Programmheft Faust - Theater am Turm Villingen

Faust
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Frei nach Johann Wolfgang von Goethe
Von Maximilian Holm
Der Autor:
Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28. August 1749 in Frankfurt am Main geboren. Er
studierte Jura in Leipzig und setzte, nach einer lebensbedrohlichen Erkrankung infolge eines
Blutsturzes, sein Studium in Straßburg fort. Hier kam Goethe in Berührung mit dem Fall der
Kindesmörderin Susanna Margaretha Brandt, mit deren Bestarfung zum Tode er sich ab 1770
sowohl theoretisch - zur Erlangung der Anwaltslizenz - als auch literarisch in „Faust“
auseinandersetzte. 1774 erschein sein Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“, der ihn als
Dichter berühmt machte, in dieser Sturm-und-Drang-Phase fallen auch die Werke „Götz von
Berlichingen“, „Stella. Ein Schauspiel für Liebende“ und „Clavigo“.
Auf Einladung des zehn Jahre jüngeren Herzogs Karl August ging Goethe nach Weimar, trat in
den höheren Staatsdienst ein, wurde Geheimrat und 1782 in den Adelsstand erhoben. Auf seiner
durch eine Identitätskrise ausgelösten Italienreise stärkte er sich an den klassischen Idealen und
schrieb an „Iphigenie“ und „Torquato Tasso“. Zurück in Weimar widmete er sich neuen
Aufgaben und leitete ab 1791 das Weimarer Hoftheater, an dem er unter anderem seine
Freundschaft zu Friedrich Schiller künstlerisch auslebte.
Zu „Faust“ fügte Goethe immer wieder neue Szenen hinzu – Hexenküche, Teufelspakt, Ende im
Kerker, Zuneigung, Vorspiel auf dem Theater, Prolog im Himmel – doch erst im Zuge der
Gesamtausgabe 1808 sah er sich veranlasst, „Faust. Der Tragödie erster Teil“ zu einem
druckfertigen Abschluss zu bringen – zuletzt ergänzt um die Walpurgisnacht. In den Jahren
danach widmete er sich autobiographischen Schriften. Zwischen 1825 und 1831 kehrte er zum
Faust-Thema zurück und verfasste, ohne es auf eine Aufführung abzusehen, „Der Tragödie
zweiter Teil“. Dieser wurde einige Monate nach Goethes Tod am 22. März 1832 veröffentlicht
und 1875/76 erstmals aufgeführt.
Das Drama:
Der Wissenschaftler Heinrich Faust zieht eine bittere Bilanz seiner Forschung, Lehre und seines
privaten Lebens, er ergibt sich der Magie und will sich umbringen. Während dieses existenziellen
Aktes entpuppt sich aus Faust der Teufel. Dieser bringt mit seinen Versprechungen von Glück
und Erfüllung die Wende und Faust schließt mit ihm einen Pakt. Verschafft Mephistopheles ihm
einen Augenblick, der ihn sagen ließe: „Verweile doch, du bist so schön“, so willigt Faust in den
Tod ein und würde im Jenseits Mephistos Diener. Solange dient ihm auf Erden Mephisto und
führt ihn an Schauplätze, die Erfüllung verheißen….
Hier endet, die auf vier Akteure zusammengeschnittene und stark gekürzte Originalfassung des
Klassikers „Faust“ und geht in die, in Prosatexten verfasste, Neubearbeitung des Stückes über.
Mephisto führt Faust, anstatt in Auerbachs Keller, auf das Oktoberfest und versucht ihm dort die
irdischen Freuden nahezubringen. Während dieser Szene verschwimmen die Grenzen zwischen
Faust und Mephisto wieder zunehmend, bis sie in der drauffolgenden Verjüngungsszene Fausts
schließlich zu einer mephistophelischen Figur verschmelzen. Dieser, von der Gier und dem Trieb
gesteuerte, Faust stößt auf der Straße auf die 14-jährige Magarete - genannt Gretchen. Sie gefällt
ihm und er verspricht ihr Geld, wenn sie sich mit ihm in einem Hotelzimmer träfe. Das aus armen
Verhältnissen stammende und von Faust faszinierte Mädchen geht auf dieses Angebot ein und
beginnt sich für Faust zu prostituieren. Es entwickelt sich eine Beziehung aus existenziellen
Abhängigkeiten, die mit der Schwangerschaft Gretchens endet. Nachdem Faust keine Erfüllung
mehr in der sexuellen Beziehung zu Gretchen findet, lässt er diese mit dem ungeborenen Kind
alleine zurück. Gretchen treibt daraufhin das Kind ab, verzweifelt an dieser Tat und begeht
schließlich Selbstmord…
Zur Inszenierung:
Die Inszenierung konzentriert sich auf die Psyche, auf das Innenleben und die Abgründe der
Figur Faust. Es geht weniger um die Handlung, als um die Frage, was Faust bei dieser antreibt
bzw. was in ihm vorgeht. So gibt es auf der Bühne keine anderen Charaktere, sondern das Spiel
