Der offene Raum – Gabriella Bußacker und Jan Bosse zur

Bild: Daniel Richter, „Those who are here again“, 2002 © 2016, ProLitteris, Zurich
Der offene
Raum
Daniel Richter, ein prägender
Künstler seiner Generation,
schafft Werke mit vieldeutigen,
rätselhaften Szenerien. Sein
Werk inspirierte das Regieteam
von „Hexenjagd“.
Für Jan Bosses Inszenierung von Arthur Millers Stück „Hexenjagd“ in der Halle
des Schiffbaus schafft der Bühnenbildner Stéphane Laimé ein Dorf inmitten
einer Lichtung eines Waldes. Die Zuschauer sind eingeladen, am Rande
des Dorfplatzes ihre Sitze einzunehmen, wo sie der zunehmenden Zersetzung
der Gemeinde durch den Verdacht auf Hexerei beiwohnen. Die Dramaturgin
Gabriella Bußacker und ihre Assistentin Irina Müller im Gespräch mit
Jan Bosse über Teilhabe im Theater und den Themenkreis von „Hexenjagd“.
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HEXENJAGD
von Arthur Miller
Arthur Millers Drama „Hexenjagd“
basiert auf wahren Begebenheiten.
Salem, Massachusetts, 1692:
Der Gemeindepfarrer Samuel Parris
überrascht eine Gruppe junger
Mädchen beim Tanzen im Wald.
Man befürchtet, Hexerei sei im Spiel,
weshalb der Exorzist Pastor Hale
ins Dorf gerufen wird. Daraufhin
entwickelt sich eine unkontrollierbare Eigendynamik zwischen
Hysterie, Angst und Denunziation.
Regie Jan Bosse
Mit Ludwig Boettger, Sofia Elena
Borsani, Gottfried Breitfuss, Carolin
Conrad, Jean­-Pierre Cornu, Nils Kahnwald, Hans Kremer, Dagna Litzenberger Vinet, Lisa-Katrina Mayer,
Isabelle Menke, Miriam Morgenstern,
Markus Scheumann, Tatjana Sebben,
Nikola Weisse, Jirka Zett und einem
Mädchenchor (Spielclub)
Premiere 9. Januar, Schiffbau/Halle
Irina Müller – Bei den Produktionen in der
Halle hat der Regisseur die Freiheit, den
ganzen Raum zu gestalten, inklusive der
Zuschauersituation. Zuletzt hast du in der
Schiffbauhalle 2007 „Hamlet“ inszeniert,
eine sehr erfolgreiche Produktion, die auch
zum Berliner Theatertreffen eingeladen
wurde. Ihr habt eine starke Setzung gemacht: Das Publikum nahm an einer höfischen Gesellschaft teil. Jeder hatte seinen
Platz und war eingebunden in die Situation
am Hof …
Jan Bosse – Ja, man sass am Tisch mit den
Mächtigen; man war Teil des Hofstaats. Die
Schauspieler sassen auch alle unter den Zuschauern, inklusive Statisten, die Zuschauer
simuliert haben, die zum Beispiel als Theatertruppe auf die Bühne geholt wurden, was
zwar inszeniert war, aber wie Mitmachtheater mit echten Zuschauern wirkte. Die Basis
war die Idee des Volkstheaters sowie die
Idee, das Publikum zu einem Teil der Inszenierung zu machen, was bei Shakespeare
naheliegt: In der historischen Aufführungspraxis des englischen „Globe Theatre“ ist
die integrale Platzierung des Publikums
schon in der Architektur des Theatergebäudes angelegt. Unser jetziger Ansatz für
„Hexenjagd“ produziert eine ähnliche Situation; es geht um Teilhabe, darum, dass
das Stück naherückt – ein Volkstheaterbegriff als etwas modern Gemeintes, nicht
das Klischee des Begriffs. Was beinhaltet
dieses eigentlich?
Gabriella Bußacker – … derb, vor allem das
Derbe …
JAN BOSSE UND GABRIELLA
BUSSACKER verbindet eine langjährige Zusammenarbeit. Unter
der Intendanz von Tom Stromberg
2000–2005 arbeiteten sie am
Deutschen Schauspielhaus Hamburg miteinander, wo Jan Bosse
als Hausregisseur und Gabriella
Bußacker als Dramaturgin tätig
war. Es folgten viele weitere Inszenierungen für das Burgtheater
in Wien, das Thalia Theater in
Hamburg und das Schauspiel
Stuttgart. Zu ihren gemeinsamen
Produktionen fürs Schauspielhaus
Zürich gehören „Hamlet“ 2007
und „Der zerbrochne Krug“ 2010.
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JB Volkskomödie meine ich natürlich nicht,
sondern ein Theater, welches das Stück so
nah wie möglich ans Publikum heranrückt
und dieses Teil der Erzählung, der Geschichte werden lässt. Das geht nur, wenn
das Publikum eine Rolle innehat, die man
definiert. Das war bei „Der zerbrochne
Krug“ im Pfauen das Gerichtspublikum, bei
„Hamlet“ war das die Hofgesellschaft am
Tisch mit den Mächtigen und hier ist es die
Dorfgemeinschaft.
