Übermalte Fresken sind fast noch besser

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Reiseblatt
F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G
Kann ich mal Ihre Wohnung sehen? Melbourne
Übermalte Fresken sind fast noch besser
Text und Fotos von Naomi Schenck
Ich bin genau gegenüber von Berlin. Auf der anderen Seite der Erdkugel, in Melbourne. Melbourne sähe aus wie eine amerikanische Großstadt, hatte ich gehört, von einem Banker aus
ebendieser Stadt, der nach seinem Burnout mit
Mitte dreißig nach Berlin gezogen war und Masseur wurde.
Die Skyline liegt in meinem Rücken, wie auch
der Fluss, die Museen, die Restaurants und die
Menschen. Es ist ein milder Sonntagvormittag,
und ich bin fast allein unterwegs auf der breiten
Straße, die entlang hoher Geschäftshäuser und
eines Parks vom Zentrum fortführt. Die Kamera
habe ich versteckt in der Papiertüte des Delikatessenladens, in dem ich ein Glas Bio-Rhabarber
gekauft habe, das ich jetzt mit mir herumtragen
muss. Meine Schritte sind zügig, als hätte ich ein
Ziel, dabei will ich mich einfach nur bewegen
und dabei möglicherweise in einen meditativen
Trott verfallen.
Irgendwann habe ich Lust auf einen Kaffee,
aber es dauert eine ganze Weile, bis ich an einer
Ausfallstraße im Stadtteil North Fitzroy ein Lokal entdecke, „Pope Joan“, ein Flachdachhaus
mit schwarz gestrichener Fassade, hinter dessen
Fenstern Menschen mit Milchkaffeeschalen an
Holztischen sitzen. Die aufwendig tätowierte
Kellnerin hat mich zu einem Tisch im Gang
nahe den Toiletten geführt, was ich angesichts
der starken Auslastung des Lokals nicht persön-
lich nehme. Neben mir sitzen zwei Männer mit
sympathischen Stimmen, deren Gespräch ich interessiert folge. Es geht um das gemeinsame
Haus, um Renovierung, Ausbau. Der Schlanke
mit der Zahnlücke erklärt, Anhänger von Klarheit und Purismus zu sein, sein Freund, mit
schwarzem Vollbart, unterstellt ihm hingegen
liebevoll ironisch eine Sammelleidenschaft. Was
passiert mit den Sachen aus Afrika, aus San Francisco, aus Kanada? Und muss wirklich in jedem
Zimmer ein Schreibtisch stehen?
Dann verstummt das Gespräch der Männer,
sie wechseln Blicke, während ich betont konzentriert die vor mir aufgeschlagene „Melbourne Times“ studiere und wünschte, meine Haare wären nicht hochgesteckt, sondern würden über
die Ohren fallen, denen zweifellos anzusehen
ist, dass sie ziemlich gespitzt sind.
Der Bärtige hat blaue, irgendwie eckige Augen. Er hält seinen Blick auf mich geheftet, bis
ich aufschauen muss. „Entschuldigung“, sage
ich verlegen, denn die Flucht nach vorne scheint
mir jetzt das einzig Sinnvolle: „Ist Ihr Haus hier
in der Nähe?“
Die beiden Männer heißen Paul und Steve.
Paul, der mit dem Bart, war einmal in Berlin, wo
er an einem Kongress für Lehrer teilgenommen
hat. Steve, der mit der Zahnlücke, findet Merkel
super und meint ihre Flüchtlingspolitik. Es ist
der vierte Monat der syrischen Flüchtlingswelle,
und die australische Regierung, die gerade mal
wieder erneuert wurde – „Different Face, Same
Lies“ stand auf einem haushohen Plakat –, wird
immer kreativer in ihrem Bemühen, Flüchtlinge
abzuschrecken.
Ich erzähle, dass ich Szenenbildnerin bin, und
erfahre, dass das Haus von Paul und Steve zuvor
einem Bühnenbildner gehört hat, der alle Wände mit Trompe-l’Œil italienischer Landschaften
bemalt hat. Auf meine Frage, ob ich es fotografieren dürfe, sagen sie, dass die Bilder fast alle
übermalt seien.
