Prekarisierung sozialer Dienstleistungsberufe: Das Beispiel der medizinischen Fachangestellten Till Kathmann/Irene Dingeldey „Soziale Dienstleistungen. Arbeitspolitik und Arbeitsbedingungen auf dem Prüfstand “ Tagung Arbeitnehmerkammer Bremen/Institut Arbeit und Wirtschaft Bremen, 15./16. Juli 2015 Soziale Dienstleistungen und Prekarisierung o Akteursstrategien beleuchten o Strukturzusammenhang zw. prekären Beschäftigungsbedingungen und Interessensvertretung o Profundes, berufsbezogenes Wissen zur Schutzfunktion von Interessenvertretung herstellen MFA als klassisches, berufsqualifiziertes, weibliches Berufsfeld im Vergleich mit Sozialer Arbeit, d. h. Erzieher und Sozialarbeiter Mixed-method-Studie: qualitative problemzentrierte Interviews mit: 10 MFA, 36 Experteninterviews (Arbeitgeberseite, Arbeitnehmervertreter, Beschäftigte (mit/ohne Betriebsrat) (05/2012 - 06/2014) quantitative Analysen mit SOEP-Daten Forschungsfragen: 1. Wie gestalten sich Sozialstruktur & Arbeitsbedingungen bei MFA? 2. Mit welchen Handlungsstrategien reagieren MFA auf prekäre Beschäftigungsbedingungen? 3. Wie entwickeln sich prekäre Beschäftigungsbedingungen und Institutionen der Interessenvertretung in den untersuchten Berufsfeldern der sozialen Dienstleistungen? 4. Schützen Gewerkschaftsmitgliedschaft und Betriebsrat vor prekären Beschäftigungsbedingungen? MFA: Dynamik im zweitgrößten Berufsfeld in der Gesundheitsbranche Beschäftigungswachstum : 2000: 508.000 → 2010: 562.000 ≙ + 11% fast ausschließlich Frauen 2011: 99,2% Rückgang der Arbeitslosenzahlen: 2001: 30.992 (7,4%) → 2011: 19.168 (3,7%) Rückgang der Ausbildungsanfängerinnen: 2001: 16.257 → 2011: 14.481, aktuell (2012): 14.379 Quelle: IAB 2014 NAV und prekäre Beschäftigungsverhältnisse Hoher Niedriglohnanteil: 36% (2001) → 31% (2011) NAV-Anteil: 45% (2001) → 52% (2011) Niedriglohn im NAV: 41% (2001-05) → 40% (2007-11) Teilzeitquote (2001-05): 41% → (2007-11): 42% Anteil geringfügige Beschäftigung: 7,6% (2001-2005) → 10,7% (2007-11) Befristung & Leiharbeit spielen geringe Rolle bzw. rückläufig → < 3% Quelle: SOEP, versch. Wellen Tarifpolitik und Organisationsrate Verdi nur in Kliniken MFA in Privatpraxen repräsentiert durch VmF, schließt mit AAA Tarifverträge Tarifbindung/-anlehnung: 55% (2000) → 42% (2010) Quelle: LIAB 2014 Tarifsteigerungen zuletzt 4,5% (2013) bzw. 3% (2014) Betriebe mit Betriebsrat: 14% (2001) → 18% (2011) Organisationsrate: 7,14% (2001) → 3,17% (2011) Quelle: SOEP, versch. Wellen Theoretisches Framing: Anwendung von Hirschmans Modell von Exit, Voice & Loyalty Loyalty → MFA akzeptieren Arbeitsbedingungen, verbleiben beim Arbeitgeber Exit → MFA verlassen Arbeitgeber/Berufsfeld Voice → MFA beteiligen sich an kollektiven Interessensvertretungen, verbleiben beim Arbeitgeber Loyalty Arbeitszufriedenheit, wenn individuell gute Arbeitsbedingungen angetroffen „[I]ch für meinen Teil bin zufrieden, weil wir übertariflich bezahlt werden, aber ich kann nachvollziehen, dass es da auch viel Wut gibt“ (Int 8 A 323) oder individuelle, private Kompensation „Aber ich bin einfach zufrieden und ich wohne bei meinen Eltern und (..) Ich will sowieso da nicht länger bleiben“ (Int 4, A 194) Exitoption I: Arbeitgeberwechsel In fast allen Berufsbiographien der Befragten finden sich Arbeitgeberwechsel (mehr als drei): „Also die (...) aus meiner alten Praxis, die sind auch nur in andere Praxen gegangen “ (Int 3 Z. 1049f.) Arbeitsplatzwechsel