K ö n i g s h e r r s ch a f t D i d a k t i s ch e Ü b e r l e g u n g e n Wie Parzival beim Gral „König zu sein – was bedeutete das im Mittelalter?“ Didaktische Annäherungen an ein schwieriges Thema Von Claudia Tatsch Königsherrschaft als Lehrplanthema Der junge Ritter Parzival im gleichnamigen Epos Wolfram von Eschenbachs versäumt aufgrund seines jugendlichen Alters, der damit verbundenen Unerfahrenheit und Unkenntnis nach den Hintergründen und Zusammenhängen dessen zu fragen, was er in Munsalvaesche, der Burg des Gralskönigs, sieht und erlebt. Dadurch richtet er Schaden auf beiden Seiten an: Die Gralsbewohner und insbesondere der kranke König Amfortas werden nicht erlöst, Parzival selbst wird (vorerst) nicht Gralskönig, wie es eigentlich vom Schicksal vorgesehen war. So drastisch sind die realen Folgen nicht, wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden, die die Lehrpläne zum Thema dieser Praxis Geschichte-Ausgabe folgendermaßen beschreiben: Zum Beispiel: „Schülerinnen und Schüler können typische mittelalterliche Herrschafts- und Gesellschaftsformen (Gottesgnadentum, Lehnswesen und Grundherrschaft) im Mittelalter beschreiben“ (Kompetenzen und Inhalte für Geschichte Klasse 8, Bildungsplan Gymnasium BadenWürttemberg 2004) oder „Schülerinnen und Schüler können die Bedeutung des Mittelalters für die heutige Gesellschaft und Lebenswelt darstellen und einschätzen (6)“ (Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für Geschichte Realschule 2004). Und dennoch stellt sich in der Unterrichtspraxis immer wieder heraus, dass die Schüler – wie Parzival – aufgrund 10 ihres Alters (große) Schwierigkeiten haben, zu verstehen und zu reflektieren, was mittelalterliche Königsherrschaft kennzeichnete, welche politischen, religiösen und rechtlichen Vorstellungen diese konstituierten und welche „praktischen“ oder realen Auswirkungen diese hatte. Zwar gibt es auch heute in Europa monarchische Staatsformen, aber den meisten Schülern, gerade den jüngeren, sind diese nur aus den Medien bekannt. Sie verbinden sie mit Machtsymbolen (Krone, Reichsapfel und Szepter); aber es fällt ihnen schwer, deren reale Macht einzuschätzen (heute und in der Vergangenheit). Vor allem ist es schwierig für die Kinder und Jugendlichen, die Bedingungen der mittelalterlichen Königsherrschaft nachzuvollziehen, die sich im Begriff der „Idoneität“ verbanden und sich aus der Koppelung von sakralem und weltlichem Herrschaftsverständnis ergaben. Handlungsorientierung und Differenzierung Da es den Schülern schwerfällt, die Komplexität des Themas mental zu erfassen oder gar zu durchdringen, muss nicht nur der fachliche und fachwissenschaftliche Anspruch deutlich reduziert werden, sondern es sollten didaktische Zugänge gewählt werden, die ganzheitliche oder differente Lernerfahrungen ermöglichen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass gerade innerhalb der Adressatengruppe, das heißt der Klassenstufen 6 und 7, über die Schularten hinweg erhebliche Entwicklungsunterschiede auftreten, die sich auf Lernverhalten und Lernleistungen der Schüler auswirken. Die vorliegende Ausgabe trägt diesen Anforderungen Rechnung, indem sie zum einen Beiträge mit handlungsorientierten Konzeptionen bietet, zum anderen binnendifferenzierendes Arbeiten ermöglicht. Zu den Erstgenannten gehören die Beiträge „Herrscher gesucht!“ von Arne Borstelmann (S. 18ff. i.d.H.), „Der Königshof: Drehscheibe der Herrschaft“ von Claudia Garnier und Sönke Jaek (S. 24ff. i.d.H.), „Der Fall Wenzel“ von Doris Pfleiderer (S. 36ff. i.d.H.) und Rainer Brieskes „Böser Chlodwig? Gütiger Karl?