SEITE R 6 · D O N N E R S TAG , 2 1 . JA N UA R 2 0 1 6 · NR . 1 7 Reiseblatt F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G Kann ich mal Ihre Wohnung sehen? Melbourne Übermalte Fresken sind fast noch besser Text und Fotos von Naomi Schenck Ich bin genau gegenüber von Berlin. Auf der anderen Seite der Erdkugel, in Melbourne. Melbourne sähe aus wie eine amerikanische Großstadt, hatte ich gehört, von einem Banker aus ebendieser Stadt, der nach seinem Burnout mit Mitte dreißig nach Berlin gezogen war und Masseur wurde. Die Skyline liegt in meinem Rücken, wie auch der Fluss, die Museen, die Restaurants und die Menschen. Es ist ein milder Sonntagvormittag, und ich bin fast allein unterwegs auf der breiten Straße, die entlang hoher Geschäftshäuser und eines Parks vom Zentrum fortführt. Die Kamera habe ich versteckt in der Papiertüte des Delikatessenladens, in dem ich ein Glas Bio-Rhabarber gekauft habe, das ich jetzt mit mir herumtragen muss. Meine Schritte sind zügig, als hätte ich ein Ziel, dabei will ich mich einfach nur bewegen und dabei möglicherweise in einen meditativen Trott verfallen. Irgendwann habe ich Lust auf einen Kaffee, aber es dauert eine ganze Weile, bis ich an einer Ausfallstraße im Stadtteil North Fitzroy ein Lokal entdecke, „Pope Joan“, ein Flachdachhaus mit schwarz gestrichener Fassade, hinter dessen Fenstern Menschen mit Milchkaffeeschalen an Holztischen sitzen. Die aufwendig tätowierte Kellnerin hat mich zu einem Tisch im Gang nahe den Toiletten geführt, was ich angesichts der starken Auslastung des Lokals nicht persön- lich nehme. Neben mir sitzen zwei Männer mit sympathischen Stimmen, deren Gespräch ich interessiert folge. Es geht um das gemeinsame Haus, um Renovierung, Ausbau. Der Schlanke mit der Zahnlücke erklärt, Anhänger von Klarheit und Purismus zu sein, sein Freund, mit schwarzem Vollbart, unterstellt ihm hingegen liebevoll ironisch eine Sammelleidenschaft. Was passiert mit den Sachen aus Afrika, aus San Francisco, aus Kanada? Und muss wirklich in jedem Zimmer ein Schreibtisch stehen? Dann verstummt das Gespräch der Männer, sie wechseln Blicke, während ich betont konzentriert die vor mir aufgeschlagene „Melbourne Times“ studiere und wünschte, meine Haare wären nicht hochgesteckt, sondern würden über die Ohren fallen, denen zweifellos anzusehen ist, dass sie ziemlich gespitzt sind. Der Bärtige hat blaue, irgendwie eckige Augen. Er hält seinen Blick auf mich geheftet, bis ich aufschauen muss. „Entschuldigung“, sage ich verlegen, denn die Flucht nach vorne scheint mir jetzt das einzig Sinnvolle: „Ist Ihr Haus hier in der Nähe?“ Die beiden Männer heißen Paul und Steve. Paul, der mit dem Bart, war einmal in Berlin, wo er an einem Kongress für Lehrer teilgenommen hat. Steve, der mit der Zahnlücke, findet Merkel super und meint ihre Flüchtlingspolitik. Es ist der vierte Monat der syrischen Flüchtlingswelle, und die australische Regierung, die gerade mal wieder erneuert wurde – „Different Face, Same Lies“ stand auf einem haushohen Plakat –, wird immer kreativer in ihrem Bemühen, Flüchtlinge abzuschrecken. Ich erzähle, dass ich Szenenbildnerin bin, und erfahre, dass das Haus von Paul und Steve zuvor einem Bühnenbildner gehört hat, der alle Wände mit Trompe-l’Œil italienischer Landschaften bemalt hat. Auf meine Frage, ob ich es fotografieren dürfe, sagen sie, dass die Bilder fast alle übermalt seien. Ein