht tödten.
F. Was ist das?
A. Du sollst keinen Menschen weder selber meuchlings ermorden, noch durch
Andere ermorden lassen aus Mißverstand oder Unverstand, und sollst nicht vergessen daß auch Du sterblich bist, und jeden Augenblick vor deinen Richter berufen werden kannst. […]
F. Wie lautet das sechste Gebot?
A. Du sollst dein Wort nicht brechen! […]
F. Giebt es auch solche Leute, die böswillig Ihr Wort brechen?
A. Ja, und zwar in allen Sorten; sogar gekrönte.
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F.
A.
F.
A.
Wie lautet das siebente Gebot?
Du sollst nicht stehlen!
Was ist das?
Du sollst Deine Hand nicht nach fremdem Eigenthum ausstrecken, sei es nur eine
Stecknadel oder eine Kaiserkrone. Denn der Polizeirath Dunker1 wird den nicht
ungestraft lassen, der da langfingrige Gedanken hegt in seinem Herzen. Und die
Stecknadel die Du stiehlst, wird sich schmerzhaft in Dein Gewissen bohren, und
die Kaiserkrone, die Du Dir anmaßest, wird Dein Haupt sinken machen.
F. Warum ist es aber weniger gefährlich eine Krone als eine Stecknadel zu stehlen?
A. Weil es eine praktische Erfahrung ist: Die kleinen Diebe hängt man und die großen läßt man laufen! […]
F. Wie lautet das achte Gebot?
A. Du sollst nicht falsch Zeugniß reden wider Deinen Nächsten!
FR. Was ist das?
A. Du sollst, wenn Du ein Großer des Landes bist, das Volk nicht in den Ohren des
Königs verläumden, um selbigen gegen seine Landeskinder aufzureizen. […]
FR. Wie lautet das neunte Gebot?
A. Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Haus!
FR. Was ist das?
A. Du sollst mit dem Hause Deines Nächsten nicht wie mit Deinem Eigenthume
schalten!
FR. Finden hierbei keine Ausnahmen statt?
A. Ja, beim National-Eigenthum. Denn da begehren wir nicht das Haus unseres
Nächsten, sondern das Haus dessen, der uns am Fernsten steht. Zum Beispiel:
Palais, die von unserem Schweiße erbaut sind, […] Kasernen, worin unsere geliebten Brüder, die Festordner2 vom 18. März ihren Wohnsitz hatten – […]
FR. Wie lautet das zehnte Gebot?
A. Du sollst nicht begehren, daß Dein Nächster so feige sei wie ein Weib, Dir diene
als Knecht, sich behandeln lasse wie ein Vieh, und Dir überlasse Alles, was sein
ist!
Fr. Was ist das?
A. Das wird die deutsche National-Versammlung näher erklären!
(Hervorhebungen und Abkürzungen im Original)
1 Berliner Polizeipräsident
2 Hier gemeint: preußische Truppen.
Aus: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/1848/content/titleinfo/2233478
Aufgaben:
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Interpretieren Sie M 1. Bearbeiten Sie dabei folgende Aufgaben:
1.1 Legen Sie liberale und nationale Ideen sowie deren Umsetzung in Deutschland bis zum Mai 1848 dar.
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1.2 Erarbeiten Sie aus M 1 Aussagen zur Revolution und Vorstellungen für
eine zukünftige Verfassung.
Bestimmen Sie Wirkungsabsicht und politischen Standort der Verfasser.
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1.3 „Das wird die deutsche National-Versammlung näher erklären!“ (Z. 76)
Erläutern Sie, vor welchen Aufgaben die Abgeordneten in der Frankfurter
Paulskirche standen und welche Lösungen sie anboten.
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Charakterisieren Sie den Gründungsprozess des deutschen Nationalstaates von 1864 bis 1871.
Im 19. Jahrhundert wurden Grundlagen für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gelegt.