“ (S. 40ff i.d.H.). Arne Borstelmann geht anhand eines historischen Fallbeispiels der Frage nach, wer im Mittelalter König werden durfte und wer aus welchen Gründen nicht. Claudia Garnier und Sönke Jaek stellen den Königshof in den Mittelpunkt ihres Unterrichtsvorschlags und lassen die Schüler die Anforderungen untersuchen, die sich für den Hof aus dem Reisekönigtum ergaben, sowie die Leistungen der Personen und Ämter, die für dessen „Funktionieren“ sorgten. Doris Pfleiderer fordert in ihrem Beitrag über den „Fall“ König Wenzels die Schüler dazu auf, im Rollenspiel die Argumentation zu rekonstruieren, die zu diesem – im Mittelalter einmaligen – Beispiel einer Königsabsetzung geführt haben könnte. Anhand von Rainer Brieskes Konzept können die Schüler erkennen, dass sich die Erwartungen an einen „guten“ König im (Früh-)Mittelalter veränderten; sie stellen fest, wie sich im Laufe des Mittelalters das Herrscherideal wandelte. Die weiteren Beiträge ermöglichen Binnendifferenzierungen. Carina Zinn-Unsers Beitrag „‚Stufen‘ der Inthronisierung“ (S. 12ff. i.d.H.) legt den Bericht Widukind von Corveys über die Krönung Ottos I. zugrunde und lässt anhand von weiteren Materialien die Schüler in handlungsorientierten und kooperativen Lernmethoden nachspüren, wie eine Königskrönung ablief. Auch Klaus Fieberg und Helge Schöneboom (S. 33ff. i.d.H.) verwenden für ihr Unterrichtskonzept eine zentrale Quelle, nämlich das Krönungsbild Heinrichs II. (auch Farbfolie dieser Ausgabe). Anhand einer genauen Bildanalyse und mit Hilfe handlungsorientierter Methoden erkennen die Schüler, wie Könige im Mittelalter sich und ihren Herrschaftsanspruch „ins rechte Bild“ rückten. Sie vergleichen dies mit heutigen „Regenten“. Jörg Nellens bilingualer Beitrag „Grenzen der englischen Königsherrschaft“ (S. 44ff. i.d.H.) ist der Magna Charta gewidmet, einem Praxis geschichte 1|2011 bis in die Gegenwart hinein bedeutsamen Beispiel von GewaltenTeilung und Gewalten-Fixierung. Während in den anderen Beiträgen Aufgaben formuliert sind, die eine Differenzierung innerhalb der Lerngruppe ermöglichen, zielt dieser Beitrag auf den Einsatz in verschiedenen Jahrgangsstufen und Fachkontexten ab, also auf eine Differenzierung des Adressatenkreises. Deshalb sind Materialien und Aufgaben so zusammengestellt, dass sie im Baukastensystem verwendet werden können. Kompetenzorientierung Alle Beiträge weisen aus, welche Kompetenzen schwerpunktmäßig gefördert werden (siehe Tabelle 2). Jenseits der fachdidaktischen Diskussion um den Nutzen der Kompetenzorientierung will das vorliegende Heft damit den LehTitel herrschaft in abhängigkeiten ‚stufen’ der inthronisierung „herrscher gesucht“ Der Königshof: Drehscheibe der herrschaft „Von gott wird gekrönt der fromme König“ Der „Fall Wenzel“ (1400) Böser chlodwig? gütiger Karl? grenzen der englischen Königsherrschaft Der kranke König Die Königswahl 1292 rerinnen und Lehrern eine Planungshilfe bieten – und zugleich die Möglichkeit, Aufgaben und Materialien über die Grenzen der einzelnen Beiträge hinweg zu kombinieren. ■ ZUr ergÄnZUng Folgende, bereits erschienene Beiträge lassen sich ergänzend zu der aktuellen Ausgabe heranziehen. Sie können diese Beiträge bequem unter Eingabe von „Königsherrschaft im Mittelalter“ in einer Vorschau ansehen und bei Bedarf (kostenpflichtig) downloaden unter: www.westermann-fin.de Knoch, P./Lorenz, s.: Der König besucht eine Pfalz, s. 6–13 schmitz, F.: Die aachener Pfalz. architektur, Funktion und Bedeutung, s. 14–18 süß, g.a.: Versorgung und Wirtschaften auf der Pfalz, s. 19–24 Uhde, e.: Wahl und Umritt Konrads ii. (1024/25), s. 26–28 Wagener, e.: ein reisender in sachen Politik. Das itinerar Karls des großen, s. 30–34 Knoch, P: handwerker und Bauern der Pfalz. arbeit und Leben der „kleinen Leute“ im Mittelalter, s. 35–39 inhalt Wie der mittelalterliche König mit hilfe von hof, Kirche und adel sein reich regierte 6–7 Die Königskrönung in aachen als symbolischer akt geistlicher und weltlicher herrschaft 6–7 eigenschaften und Kriterien für Kandidaten zum Königsamt 6–7 Wie funktionierte die Königsherrschaft? (reisekönigtum) 6–7 Legitimation der Königsherrschaft am Beispiel Mat. 10 – 13 des Krönungsbildes heinrichs ii. 7 Die absetzung König Wenzels iV. erw. 10 – 13 7 Wandel der herrscherbilder in der Frankenzeit 7–8 Die „Magna charta Libertatum“ von 1215 und erw. 10 – 13 ihre Wirkung 10 – 13 amfortas im „Parzival“ und seine realen Leidensgenossen 7–8 Die rolle der Kurfürsten bei der Königswahl Wagener, e.: adel und Königtum, s. 6–13 Jung, N.: chlodwig i. – König der Franken. Beispiel für Begründung und ausbau einer mittelalterlichen herrschaft, s. 14–18 Klöckner, J.: Bruno von Köln, erzbischof und erzherzog. symbolgestalt des ottonischsalischen reichskirchensystems, s. 20–25 Korbmacher, c.: Der investiturstreit. Machtkämpfe und Machtverlagerungen, s. 26–31 seltmann, i.: ein König regiert. Formen königlicher herrschaftsausübung im Mittelalter am Beispiel heinrich Vi., s. 32–35 Kronenberg, M.: „hatte Barbarossa denn nicht einen roten Bart?