Zivilgesellschaft im digitalen Zeitalter

Zivilgesellschaft im digitalen Zeitalter
Irina Spiegel (LMU München)
Vor ca. 2 Jahren hat Edward Snowden der Welt viele handfeste Beweise geliefert, wie
weit die massenhafte Internet-Überwachung in den westlichen Demokratien bereits
gediehen ist, wie stark die Bürgerrechte innerhalb des demokratischen Rechtsstaates
der Staatsräson geopfert werden. Das Internet wurde in seinen Anfängen noch als das
Mittel der direkten Demokratie und breiteren Partizipation, d.h. der Zivilgesellschaft,
euphorisch gefeiert. Dieses Medium hat jedoch in den Händen der Mächtigen und im
Zuge des Kampfes gegen den Terror eine sehr bedrohliche, ja totalitäre Dynamik
entwickelt.
Dennoch ist heute die Mentalität „Ich habe eh nichts zu verbergen“ – immer noch
weitverbreitet. Das Problematische an der Denkweise ist, dass sie den Wert der
Privatsphäre nivelliert. Im Privaten können wir so sein wie wir sind, wir können dort
kreativ sein und neue Denk- und Existenzweisen ausprobieren. Wir verhalten uns
automatisch anders, wenn wir wissen, dass wir beobachtet werden. Es gibt viele
wissenschaftliche Studien, die belegen, dass wir uns unter Beobachtung stark
konformistisch verhalten. Wir werden also in unseren Freiheiten eingeschränkt. Das
ist das eine.
Das andere ist, dass jeder Bürger schlicht ein Recht darauf hat, dass nicht jeder, der
Interesse hat, weiß wie es etwa um seine Gesundheit bestellt ist oder mit wem er sich
wo und wann trifft. Es werden hier massiv Menschen- und Bürgerrechte verletzt.
Dass diese Rechte verletzt werden, ist aber nicht allein ausschlaggebend. Es wird oft
auf solche Rechtsbrüche verwiesen, die dann wieder hingenommen werden, weil
diese Rechte angeblich eh nur Ideale sind. Es muss uns vielmehr durchdringen, dass
wir es aus guten Gründen nicht wollen. Es muss uns bewusst werden, dass sich hier
jetzt eine Lebensform anbahnen könnte, die katastrophal für uns ist und nicht mehr
oder nur noch unter größten Aufwendungen rückgängig gemacht werden kann – ein
Leben in einem digitalen Panoptikum.
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Warum wird also nicht geschlossen und massenhaft dagegen protestiert? Vielleicht,
weil die Gefahr hier immer noch zu abstrakt ist? Dass ein Brief nicht geöffnet und
gelesen und wieder verschlossen werden soll, ist für alle klar. Bürger würden sich
aufregen, wenn sie sähen, dass der Arztbrief von irgendjemandem geöffnet wurde.
Aber das Abschicken von Inhalten ins Netz ist derart abstrakt, dass alles abstrakt
bleibt – auch das „Öffnen“ der digitalen Post. Es muss zu ersten Ausspähungen der
Bürger mit sehr bedrohlichen Folgen kommen, es muss die Gefahr konkret werden,
damit sie wahrgenommen werden kann (z.B. eine Krankenkasse erfährt von einem
Erkrankungsrisiko und verweigert somit einen Versicherungsabschluss).
Das wäre das Standardprinzip, nach dem sich im etablierten System etwas tut. Aber
muss das sein? Kann nicht schon vorher verstanden werden, dass sich eine Gefahr
anbahnt und dementsprechend gehandelt werden? Die etablierte Politik versagt hier
allzu oft. Es müssen neue Spielregeln, d.h. Gesetze her und ein neues Bewusstsein.
Wie und wer kann einen Paradigmenwechsel initiieren? Die gegenwärtigen
Machtträger werden nie auf ihre Macht bzw. nun auch digitale Macht verzichten. Sie
werden stets die Durchsetzung neuer Spielregeln hemmen. Hier ist also die moderne
Zivilgesellschaft herausgefordert.
Was ist Zivilgesellschaft? Jeder Bürger, jeder, der nicht nur aus Profit- bzw.
Parteiinteresse oder aus nationalem Interesse handelt, sondern primär aus
Allgemeinwohlinteresse. Zivilgesellschaft bildet das – mehr oder weniger subversive
– Andere, ein Drittes, das sich gegenüber der Staatspolitik und Wachstumsökonomie
positioniert. Die Zivilgesellschaft von heute ist sehr heterogen. Dennoch lässt sich
hier ein minimaler normativer Grundkonsens ausmachen: Das sind schlicht die
Menschen- und Bürgerrechte.
