Übung für Nebenfachstudierende Kollektives Arbeitsrecht SS 2015 Fall 2: Je später der Abend… Am Morgen des 11.4.2013 findet eine lange, harte Verhandlungsrunde über den neuen Flächentarifvertrag für die bayerische Zigarettenindustrie ihr Ende. Gunther Gerlach, Leiter der Verhandlungsdelegation und Zweiter Vorsitzender der Gewerkschaft IG SMOG, beschließt, den nahenden Sonnenaufgang mit einem zünftigen Weißbier zu begrüßen. In der Lobby seines Hotels findet er nicht nur das ersehnte Bier, sondern überraschend auch Volkhardt Viereck, den (alleinigen) Vorstand des größten hiesigen Zigarettenproduzenten, der Super-Smoke AG. Die S AG ist das bedeutendste Mitglied des Arbeitgeberverbandes „Südrauch“ und wurde daher (in Person des V) in beratender Funktion zu den Verhandlungen hinzugezogen. G und V lassen die letzten Verhandlungen bei einigen Weißbieren Revue passieren und sind sich einig, dass der Verlauf der Gespräche bestenfalls als zäh bezeichnet werden kann. Daraufhin fordert V den G auf, seine Vorstellungen von einem möglichen Kompromiss „mal mitzuteilen“. G greift sich eine leicht verschmutzte Serviette und schreibt darauf: „Kompromiss vom 11.4.2013: 1. Für alle Beschäftigten 10 Prozent mehr ab 2014. Dafür verlängert sich die Wochenarbeitszeit um eine halbe Stunde. 2. Einmalzahlungen für alle Arbeitnehmer in der Produktion im August und September 2013; jeweils 300 €. 3. Laufzeit bis Dezember 2014.“ Darunter setzt G seine Unterschrift und reicht dem V die Serviette. V schmunzelt nur; weil er aber kein Spielverderber sein und bei dem Spaß mitmachen will, unterschreibt er ebenfalls. G nimmt die Serviette und zeigt sich begeistert: Diese Einigung sei „wegweisend“, er habe Vs Kompromissbereitschaft „stark unterschätzt“. V – der einen so hohen Abschluss niemals akzeptieren würde – wundert sich, dass G den albernen Scherz nicht durchschaut, hält es aber angesichts der fortgeschrittenen Stunde nicht für geboten, dem G die Freude sofort wieder zu verderben. Er sagt deshalb nichts und bestellt stattdessen ein neues Bier. Als G hocherfreut in seinem Hotelzimmer ankommt, um sich vor der nächsten Verhandlungsrunde noch einige wenige Stunden Schlaf zu gönnen, erreicht ihn ein Anruf der Ersten Gewerkschaftsvorsitzenden Elfriede Emmerling. E wollte die Tarifverhandlungen eigentlich selbst leiten, hatte sich dann aber kurzfristig entschlossen, lieber an einem Golfturnier in New York teilzunehmen. E ruft an, um sich den Verlauf der Tarifverhandlungen schildern zu lassen, lässt den G dann aber kaum zu Wort kommen und ergeht sich in Lobeshymnen über ihren bemerkenswerten Dirk Selzer | ZAAR | Destouchesstraße 68 | 80796 München | Tel. 089 – 20 50 88 342 | www.zaar.uni-muenchen.de | [email protected] LUDWIG-MAXIMILIANS-UNI VERSITÄT MÜNCHEN SEITE 2 VON 8 Abschlag an Loch 15. Nach einiger Zeit, in denen E nicht müde wird, ihre herausragenden Fähigkeiten als Golferin zu beschreiben, legt G entnervt auf; zuvor gelingt es ihm in einer kurzen Atempause, die E über die Einigung