zur Verbesserung der individuellen Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen: „[V]iele sind weggegangen, weil die einen besseren Job hatten mit mehr Geld“ (Int 2 Z. 1072f) Ermöglicht durch hohe Arbeitsmarktdynamik: „Weil gerade in dem Bereich findet man halt immer wieder etwas“ (Int 3 Z. 1079) Exitoption II: Kindererziehung Familiengründung als Ausweg aus nicht zufriedenstellenden Arbeitsbedingungen „Ich habe immer gehört: Entweder man geht raus aus dem Job so, oder man wird schwanger“ (Int 3 Z. 494ff.) „Also jetzt wo ich beim [Facharztrichtung] gearbeitet habe, die eine, die da gearbeitet hat, die war (..) ich glaube 25 und die versucht tatsächlich schwanger zu werden, weil die aus der Praxis möchte“ (Int 7 Z. 451) Exitoption III: Ausstieg aus dem Beruf Ausstieg aus d. Beruf: Ca. 50 % nach 15 Jahren (Ost: 54,6%; West: 43,6%) → 54,7% nicht mehr sozialversicherungspflichtig, 33,3% berufsfremd beschäftigt, 12% im verwandten Beruf individuell-intrinsische Gründe „Ich will sowieso da nicht länger bleiben. Ich will mich weiterbilden“ (Int 5 Z. 793f.) extrinsisch motivierte (sozialen) Gründe „Also aus der Ausbildung weiß ich, dass fast alle gegangen sind mit denen ich zusammen gearbeitet habe (…) aus zwischenmenschlichen Gründen (…) Weil auch so viele Frauen auf einem Haufen. Das ist auch nicht immer so leicht“ (Int 3 Z. 1031f.) Vorhandensein der Exitoption mildert Eindruck prekärer Beschäftigungsbedingungen Voice als Einstellung zur kollektiven Interessenvertretung „Nee, zu wenig Elan (…) vielleicht weil ich zu wenig darüber weiß, was es mir bringt“ (Int 8, Z. 864 f.) „Also ich weiß nicht, wie die anderen denken, aber bei mir ist das so, dass ist eine zusätzliche Belastung und dann noch diese Beiträge, die man zahlen muss“ (Int 4, Z. 1164) Medizinische Fachangestellte nutzten kaum Voice-Option! VmF: ca. 24.000 Mitglieder → wenig durchsetzungsfähig Quantitative Ergebnisse Generell: Gewerkschaftsmitglieder seltener atypisch, weniger Niedriglohn Beschäftigte in Betrieben mit Betriebsrat: seltener Niedriglohn, aber mehr atypische Beschäftigte (befristet & Zeitarbeit); → Schutz der Stammbelegschaft erhöht Flexibilisierungsstrategien der Arbeitgeber Effekt für MFA und Sozialarbeit weniger deutlich: Hoher Frauenanteil in Teilzeit eher als Teil der Stammbelegschaft Fazit Exit als dominante Handlungsstrategie der MFA → individuelle Kompensation struktureller Verschlechterung v. Beschäftigungsbedingungen Voice spielt kaum eine Rolle bei MFA → Schwäche der Interessenvertretung/stärkt prekäre Arbeitsbedingungen Unterschiedliche Funktion Interessenvertretung schützt vor Niedriglohn aber nicht vor atypischer Beschäftigung Zukunft der Interessenvertretung in sozialen Dienstleistungen: Neue frauenspezifische institutionelle Opportunitätsstrukturen schaffen! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Kontakt: Till Kathmann, [email protected] Irene Dingeldey, [email protected] Publikationen: Till Kathmann/Irene Dingeldey (2014): Handlungsstrategien in einem prekarisierten Beschäftigungssegment. Eine exemplarische Untersuchung der Medizinischen Fachangestellten. ARBEIT 23 (3): 242-255. Dingeldey, Irene/Schröder, Tim/Kathmann, Till (im Erscheinen): Zum Zusammenhang von prekären Beschäftigungsbedingungen und Interessensvertretung im Dienstleistungssektor. In: Industrielle Beziehungen 22 (3)
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