Im bürgerschaftlichen Engagement kommt insbesondere dasjenige zum Ausdruck,
was Arendt als genuin politisches Handeln bezeichnet hat: die Macht der Bürger,
insofern sie sich zusammentun. Hier kooperieren Bürger aus Sorge um die
gemeinsame Welt. Ein zivilgesellschaftliches Minimal-Engagement lässt sich bereits
in einem auf das Allgemeinwohl ausgerichteten Konsum- und Internetverhalten
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ausmachen.
Ein
Maximal-Engagement
zeigt
sich
insbesondere
in
den
Bürgerinitiativen, politischen Aktionen und NGOs. Das Engagement ist die Chance
eines jeden Bürgers, die von allen geteilte Welt politisch mitzugestalten. Die Bürger
können die konkreten Probleme und Lösungsvorschläge sowie Kritik auf ihre Agenda
setzen und auf diese Weise politische Entwicklungen mitbestimmen. Es ist aber in
einer repräsentativen Parteiendemokratie nicht vorgesehen, dass die Bürger
mitregieren. Den Bürgern wird angeblich die Last des Politischen abgenommen,
natürlich nur mit ihrer jeweiligen Erlaubnis im Vier-Jahres-Takt.
Selbst Habermas hat der Zivilgesellschaft in seinem Modell der Deliberativen
Demokratie nur eine periphere Rolle zugewiesen. Die Zivilgesellschaft und
Öffentlichkeit sollen die Staatsentscheidungen überwachen, Missstände wahrnehmen
und sie diskutieren. Sie sind für Meinungsbildung zuständig, aber für mehr auch
nicht. Habermas hat zwar seine Meinung über die Rolle der Zivilgesellschaft in
Bezug auf die Europapolitik und Griechenlandkrise etwas revidiert, indem er z.B.
sagte: „Bürger müssen über Europa entscheiden.“ Dennoch dominieren bei Habermas
weiterhin das institutionelle Denken. Das Problematische bei Habermas ist, dass er
den zivilgesellschaftlichen Akteuren weiterhin zu wenig zutraut.
Eines seiner Argumente ist, dass die zivilgesellschaftliche Meinung keine politische
Macht bilden kann. Das ist aber mit Hannah Arendt gesprochen schlicht falsch, da es
empirische, d.h. historische Beweise dafür gibt, dass Zivilgesellschaft in
revolutionären Zeiten politische Macht entfalten konnte, zum Beispiel in der
Amerikanischen Revolution im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung der Vereinigten
Staaten von Amerika im 18. Jahrhundert oder in der Ungarischen Revolution von
1956.
Wir können der Zivilgesellschaft also sehr viel zutrauen. Man kann sogar mit Arendt
zuspitzt sagen: Die Macht engagierter Bürger ist der eigentliche Sinn von Politik.
Alle intransparenten Staatsentscheidungen sind gar keine Politik, sondern schlicht
Gewaltausübung bzw. Verwaltung, die so tut, als ob sie Kontrolle hätte. Aber es geht
bei der Politik weniger um Kontrolle und Folgen des Notwendigen, als vielmehr um
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konkrete Problemlösungen. Die etablierte Politik dagegen geht davon aus, dass der
Mensch, also der Politiker, alles lenken kann, wobei er dem Zwang des Notwendigen
unterworfen ist; sie berücksichtigt dabei nicht die Komplexität der Entscheidungen
und des menschlichen Verhaltens. Wir müssen uns daher nach neuen Möglichkeiten
einer funktionierenden Politik umschauen, und der engagierten Zivilgesellschaft
kommt hier eine entscheidende Rolle zu.
Aber gibt es überhaupt eine Alternative zum herkömmlichen Parteienwesen der
repräsentativen Demokratie? Hat nicht die Geschichte endgültig bewiesen, dass die
Parteien und das Repräsentationssystem den Bürgerinitiativen, d.h. der SelbstRepräsentation, überlegen sind? Es scheint so zu sein. Und dennoch hat diese
Alternative immer bestanden. Denn das Parteienwesen ist genauso alt wie die
Bürgerinitiative. Beide sind die Konsequenz der den Revolutionen zugrunde
liegenden Überzeugung, dass alle Bürger Anspruch darauf haben, an den öffentlichen
Angelegenheiten beteiligt zu werden.