mit V zu unterrichten – was die E zur Kenntnis nimmt und großmütig billigt. Eine halbe Stunde später erscheint G – völlig übernächtigt und ohne auch nur eine Minute geschlafen zu haben – zu den Verhandlungen mit den Vertretern des Arbeitgeberverbandes Südrauch. Als sich erneut keine Fortschritte abzeichnen, hat G die Nase voll: Er überzeugt seine Kollegen, dass nunmehr um jeden Preis ein Abschluss gelingen müsse. Tatsächlich wird wenig später ein Flächentarifvertrag unterzeichnet, der bei einer Laufzeit von drei Jahren unter anderem eine gestaffelte Lohnerhöhung von insgesamt 1,2 Prozent und eine Einmalzahlung im August 2013 vom 30 € vorsieht. Welchen Betrag muss die S-AG im August 2013 an ihre Arbeitnehmer in der Produktion als tarifliche Einmalzahlung auskehren? Auszug aus der Satzung der IG SMOG: „§ 38 [Vorstand] Der Vorstand besteht aus dem bzw. der Ersten Vorsitzenden, dem bzw. der Zweiten Vorsitzenden, dem Schatzmeister bzw. der Schatzmeisterin und 10 ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedern. […] Der Vorstand vertritt die IG SMOG nach innen und außen. Zur Vertretung befugt sind entweder der bzw. die Erste Vorsitzende, oder der bzw. die Zweite Vorsitzende und der Schatzmeister bzw. die Schatzmeisterin gemeinschaftlich.“ LUDWIG-MAXIMILIANS-UNI VERSITÄT MÜNCHEN SEITE 3 VON 8 Lösung A. Vorüberlegung In welcher Höhe die S AG tarifvertraglich verpflichtet ist, ihren Arbeitnehmern in der Produktion eine Einmalzahlung für den August 2013 zu gewähren, hängt von zwei Fragen ab: Zunächst kommt es darauf an, ob die S AG mit dem „Kompromiss vom 11.4.2013“ eine wirksame tarifvertragliche Verpflichtung eingegangen ist. Andernfalls kann sich eine tarifliche Pflicht nur aus dem Verbandstarif ergeben. Sollte der „Kompromiss“ wirksamer Tarifvertrag sein, hängt die Höhe der geschuldeten Einmalzahlung weiter vom Verhältnis dieses Tarifvertrags zum Verbandstarifvertrag vom 11.4.2013 ab. B. „Kompromiss vom 11.4.2013“ als wirksam geschlossener Tarifvertrag? Tarifverträge werden – wie jeder andere Vertrag auch – durch übereinstimmende Willenserklärungen geschlossen. Überhaupt gilt für den Abschluss des Tarifvertrags grundsätzlich das „gewöhnliche“ Vertragsrecht des BGB. Nötig sind mithin wirksame, übereinstimmende Willenserklärungen tariffähiger Parteien, gerichtet jeweils auf den Abschluss eines Tarifvertrags. I. Tariffähige Parteien Gewerkschaft und S AG (als Einzelarbeitgeber) sind jeweils nach § 2 Abs. 1 TVG tariffähig. Für Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände gelten besondere Anforderungen an die Tariffähigkeit. Junker, Arbeitsrecht, 14. Auflage, Rn. 451-467. hier: an der Tariffähigkeit der IG SMOG zu zweifeln wäre – mangels Hinweisen im SV – (in der Klausur verbotene) Spekulation. II. Tarifwille 1. Grundlagen Ob die Parteien im Einzelfall einen Tarifvertrag schließen wollten, ist durch Auslegung ihrer Erklärungen nach den §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. BAG vom 5.11.1997 – 4 AZR 872/95 – AP Nr. 29 zu § 