“ Könige und Kaiser in Bildern ihrer Zeit (919–1250), s. 44–48 Praxis geschichte Heft 2/2006: „religion und Kirche im Mittelalter“ Praxis geschichte Heft 2/1988: „Der König besucht eine Pfalz“ Klasse 10 – 13 Praxis geschichte Heft 1/1990: „adel und Königtum“ Würfel, M.: „Wir sind alle verdoppelt.“ eskalation und spaltung infolge des investiturstreites, s. 18–22 Braisch, i.: Nur ein geistliches schwert für die Kirche? Päpste und weltliche Mächte im 13. Jahrhundert, s. 28–31 Zugriff/Methode Basisbeitrag/sachtext sek. ii autor/seite Karl-heinz spieß, s. 4 – 9 Bild-/textarbeit (kooperativ), „gallery Walk“/szenisches spiel DifferenZierUng text-/Bildarbeit, szenario-technik mit Podiumsdiskussion Karten-, Bild- und textarbeit (kooperativ) DifferenZierUng Bildinterpretation, standbild farBfOLie text- und Kartenarbeit, szenario-technik mit rollenspiel textanalyse und Quellenkritik (kooperativ) DifferenZierUng Bilinguale Bild-/textarbeit DifferenZierUng / BiLingUaL rubrik/sachtext sek. ii carina Zinn-Unser, s. 12 – 17 rubrik/geschichtsrätsel mit Kopiervorlage sek. i Martin Mattheis, s. 52 – 53 arne Borstelmann, s. 18 – 22 claudia garnier/sönke Jaek, s. 24 – 28 Klaus Fieberg/helge schöneboom, s. 33 – 35 Doris Pfleiderer, s. 36 – 39 rainer Brieske, s. 40 – 43 Jörg Nellen, s. 44 – 48 claudia tatsch, s. 50 – 51 Übersicht der Beiträge Beitrags- und Unterrichtsthema „Die ‚stufen’ der inthronisierung“ (Otto i.) „herrscher gesucht!“ – Voraussetzungen für die Königsherrschaft „Der Königshof: Drehscheibe der herrschaft“ – aufgaben und Leistungen des Königshofs „Von gott wird gekrönt der fromme König“ – analyse des Krönungsbilds heinrichs ii. „Der Fall Wenzel” – Die absetzung eines Königs „Böser chlodwig – gütiger Karl?” – herrscherbilder der Frankenzeit „grenzen der englischen Königsherrschaft“ – Die Magna charta Libertatum und ihr Nachwirken fachbezogene Kompetenzen und inhalte anhand verschiedener themenaspekte können die schülerinnen und schüler die Voraussetzungen bzw. Bedingungen für die Wahl und ernennung eines Königs darstellen, den ablauf der Wahl und die Krönung eines Königs beschreiben, das herrschaftsverständnis und den herrschaftsauftrag mittelalterlicher Könige anhand bildlicher (selbst-)Darstellungen aufzeigen, den Wandel des herrscherbildes im Kontext von Mythen des frühen Mittelalters bzw. Frankenreichs erkennen (und kritisch mit der historischen realität vergleichen), die erwartungen an den König von seiten der großen des reichs benennen – und rückschlüsse auf deren selbstverständnis ziehen, die Bedeutung des Königshofs für das Funktionieren der Verwaltung und regierung im Kontext des reisekönigtums bewerten (und zugleich dessen schwierigkeiten bzw. „schwächen“ erkennen). Die schüler können ihre methodischen Kompetenzen erweitern im hinblick auf die erschließung von text- und Bildquellen das Deuten von symbolen und gesten das erschließen von sachtexten die Kartenarbeit das Präsentieren von ergebnissen das Klären und Darstellen historischer sachverhalte. fachübergreifende Kompetenzen Die personalen, sozialen und kommunikativen Kompetenzen der schüler werden gefördert durch rollenspiele (Podiums-)Diskussionen elemente der szenario-technik das arbeiten in gruppen kooperative Lernformen wie z.B. „gallery-Walk“ das erarbeiten und Präsentieren von standbildern Feedback gegenwarts- und epochenbezogene Vergleiche Perspektivwechsel die bilinguale auseinandersetzung mit informationen, Dokumenten und ergebnissen Kompetenzen und Inhalte Praxis geschichte 1|2011 11
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