Haus mit übermalten Fresken ist eigentlich noch interessanter, sage ich schnell, während ich an einen Schuh denken muss, der sich in eine Türöffnung schiebt. Als ich verspreche, es werde nur fünf Minuten dauern, stimmen die beiden zu. Zu dritt überqueren wir die Ausfallstraße und schlendern in das Wohngebiet gleich dahinter: einstöckige, hübsche, zum Teil arg verwitterte Holzhäuser. Manche der Vorgärten sind von Zäunen umgeben, spitz und windschief wie aus einem Dracula-Film, manche sind, wie bei Steve und Paul, Idyllen mit blühenden Bäumen und schmalem Kiesweg bis zur Veranda. Das Haus ist geräumiger, als es von außen wirkt. Von einem langen Flur gehen Schlaf-, Arbeits- und Bücherzimmer ab, die ich routinemäßig aus zwei Ecken knipse. An einer Wand lehnt Was soll denn hieran klar und puristisch sein? Da hat Paul, das ist der mit dem Bart, wohl eher recht, wenn er auf eine allzu ausufernde Sammelleidenschaft verweist. ein surfbrettgroßes Aborigine-Kunstwerk. Ein Muster aus Vögeln, Punkten und Streifen, TippEx auf Holz. Der Maler sitzt im Gefängnis. In dem gelbgestrichenen Wohnzimmer passiert etwas Unerwartetes, das mich in der Bewegung erstarren lässt: Als ich mich zur Seite beuge, um den Radius des Fensters zu verkleinern, damit das viel zu helle Tageslicht nicht wieder das ganze Foto überstrahlt, schießt etwas in meinen Rücken, auf Hüfthöhe. Bitte nicht, denke ich, mein letzter Hexenschuss liegt Jahre zurück, muss das ausgerechnet jetzt sein? Auf Steves wiederholte Fragen, ob ich okay sei, kann ich nicht antworten, da ich alle Kraft dafür einsetze, die Kamera an ihrem Gurt Richtung Boden abzuseilen, um die Hebelwirkung des Gewichts loszuwerden, und mit winzigen Veränderungen auszuloten, inwieweit ich mich noch bewegen kann, ohne dass meine Wirbelsäule, die aus Glas zu sein scheint, klirrend in sich zusammenbricht. Ich liege im gelben Zimmer und betrachte die beiden Hüte an der Wand, die Steve und Paul aus Tansania mitgebracht haben. Ich liege im sogenannten Stufenbett: den Rücken flach auf dem Boden, die Unterschenkel im rechten Winkel auf einen Stuhl gelegt. Sie haben mich zugedeckt, mir Kissen und Tee gegeben und mich dann allein gelassen. Paul arbeitet im Nebenzimmer an seiner Dissertation („Empathie in der Lehre“), Steve ist zum Boxen gegangen. Vorher hatte er mich auf eine Zeitungsseite von 1943 aufmerksam gemacht, die er beim Renovieren unter anderen Schichten entdeckt und sorgsam freigelegt hatte. Da sie gleich über der Fußleiste beginnt, ist sie aus meiner Perspektive gut zu sehen. Wegen der Altersflecken kann ich nur die Überschriften entziffern: „Allied Bombing“, „Roumania Dilemma“, „Nazi War Mystery“. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn ich träumte von Melbourne als Langspielplatte und David Bowie, der mir lachend erklärte, dass B-Seiten oft interessanter seien als A-Seiten. Als ich aufwache, ist es dunkel. In der Küche brennt ein Sparlicht über der Abzugshaube. Ich überlege, ob Melbourner Stille anders klingt als Berliner Stille. Dann rolle ich langsam auf die Seite und merke, dass ich aufstehen kann. Vorsichtig wie ein Greis mache ich Schritt für Schritt. Eine Schreibtischlampe brennt, aber niemand ist da. Vielleicht sind sie im Kino. Es ist Sonntagabend. Ich hinterlasse den Bio-Rhabarber als Gastgeschenk auf dem Tisch und meine Berliner Adresse.
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