1 TVG; BAG vom 14.4.2004 – 4 AZR 232/03 – AP Nr. 188 zu § 1 TVG Auslegung; Däubler, TVG, 3. Aufl. (2012), Einleitung H. Rn. 867 f Es kommt daher nicht darauf an, ob die Parteien ihre Vereinbarung gerade als „Tarifvertrag“ bezeichnet haben – die gewählte Bezeichnung ist nicht mehr als ein Indiz. Entscheidend ist vielmehr, ob die (tariffähigen) Parteien – jeweils nach dem objektiv (Empfängerhorizont i.S.d. § 157 BGB!) Erklärten – durch schriftlichen Vertrag einen der in § 1 Abs. 1 TVG enumerativ aufgezählten Gegenstände oder eine Materie, die mit der Tarifautonomie in unmittelbarem sachlichen Zusammenhang steht, regeln wollten (= tariflicher Rechtsbindungswille). Wiedemann, Anm. zu BAG vom 26.1.1983 – 4 AZR 224/80, AP Nr. 20 zu § 1 TVG Davon ist in jedem Falle auszugehen, wenn gerade eine Regelung mit normativer Kraft gewollt war. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNI VERSITÄT MÜNCHEN SEITE 4 VON 8 BAG vom 26.1.1983 – 4 AZR 224/80 – AP Nr. 20 zu § 1 TVG 2. Tariflicher Rechtsbindungswille bei IG SMOG und S AG Den Arbeitnehmer begünstigende Regelungen können die Tarifparteien ohne weiteres auch durch schuldrechtlichen Tarifvertrag regeln – als (echten) Vertrag zugunsten Dritter i.S.d. § 328 BGB; zur schuldrechtlichen Regelung von Arbeitsbedingungen Wiedemann/Thüsing, TVG, 7. Aufl. (2007), § 1 Rn. 25 Für den Willen zur normativen Regelung spricht vorliegend, dass auch eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit zulasten der Arbeitnehmer vorgesehen ist. Dazu bedarf es zwingend einer normativen Tarifregelung – es gilt der Grundsatz: kein schuldrechtlicher Vertrag zulasten Dritter! Jedenfalls: Gewollt war – nach Auslegung der jeweiligen Erklärungen am objektiven Empfängerhorizont – eine Regelung über Entgelt und Arbeitszeit, mithin über den Inhalt von Arbeitsverhältnissen i.S.d. § 1 Abs. 1 TVG. Damit haben sich zwei tariffähige Parteien über einen Gegenstand des § 1 Abs. 1 TVG verständigt. Ergebnis: Tarifwille (+) III. Wirksame Willenserklärung der IG SMOG 1. Exkurs: Rechtsfähigkeit von Gewerkschaften Gewerkschaften sind in aller Regel als Verein i.S.d. §§ 21 ff BGB organisiert. Nach § 21 BGB erlangen sie nur mit der Eintragung in das Vereinsregister Rechtsfähigkeit. Daran fehlt es bei der IG SMOG (nicht: „IG SMOG e.V.“). Gewerkschaften sind aus historischen Gründen häufig als nicht eingetragener Verein organisiert. Auf ihre fehlende Außenrechtsfähigkeit kommt es heute nicht mehr an – weil die (Teil-)Rechtsfähigkeit der Gesellschaft bürgerlichen Rechts gem. §§ 705 ff (und damit – § 54 Satz 1 BGB – auch die des nicht eingetragenen Vereins) inzwischen anerkannt ist. Heute werden daher die §§ 21-79 BGB auf den nicht eingetragenen Verein entsprechend angewendet. 