Ein Haus mit übermalten Fresken ist eigentlich noch interessanter, sage ich schnell, während ich an einen Schuh denken muss, der sich
in eine Türöffnung schiebt. Als ich verspreche,
es werde nur fünf Minuten dauern, stimmen die
beiden zu.
Zu dritt überqueren wir die Ausfallstraße und
schlendern in das Wohngebiet gleich dahinter:
einstöckige, hübsche, zum Teil arg verwitterte
Holzhäuser. Manche der Vorgärten sind von Zäunen umgeben, spitz und windschief wie aus einem Dracula-Film, manche sind, wie bei Steve
und Paul, Idyllen mit blühenden Bäumen und
schmalem Kiesweg bis zur Veranda.
Das Haus ist geräumiger, als es von außen
wirkt. Von einem langen Flur gehen Schlaf-, Arbeits- und Bücherzimmer ab, die ich routinemäßig aus zwei Ecken knipse. An einer Wand lehnt
Was soll denn hieran
klar und puristisch sein?
Da hat Paul, das ist der mit
dem Bart, wohl eher recht,
wenn er auf eine allzu ausufernde Sammelleidenschaft verweist.
ein surfbrettgroßes Aborigine-Kunstwerk. Ein
Muster aus Vögeln, Punkten und Streifen, TippEx auf Holz. Der Maler sitzt im Gefängnis.
In dem gelbgestrichenen Wohnzimmer passiert etwas Unerwartetes, das mich in der Bewegung erstarren lässt: Als ich mich zur Seite beuge, um den Radius des Fensters zu verkleinern,
damit das viel zu helle Tageslicht nicht wieder
das ganze Foto überstrahlt, schießt etwas in meinen Rücken, auf Hüfthöhe. Bitte nicht, denke
ich, mein letzter Hexenschuss liegt Jahre zurück,
muss das ausgerechnet jetzt sein?
Auf Steves wiederholte Fragen, ob ich okay
sei, kann ich nicht antworten, da ich alle Kraft
dafür einsetze, die Kamera an ihrem Gurt Richtung Boden abzuseilen, um die Hebelwirkung
des Gewichts loszuwerden, und mit winzigen
Veränderungen auszuloten, inwieweit ich mich
noch bewegen kann, ohne dass meine Wirbelsäule, die aus Glas zu sein scheint, klirrend in sich
zusammenbricht.
Ich liege im gelben Zimmer und betrachte die
beiden Hüte an der Wand, die Steve und Paul aus
Tansania mitgebracht haben. Ich liege im sogenannten Stufenbett: den Rücken flach auf dem
Boden, die Unterschenkel im rechten Winkel
auf einen Stuhl gelegt. Sie haben mich zugedeckt, mir Kissen und Tee gegeben und mich
dann allein gelassen. Paul arbeitet im Nebenzimmer an seiner Dissertation („Empathie in der
Lehre“), Steve ist zum Boxen gegangen. Vorher
hatte er mich auf eine Zeitungsseite von 1943
aufmerksam gemacht, die er beim Renovieren
unter anderen Schichten entdeckt und sorgsam
freigelegt hatte. Da sie gleich über der Fußleiste
beginnt, ist sie aus meiner Perspektive gut zu sehen. Wegen der Altersflecken kann ich nur die
Überschriften entziffern: „Allied Bombing“,
„Roumania Dilemma“, „Nazi War Mystery“. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn ich
träumte von Melbourne als Langspielplatte und
David Bowie, der mir lachend erklärte, dass
B-Seiten oft interessanter seien als A-Seiten.
Als ich aufwache, ist es dunkel. In der Küche
brennt ein Sparlicht über der Abzugshaube. Ich
überlege, ob Melbourner Stille anders klingt als
Berliner Stille. Dann rolle ich langsam auf die
Seite und merke, dass ich aufstehen kann. Vorsichtig wie ein Greis mache ich Schritt für
Schritt. Eine Schreibtischlampe brennt, aber niemand ist da. Vielleicht sind sie im Kino. Es ist
Sonntagabend. Ich hinterlasse den Bio-Rhabarber als Gastgeschenk auf dem Tisch und meine
Berliner Adresse.