ist ganz auf seine Person reduziert; er ist nicht nur Faust, sondern zugleich auch Mephisto,
Wagner, Schüler und Gott. Die Handlung dient dabei mehr als Rahmen, als Hintergrund und die
vier Akteure als Sprachrohr für seine innere Polarität, bzw. den inneren Dualismus der
vielschichtigen Figur. Maßgebenden dafür ist vor allem die Verschmelzung von Faust und
Mephistopheles. Dieser ist nicht wie in der Originalfassung eine außenstehende, determinierend
verführende Macht, sondern vielmehr ein Teil, ein Charakterzug Fausts, den dieser ebenso in sich
trägt, wie den göttlichen. Faust vereint in sich die ewige Dialektik des Menschen, den ewigen
Kampf zwischen Gut und Böse, Entstehen und Vergehen, Ordnung und Chaos, Apollon und
Dyonisos, der die Triebfeder alles Lebens, Fortschritts und Strebens darstellt. Es ist der Wettstreit
zweier Seelen, der Dualismus zwischen dem sinnlich treibhaft materiellen und dem geistigtranszendenten Wesen, der Faust innewohnt und umtreibt und der ihn zu einem Repräsentanten
des Menschen an sich macht. So muss man Faust nicht nur als Individuum, als Subjekt, sondern
darüber hinaus als Typus begreifen. Er symbolisiert in seiner unstillbaren Gier nach immer,
immer mehr den modernen – teilweise auch postmodernen- Menschen, der von einem
unbedingten Fortschrittsglauben durchdrungen ist und getrieben von diesem ewigen Streben zu
einem Rastlosen wird. Faust kennt den Begriff der Ruhe, der Harmonie, des Glücks nicht, da ihm
das, in seinen Augen unvollkommene, Hier und Jetzt nie genügt. Sein rastloses Streben gilt der
Vollkommenheit, der endgültigen Harmonie, die er aber gerade durch eben jenes verfehlt. Er
scheitert an den Extremen, die er lebt und empfindet. Erst ist es die radikale Hinwendung zum
Geistigen, Transzendenten, zum Göttlichen und als er in diesem seine Erfüllung nicht findet, die
ebenso radikale Abkehr von eben jenem, hin zum Leiblichen, Materiellen, zum Weltlichen.
Dieser gedankliche Umbruch wird auch durch einen Sprachwechsel von Goethes Knittelvers hin
zu modernerer Prosa deutlich. Faust wendet sich vom Studium der Wissenschaften ab und den,
durch Gretchen verkörperten, weltlichen Genüssen, der Liebe, dem Gefühl, der Lust, der
Betäubung zu. Während Faust die, an das Oktoberfest angelehnte, Szene der irdischen Betäubung
und Glücks noch abstößt, stellt die darauffolgende Verjüngung den endgültigen Wendepunkt
seines Wesens dar. Der Körper, der für Faust zuvor einen Kerker seiner Seele darstellte, der ihn
in seinem Streben hindert, rückt plötzlich in den Mittelpunkt. Das weltlich Materielle verdrängt
das Geistige. Gleichzeitig unterstreicht dieser Akt, der Verjüngung, der Schönheitsoperation aber
auch die Abkehr von Gott. Faust stellt sich in seinem Jugendwahn dem natürlichen Verlauf der
Natur, dem vermeintlich gottgegeben Vergehen des Seins, entgegen und wird an sich selbst zum
Schöpfer. Er glaubt nicht an ein ewiges Leben in einer anderen Dimension und klammert sich
deshalb an seine irdische Existenz, in der Hoffnung, sie so lange als möglich vor dem Vergehen
bewahren zu können. Es ist also auch Fausts existenzielle Angst vor dem Tod, dem, in seinen
Augen, endgültigen Ende, die ihn zu einem Getrieben macht, zu einem Rastlosen, der verzweifelt
versucht auf der Flucht so viele Genüsse zu erhaschen, wie es ihm möglich ist. Dass er sich
seines Scheiterns dabei stets bewusst ist und trotzdem an seinem Handeln nichts ändert, dass er
seinen Niedergang sowie den Niedergang Gretchens wissend in Kauf nimmt, verdeutlicht auch
seine Postmodernität. Faust reißt in seinem Streben nach Erfüllung seine gesamte Umwelt,
bewusst, und doch in seiner Subjektivität, seinen Egoismus blind, in die Abgründe, die sich durch
eben jenes auftun. So ist er, wie er es nennt: „Ein Unmensch ohne Rast und Ruh“, „ein es
treibender Getriebener“, gefangen in einer selbst erschaffenen Welt, die in dieser Inszenierung
durch das Bühnenbild symbolisiert werden soll. Zwar verflucht Faust einerseits diese Welt der
Subjektivität, da sie ihn an der Vollkommenheit, der Gottwerdung hindert, gleichzeitig ist es aber
auch der einzige Raum, in dem er frei ist. In diesem ist er an keine andere Macht gebunden,
sondern vermag es seine Werte aus sich selbst zu schöpfen. In seiner kleinen Welt ist Faust Gott