2. Stellvertretung a. Eigene Willenserklärung in fremdem Namen (+) Auch wenn G nicht ausdrücklich „für die IG SMOG“ unterschrieben hat, ergibt sich vorliegend i.S.d. § 164 Abs. 1 Satz 2 BGB aus den Umständen des Vertragsschlusses, dazu MünchKommBGB/Schramm, § 164 Rn. 18 für wen er handeln wollte. b. Vertretungsmacht Die Vertretung der IG SMOG obliegt nach § 26 Abs. 2 BGB dem Vorstand. G gehört dem Vorstand zwar an, seine Vertretungsmacht ist aber i.S.d. § 26 Abs. 2 Satz 2 BGB in der Satzung mit Wirkung gegen Dritte beschränkt. Er war kraft Organstellung nur zur Gesamt-, nicht zur Alleinvertretung befugt. Eine besondere rechtsgeschäftliche Vollmacht wurde dem G nicht übertragen. Eine Anscheins- oder Duldungsvollmacht, die den Abschluss von (Haus- oder Verbands)Tarifverträgen ohne weiteres legitimieren könnte (näher dazu BAG vom 12.12.2007 – 4 AZR 996/06 – AP Nr. 39 zu § 1 TVG), kommt nach dem SV nicht in Betracht. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNI VERSITÄT MÜNCHEN SEITE 5 VON 8 Ergebnis: G gab seine Erklärung als Vertreter ohne Vertretungsmacht ab. Die Wirksamkeit des geschlossenen Vertrags hängt nach § 177 Abs. 1 BGB von der Genehmigung durch die IG SMOG ab. 3. Wirksame Genehmigung durch die Erste Vorsitzende (+) E ist nach § 38 der Gewerkschaftssatzung zum Abschluss von Tarifverträgen berechtigt; daraus folgt auch ihre Berechtigung, einen (schwebend unwirksamen) Tarifvertrag zu genehmigen. MünchKommBGB/Schramm, § 177 Rn. 23 ff; Löwisch, Vertretung ohne Vertretungsmacht beim Abschluss eines Tarifvertrags, BB 1997, 2161 Die Genehmigung bedarf nicht der für das Rechtsgeschäft vorgeschriebenen Form, MünchKommBGB/Schramm, § 182 Rn. 22 konnte mithin wirksam (fern-)mündlich erklärt werden – und zwar (auch) gegenüber dem G (vgl. §§ 177 Abs. 2 Satz 1, 182 Abs. 1 BGB). IV. Wirksame Willenserklärung der S AG 1. Stellvertretung a. Eigene Willenserklärung in fremdem Namen (+) wie unter III.2.a b. Vertretungsmacht V ist als Vorstand organschaftlicher Vertreter der S AG, § 78 Abs. 1 AktG. Die nach § 78 Abs. 2 AktG – vorbehaltlich abweichender Satzungsbestimmungen – geltende Beschränkung auf die Gesamtvertretung durch den Vorstand spielt hier keine Rolle. Neben V gibt es keine anderen Vorstandsmitglieder. 2. Nichtige Scherzerklärung, § 118 BGB eigentlich (+) V hat nur unterschrieben, um sich mit G einen Scherz zu erlauben; er ging davon aus, dass G dies erkennen würde (und wundert sich dementsprechend, dass G die Serviette so ernst nimmt). a. ABER: Anwendbarkeit der §§ 116 ff BGB bei Abschluss eines Tarifvertrages Nicht alle Vorschriften des BGB über den Abschluss von Verträgen sind mit den Vorgaben des Tarifrechts vereinbar. Keinesfalls darf der verborgene oder hypothetische Wille der Tarifparteien den Inhalt von Rechtsnormen bestimmen: Unanwendbar sind insbesondere die §§ 154 Abs. 1 Satz 2, 155 BGB und die falsa-demonstratio-Regel. Löwisch/Rieble, TVG, 3. Auflage, § 1 Rn. 1337 Mit Blick auf den schuldrechtlichen Teil der Tarifverträge lässt sich eine großzügigere Anwendung der Regeln des BGB rechtfertigen. Erhebliche Bedenken bestehen auch bei Anwendung der Regeln über Willensmängel. Die Tarifparteien sind im Interesse der Normunterworfenen zu besonderer Sorgfalt bei den Vertragsverhandlungen verpflichtet. Wiedemann/Thüsing, § 