Im Gegensatz zu den Parteien entstanden bürgerliche Assoziationen und Initiativen
immer direkt aus der Revolution selbst. Sie waren vom Volke spontan gebildete
Aktions- und Ordnungsorgane. Man muss (wie dies H. Arendt getan hat) die
Geschichte schon genau verfolgen: Selbstorganisierte Bürgerassoziationen haben,
entgegen allen Vorurteilen, nicht per se gesetzlose, radikalisierende und destruktive
Tendenzen. Denn überall wo sie sich mal gebildet haben, haben sie sich um die
Neuordnung des politischen und wirtschaftlichen Lebens auf engste gekümmert. Es
ist nach Arendt die Tragik der Geschichte, dass „der Geist der Revolution – dieser
neue Geist, der zugleich der Geist des Neubeginnens ist – die ihm angemessene
Institution nicht fand.“
Aber das ist kein Beweis dafür, dass es nicht möglich gewesen wäre und nicht
möglich sein wird. Mit ihrer eigentümlichen Ironie bemerkt Arendt hierzu: „Wenn sie
mich aber nun fragen, welche Aussichten er [der Bürgerstaat] hat, realisiert zu
werden, dann muß ich Ihnen sagen: sehr geringe, wenn überhaupt irgendwelche.
Immerhin – vielleicht doch im Zuge der nächsten Revolution.“
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Der entscheidende Vorteil zivilgesellschaftlicher Assoziationen und Bürgerinitiativen
liegt nun darin, dass mit ihnen eine politische Handlungsform ermöglicht wird, in
welcher jeder Bürger wirklich zählt. Die Idee der zukünftigen Organisation des
demokratischen „Bürger- bzw. Rätestaates“ hat Arendt jedoch nicht ausgearbeitet.
Wir müssten diese Möglichkeit heute neu und modifiziert sowie in die digitale Welt
des Internet verlängert denken. Die Macht der Bürger, also die Zivilgesellschaft,
sollte eine neuartige Form von dezentraler Institutionalisierung und Legitimierung
bekommen.
Der erste Schritt wäre, die Bürgerinitiativen wie alle anderen Minderheiten in die
Politik stärker einzubeziehen. Sie müssten ähnlich behandelt werden wie z.B. die
Lobbyisten-Gruppen. Bürgerinitiativen und NGOs könnten sich auf diese Weise als
stärkere politische Macht etablieren, die dann nicht nur anlässlich von
Demonstrationen und zivilem Ungehorsam, sondern ständig präsent wäre. Mit dieser
bürgerlichen
Macht
müssten
dann
die
Politiker
in
den
täglichen
Regierungsgeschäften stets rechnen.
Aber auch die Durchsetzung der Einbeziehung der Bürgerinitiativen in die Politik
muss von den Bürgern selbst ausgehen. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement
wäre vielleicht dann die Art von „Revolution“ im Sinne Hannah Arendts. Nun hat
aber Arendt in den politikverdrossenen Massen den Grund gesehen für die sehr
geringen Aussichten für diesen Systemwechsel, und das ist plausibel. Nicht weil die
momentane, repräsentative Parteiendemokratie in Deutschland die Eigeninitiative
nicht zuließe, sondern weil die Bürger nicht ausreichend von ihrer Macht wissen,
oder zumindest nicht hinreichend viele.
Warum ist das so? Liegt es an der kulturell und historisch bedingten apolitischen
Haltung der Menschen (wie Arendt meinte)? Oder an der unzureichenden Bildung, so
dass die Informationen nicht angemessen verwertet werden können, weil es an
Urteilskraft, also konsistentem und kohärentem Denken mangelt? Oder überfordert
die digitale Informationsflut schlicht – und paralysiert den Bürger? Oder liegt es
vielleicht an der pluralistischen Ignoranz, die darin besteht, sich nicht zu engagieren,
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weil es so viele andere gäbe, die sich engagieren könnten? Oder ist dies vielmehr die
Selbst-Ignoranz, wenn der Bürger denkt, er habe als Einzelwesen keine Macht, auch
nur ein Geringes zu bewirken? Oder liegt es am Kooperationsdilemma, das stets
generiert wird, wenn Menschen interagieren: Vertraue ich dem Gegenüber, er aber
mir nicht, kann es nachteilig für mich ausgehen, wenn ich vertraue und mich
engagiere, die anderen aber nicht? Oder erzeugt es einen zu großen empathischen
Stress, sich damit zu beschäftigen, und die Wahrheit wird verdrängt? Oder ist der
Mensch einfach nur derart sicherheitsbedürftig, dass er denkt: Lieber den Spatz in der
Hand als die Taube auf dem Dach? Die Ursachen werden in der Summe zutreffen, es
gibt also viele Wege, sich nicht zu engagieren, und darauf fußt unsere Gesellschaft.