Überprüfen Sie an einem Beispiel aus der Geschichte der Weimarer Republik oder der Bundesrepublik Deutschland (bis 1990) die Realisierung
dieser Vorstellungen.
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Lösungsvorschlag
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Im Mittelpunkt der übergeordneten Interpretationsaufgabe steht ein Auszug aus einer Flugschrift vom Frühjahr 1848 (M 1), die die Märzereignisse der Revolution thematisiert. Die
Grundlage für die Textarbeit bildet die Darlegung der liberalen und nationalen Ideen sowie deren Umsetzung bis zum Mai 1848. Aus der Flugschrift sind anschließend Aussagen
zur Revolution und Vorstellungen zu einer künftigen Verfassung zu erarbeiten. Zuletzt
richtet sich der Blick auf die Aufgaben der Nationalversammlung und deren Lösungen.
r 1.1 Die Aufgabenstellung verlangt von Ihnen, die grundlegenden Ideen der nationalen und
liberalen Bewegung sowie deren Umsetzung bis zum Zusammentreten der verfassungger
benden Nationalversammlung im Mai 1848 darzulegen. Die Aufgabe benennt keinen
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Startpunkt. Sie können demnach z. B. mit dem Wartburgfest (1817) beginnen, aber auch
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erst mit der Revolution 1848/49. Auf Letzterer sollte aber der Schwerpunkt der Betrachr
tung liegen. Die Aufgabe ist dem AFB I zuzuordnen, da Sie bei der Beantwortung auf
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eigene Kenntnisse zurückgreifen müssen.
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Die Ideen der Liberalen beruhten auf den staatsphilosophischen Überlegungen der Aufklärung und den Zielen der Französischen Revolution von 1789. Seit den Befreiungskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts forderten die Liberalen auch in Deutschland die
Errichtung eines Rechts- und Verfassungsstaates. Dieser sollte die Macht der Monarchen einschränken, die noch absolutistisch regierten. Grundlage des liberalen Verfassungsstaates war die persönliche Freiheit des einzelnen Bürgers sowie die individuelle Entfaltung in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Der Rechtsstaat sollte durch die Achtung
der unveräußerlichen Menschenrechte (z. B. das Recht auf Würde und Unverletzlichkeit
der Person) und die Gewährung von Bürgerrechten (z. B. das Recht auf staatsbürgerliche Gleichheit, Pressefreiheit sowie Vereins-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit) das
Individuum und die Gemeinschaft schützen.
Die Liberalen forderten nicht nur Abwehrrechte, sondern auch einen Verfassungsstaat,
der den Bürgern politische Mitwirkungsrechte ermöglichen sollte. Ein vom Volk gewähltes Parlament mit dem Recht, Gesetze zu verabschieden und den Staatshaushalt zu
beschließen (Gesetzgebungs- und Budgetrecht), sollte die Mitwirkung des Volkes sichern.
Die Gewaltenteilung von Exekutive (Regierung) und Legislative (Volksvertretung) sollte
die überkommene Fürstenherrschaft in eine konstitutionelle Monarchie umwandeln.
Der Liberalismus war vor allem die Ideologie des Besitz- und Bildungsbürgertums. Daher bevorzugten die Liberalen ein Zensuswahlrecht, das an die Steuerleistung gebunden
war. Denn in ihren Augen hatten nur die Besitzenden und Steuerzahlenden die Fähigkeiten, zum Erhalt und Funktionieren des Staates beizutragen.
Die nationalen Ideen entwickelten sich aus dem Wissen um die gemeinsame Geschichte,
Kultur und Sprache („Kulturnation“). Daraus leitete sich schließlich das Streben nach
nationaler Einheit und der Herausbildung eines deutschen Nationalstaates ab. Der
Nationalismus war somit eine Gegenbewegung zum landesfürstlichen Partikularismus,
die nicht zuletzt als Reaktion auf die napoleonische Fremdherrschaft entstanden ist.
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