1 Rn. 327 will die §§ 116 ff BGB daher nicht anwenden; Löwisch/Rieble, § 1 Rn. 1337 wollen die Regeln über Willensmängel hingegen anwenden – vor allem die Anfechtung nach den §§ 119 ff BGB. LUDWIG-MAXIMILIANS-UNI VERSITÄT MÜNCHEN SEITE 6 VON 8 ACHTUNG: auch wenn man die Anfechtung von Tarifverträgen zulässt, kann doch zumindest die Rückwirkung nach § 142 Abs. 1 BGB keinesfalls gelten b. (Gegebenenfalls hilfsweise:) Gültige Erklärung bei Anwendung der §§ 116 ff BGB [1] Irrelevant: Mangelnde Erkennbarkeit des Scherzes § 118 BGB setzt gerade nicht voraus, dass sich die „mangelnde Ernsthaftigkeit“ aus den Umständen erkennen lässt. Die Norm wäre sonst überflüssig – weil dann nach den §§ 133, 157 BGB ohnehin nicht von einer Willenserklärung auszugehen wäre. MünchKommBGB/Kramer, § 118 Rn. 6; Staudinger/Singer, BGB (2011), § 118 Rn. 3 [2] „Böser Scherz“ Erkennt der Erklärende jedoch, dass seine Erklärung entgegen seiner Erwartung ernst genommen wird, so ist er nach Treu und Glauben zu sofortiger Aufklärung verpflichtet. Sonst wird aus dem „guten Scherz“ ein „böser Scherz“, bei dem gem. § 116 S. 1 BGB die Willenserklärung voll wirksam ist. hM, Medicus, BGB AT, 10. Aufl. (2010), Rn. 604; MünchKommBGB/Kramer, § 118 Rn. 10, § 116 Rn. 8; aA Staudinger/Singer, § 118 Rn. 8: Haftung auf das negative Interesse hier: V erkennt hier, dass G die Einigung ernst nimmt – hält es aber nicht für geboten, ihn darüber aufzuklären, dass es sich nur um einen „albernen Scherz“ handeln sollte; seine Willenserklärung ist daher wirksam. c. Ergebnis Auf die Anwendbarkeit der §§ 116 ff BGB kommt es nicht entscheidend an – in jedem Falle gilt die von V abgegebene Erklärung. V. Schriftform, § 1 Abs. 2 TVG Tarifverträge bedürfen der Schriftform i.S.d. § 126 BGB, vor allem der Unterschrift beider Parteien. Keine Rolle spielt hingegen, aus welchem Material die unterzeichnete Urkunde besteht. Die Serviette reicht aus. Staudinger/Hertel, § 126 Rn. 110 VI. Ergebnis: der „Kompromiss vom 11.4.2013“ ist wirksamer Haustarifvertrag zwischen der IG SMOG und der S AG C. Verhältnis von Flächen- und Haustarif I. Vorüberlegung Ist der „Kompromiss“ richtigerweise als Haustarifvertrag einzustufen, ergeben sich für die Höhe der Verpflichtung der S AG drei unterschiedliche Möglichkeiten: Einmalzahlung von 330 € (= 300 € aus dem Haustarif + 30 € aus dem Flächentarif), Einmalzahlung von 30 € oder Einmalzahlung von 300 €. II. Kollision normativer Tarifbestimmungen 1. Ausgangspunkt LUDWIG-MAXIMILIANS-UNI VERSITÄT MÜNCHEN SEITE 7 VON 8 Weil normative Tarifverträge direkt auf das individuelle Arbeitsverhältnis einwirken, ergeben sich Kollisionsprobleme, wenn zwei unterschiedliche Tarifverträge mit (unterschiedlichen) normativen Bestimmungen auf dasselbe Arbeitsverhältnis zugreifen wollen. Im individuellen Arbeitsverhältnis aber darf ein einheitlicher Regelungsgegenstand nicht in sich widersprüchlich geregelt sein. Statt aller Däubler/Zwanziger, 3. Auflage 2012, § 4 Rn. 925 Zur Tarifkollision, vor