„Das allererste Stichwort
war ‚Massenhysterie
im Schiffbau‘. Da dachte
ich, ja, das möchte ich
erleben.“ Jan Bosse
GB Die Wahl des Raumes und die damit
verbundenen Möglichkeiten haben durchaus Einfluss auf die Entscheidung für oder
gegen ein Stück. Den „zerbrochnen Krug“
hätten wir ungern in der Halle inszeniert,
dafür brauchten wir die Guckkastenbühne.
Für „Hexenjagd“ wiederum ist der Schiffbau
ideal, da brauchen wir die Raumbühne.
JB Das allererste Stichwort war „Massenhysterie im Schiffbau“. Da dachte ich, ja, das
möchte ich erleben. Reale Massenhysterie
geht natürlich im Theater nicht – denn wenn
eine solche wirklich ausbräche, hätte man
ein Problem. Jetzt nähern wir uns den Themen von „Hexenjagd“, nämlich wie sich eine
Gesellschaft hysterisiert, wie eine Gemeinschaft zerfällt durch einen Virus, der auf seltsame Weise eine Kettenreaktion auslöst.
Eigentlich müssten alle vernünftig genug
sein, diesen Wahn stoppen zu können, der
sich da ausbreitet, sich Bahn bricht. Ich denke
immer mehr, dass medizinische Begriffe dafür passender sind als psychologische.
GB Lass uns nochmal auf das Raumkonzept zurückkommen: Wenn ich Zuschauer
wäre und das Wort „Beteiligung“ höre,
denke ich sofort: „Hilfe, jetzt muss ich da
mitmachen!“ Für das Publikum ist es vielleicht nicht so naheliegend, zu verstehen,
was für uns daran wichtig ist, also was
es bedeutet, wenn der Zuschauer mit im
Raum sitzt: Es ist im wahrsten Sinne die
Setzung für die Inszenierung. Es gibt nicht
diese Trennung zwischen Zuschauern und
Schauspielern. Es ist ein offener Raum, der
spürbar Öffentlichkeit schafft. Die Schauspieler können mir extrem nahekommen,
ich könnte sie berühren, ansprechen.
JB Die Schauspieler werden auch hinter
mir sein, über mir, neben mir. Das hat mit
Mitmachtheater gar nicht viel zu tun; man
schrammt an der Grenze dazu entlang. Es ist
ein grosser Unterschied, ob ich in einem Ses-
sel sitze, auf meinem mehr oder weniger teuren
Platz – es wird dunkel und ich schaue auf einen
Rahmen, in dem Kunst stattfindet, und ich schlafe
ein oder finde es toll – oder ob ich Teil des Bildes,
aber vor allem auch inhaltlich Teil der Story bin.
Und das finde ich aufregend, denn ich glaube,
man erfährt das Geschehen auch am eigenen
Leib – ohne es wirklich erleiden zu müssen. Es
wird deutlicher, dass man gemeint ist, dass es
tatsächlich um mich geht. Bei „Hexenjagd“ könnte
man tatsächlich auch seine Stimme erheben –
GB ... Ich könnte rufen: „Stopp, aufhören! Was
macht ihr denn da?“…
JB– Wieweit bin ich bereit, mitzumachen, gesellschaftliche Entwicklungen zu dulden, die ich
falsch finde? – also all die Fragen, die wir uns
aktuell zunehmend stellen. Und auch wenn das
jetzt moralisch klingt: inwieweit bin ich bereit,
meine Werte zur Disposition zu stellen oder wieweit würde ich gehen, wieweit geht meine Zivilcourage, wie würde ich mich eigentlich in vergleichbaren Situationen entscheiden, was würde
ich tun?
GB Ja, es geht nicht um irgendeine theoretische Debatte unter Philosophen und Soziologen,
sondern wir alle stellen uns momentan genau die
Fragen, die sich das Theater immer stellt: wie leben wir? Und wie wollen wir leben? – Noch einmal zurück zum Stück: Das, was man dort erlebt,
ist eine sehr überschaubare Gemeinschaft, die
mit den Zuschauern zusammen um ein paar Hundert mehr anwächst, ungefähr die Einwohnerzahl
eines Dorfes.
JB Ja, keine Masse, sondern eine Gemeinde.
Das ist das Tolle an dem Stück, dass es „pars pro
toto“ steht, dass es immer um etwas Grösseres
geht. Das ist ein „huis clos“, eine geschlossene
Gesellschaft, eine eingezäunte Gesellschaft, eine
Lichtung im Wald, aber der Wald als letzte Bedrohung ist nochmal mit einem Zaun abgesichert. Das ist eines der Hauptthemen im Stück:
wie man die Grenzen von Freiheit und Sicherheit
immer wieder neu definieren muss. Wie viel Ordnung und Sicherheit brauchen wir? Und was riskieren wir, zu verlieren?
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