Das alles ist menschlich, eben allzu menschlich.
Was ist zu tun?
Die Bürger müssen verstehen, dass der Spatz nur vermeintlich sicher in seiner Hand
ist und die Taube nur vermeintlich unsicher auf dem Dach. Die herrschenden
Verhältnisse sind historisch und kulturell bedingt und können daher verändert
werden. (Die modernste wissenschaftliche Anthropologie hat sogar gezeigt, dass der
Mensch ein „empathischer Egoist“ ist, eben kein reiner Egoist.) Dem Menschen, d.h.
dem Bürger muss also sein Potenzial vorgeführt werden, dass er es nutzen kann.
Und es bedarf notwendig einer Prozedur, wie die Einsicht in die bürgerliche Macht
generiert werden könnte. In der Bestimmung dieser Prozedur läge der erste Auftrag
(insbesondere der Wissenschaften). Damit dieses aber erreicht werden kann, müssten
ausreichend viele Bürger bereits engagiert sein. Diese Zirkularität hat bislang dazu
geführt, dass sich unsere Gesellschaft bzw. Demokratie nicht weiter entwickelt.
Scheinbar funktioniert die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation noch nicht. Die
durch das Internet ermöglichte zivilgesellschaftliche Vernetzung ist also lange nicht
ausreichend:
Sie
ist
nur
eine
Grundvoraussetzung
für
einen
politischen
Paradigmenwechsel.
Die zweite Grundvoraussetzung ist die Folgende: Die Selbstorganisation braucht stets
einen Kristallisationspunkt, und dieser ist seit jeher das Individuum, nur dass es für
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dieses nicht ausreicht, ein Minimal-Engagement zu zeigen, sondern es muss im
Bewusstsein gehandelt werden, ein Initiator zu sein, ja sein zu müssen.
Die dritte Grundvoraussetzung ist eine durchdachte und realistische Idee, eine
Alternative zum etablierten System, die von den maximal engagierten Bürgern
vorangetrieben wird.
Diese drei Voraussetzungen zusammengenommen bedeuten, dass wir visionär
denkende und maximal engagierte Menschen brauchen, die das Internet, die digitalen
Möglichkeiten so nutzen, d.h. bereit stellen, dass es mit der Einsicht in die
Interdependenz und der Einfachheit der Vernetzung für jeden Bürger ein leichtes wird
de facto zu einem engagierten Bürger zu werden.
Solange aber die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation einer kritischen Masse
kritischer Bürger noch auf sich warten lässt und eine systematisch durchdachte,
attraktive und anschlussfähige Alternative ausbleibt, gilt es immer wieder deutlich zu
machen, dass das individuelle Verhalten immer auch gesellschaftliche Auswirkungen
hat, heute mehr denn je zuvor. Das Nicht-Handeln ist dann auch ein Handeln, das sich
allzu schnell nichtsozial auswirkt – nicht nur für die Bürger im eigenen Land, sondern
in der ganzen Welt. Die Bürger verfügen als Bürger unweigerlich über Macht und
üben diese auch unweigerlich oder unbewusst aus. Sei es positiv oder negativ, es
zählt jede Stimme, sowohl beim Handeln als auch beim Nicht-Handeln.
Die Macht der Bürger ist das, was die Demokratie eigentlich ausmacht. Es ist eine
zivilgesellschaftliche und zivilisatorische Errungenschaft, sich mit dem Etablierten
nicht begnügen zu müssen und es auch nicht zu dürfen. Wir können eine bessere und
humanere Demokratie nur über eine Weiterentwicklung der Zivilgesellschaft haben.
Die Digitalisierung der Lebenswelt birgt also nicht nur eine Gefahr für unsere
Freiheit (wie am Anfang erwähnt), sondern sie bietet zugleich – und vielleicht das
erste Mal in der Geschichte dermaßen stark – über die Einfachheit der Vernetzung,
d.h. auch des Zusammentuns, eine große zivilgesellschaftliche Chance.
München, 25.06.2015
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