über sich selbst und alle anderen, die in ihn eindringen. Das wird vor allem an der Figur
Gretchens deutlich. Sie stellt nicht mehr, wie im Original, eine selbstständige Person dar, sondern
ist vielmehr nur noch eine Schaufensterpuppe, ein Spielball, eine Projektionsfläche für Fausts
Fantasie, für seinen Schöpferdrang – was den Gedanken offen lässt, ob sie überhaupt existiert
oder nur ein Traumvorstellung Fausts ist. Denn dieser reduziert sie fast ausschließlich auf ihren
Körper. Für Faust ist Gretchen nicht vielmehr als ein Mittel zum Zweck, ein Objekt, eine Puppe,
an der er seinen Sexualtrieb ausleben und befriedigen kann. Zwar beteuert er sie zu lieben, doch
ist diese Behauptung ebenso egoistisch, wie sein gesamtes Handeln; denn es geht ihm dabei nie
um das Wesen hinter dem Körper, um das junge Mädchen, das aus armen Verhältnissen stammt
und sich größtenteils aus existenziellen Nöten für ihn prostituiert, sondern vielmehr um die Angst
sie, die leibliche Lust und damit seinen neuen Lebenssinn zu verlieren. Im Unterscheid zu
Goethes Klassiker ist Gretchen in dieser Inszenierung aber auch nicht das „rein unschuldig
Ding“. Sie wird nicht von Faust verführt, sondern prostituiert sich, was Goethe nur
unterschwellig andeutet, ganz offensichtlich für Geld, ohne dass Faust sie körperlich dazu zwingt.
Natürlich spielt bei dieser Entscheidung der finanzielle Aspekt eine nicht unwesentliche Rolle,
doch schwingt bei Gretchen auch die Neugier sich sexuell zu erproben und die Faszination für
den älteren, vaterähnlichen und haltversprechenden Mann mit. Diesen Umstand nutzt Faust in
seiner Position schamlos aus. Ihm ist bewusst, dass Gretchen auf sein Geld angewiesen ist und
dass er für sie eine Art Vaterersatz darstellt, ganz zu schweigen davon, dass er sich ihrer
Minderjährigkeit, obwohl sie diese leugnet, bewusst zu sein scheint. Doch ist ihm dieser Umstand
egal. Er nimmt diese und die noch viel größere Schuld an der Abtreibung des Kindes und dem
Selbstmord Gretchens für die Befriedigung seiner unstillbaren Lebensgier wissentlich in Kauf. In
seiner Welt, seiner Subjektivität nimmt Faust das Leiden, die Zerstörung, die er mit seiner
radikalen Lustbefriedigung hinterlässt nicht war, bzw. verdrängt sie. Sein triebhaftes Wesen ist
stärker als das vernünftige. So ist Gretchen Faust, unfähig sich selbst zu äußern, völlig
ausgeliefert. Der Zuschauer erfährt ihr ganzes Schicksal nur aus der Perspektive, dem Munde
Fausts. Nur einmal erhebt Gretchen, während der Walpurgisnacht, ihre Stimme und schreit ihr
ganzes Leid, das Unrecht, das ihr widerfahren ist aus sich heraus. Doch selbst in dieser Szene
wird sie von lauter Musik, von Fausts Drang nach Vergnügen, Lust und Glück übertönt. Der
Zuschauer vernimmt ihre Stimme nicht und muss so weiterhin dem Monolog Fausts glauben. Das
gestaltet auch die Schuldfrage schwierig; Fausts Darlegung ist nicht objektiv, sondern gleicht an
vielen Stellen einer Rechtfertigung, mit der er seine Schuld an der Zerstörung der weiblichen
Existenz aus dem Gedächtnis zu verdrängen sucht. So leugnet er unter anderem sein Gewissen
und beruft sich auf den Umstand, dass eben jenes nur ein Produkt der Prägung, also kein
stichfestes Argument für moralisches Handeln und er selbst ja nur nach seinem natürlichen Trieb
handle und gehandelt habe, also nichts verwerfliches daran sei. Tatsächlich behält in Fausts
Innerem das Streben bis zum Ende die Oberhand und verdrängt die Frage der Schuld symbolisch,
indem sich Faust, nachdem Gretchen Selbstmord begangen und er seine Welt zerstört hat, seine
blutigen Hände in Unschuld wäscht und daraufhin in die Anfangsstellung zurückkehrt. Dem
Zuschauer bietet sich das gleiche Bild, es werden dieselben Worte gesprochen, der Kreis schließt
sich und Faust bleibt in seinem Streben, seiner Gier abermals ungestillt und bereit Welten zu
zerstören, allein zurück.
Es sind vor allem diese Aspekte der unermesslich menschlichen Gier, der Rastlosigkeit in einer
immer schneller werdenden Welt und der Versuch der Betäubung sowie die Frage nach Werten
und Moral, nach dem Sinn der menschlichen Existenz, die das Drama zu einem zeitlosen und
modernen Stück machen. Der Mensch verändert sich nicht. Ecce Homo.
Maximilian Holm