allem zur Abgrenzung von Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, Junker, Arbeitsrecht, 14. Auflage, Rn. 567 ff. Ergebnis: 2. Die erste Variante (Einmalzahlung von 330 €) scheidet aus. Ablösungsprinzip als „Zeitkollisionsregel“ Der spätere Tarifvertrag löst den früheren ab. Die Ablösung beseitigt den älteren Tarifvertrag, dieser wird ex nunc unwirksam. BAG vom 30.1.1985 – 4 AZR 117/83 – AP Nr. 9 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; Wiedemann/Wank, § 4 Rn. 261; Däubler/Zwanziger, § 4 Rn. 922 Insoweit ist KEIN Günstigkeitsvergleich vorzunehmen, gegen eine rückwirkende Verschlechterung genießen die Arbeitnehmer aber Vertrauensschutz. ABER: Ablösen kann nur der spätere Tarifvertrag derselben Tarifparteien; keinesfalls kommt die Ablösung des Flächentarifvertrags durch den Firmentarifvertrag in Betracht. 3. Tarifkonkurrenz Das Rangverhältnis bei Konkurrenz widersprüchlicher Normen unterschiedlicher Normgeber richtet sich nach den Grundsätzen der „Tarifkonkurrenz“. Dabei kommen verschiedene Ansätze in Betracht: a. Günstigkeitsprinzip Den „besten“ Tarifvertrag anzuwenden B. Müller, Tarifkonkurrenz und Tarifpluralität, NZA 1989, 449, 452 für den Sonderfall der Tarifkonkurrenz durch Doppelverbandsmitgliedschaft ist keine Lösung. § 4 Abs. 3 TVG kennt den Günstigkeitsvergleich nur zwischen Regelungen auf unterschiedlichen Ebenen, nicht aber zwischen Regelwerken derselben Ebene. BAG vom 20.3.1991 – 4 AZR 455/90 – AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz unter B.II.5. der Gründe; Däubler/Zwanziger, § 4 Rn. 927 Ohnehin kann der „bessere“ Vertrag nicht ermittelt werden: Der Einzelvergleich (unzulässiges „Rosinenpicken“) und der Gesamtvergleich („Äpfel mit Birnen“) scheiden aus. In Betracht käme allenfalls der Sachgruppenvergleich (Vergleich jeweils der Positionen, die in einem inneren Zusammenhang stehen); hierzu Junker, Arbeitsrecht, 14. Auflage, Rn. 526 ff indes ist der Tarifvertrag ein Gesamtkompromiss, der durch den Vergleich nach Sachgruppen nicht auseinander gerissen werden darf. b. Wahlrecht der betroffenen Arbeitnehmer Ein Wahlrecht der Arbeitnehmer, LUDWIG-MAXIMILIANS-UNI VERSITÄT MÜNCHEN SEITE 8 VON 8 Jacobs, Tarifeinheit und Tarifkonkurrenz (1999), S. 275 f; Etzel, Tarifordnung und Arbeitsvertrag, NZA 1987 Beilage 1, 19, 19 f läuft im Ergebnis auf den unzulässigen Günstigkeitsvergleich (hierzu unter a.) hinaus. Wiedemann/Wank, § 4 Rn. 299e c. Mehrheitsprinzip Führt jedenfalls im vorliegenden Fall nicht weiter, da beide Tarifverträge für gleich viele Arbeitsverhältnisse gelten. d. BAG/hM: Spezialitätsprinzip Rechtsprechung und ganz herrschende Auffassung in der Literatur wollen den vorrangigen Tarifvertrag daher nach dem Spezialitätsprinzip ermitteln. Dabei soll der Tarifvertrag spezieller sein, der dem jeweiligen Betrieb betrieblich, fachlich, räumlich und persönlich am nächsten steht. Ständige Rechtsprechung, etwa BAG vom 14.6.1989 – 4 AZR 200/89 – AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz m. Anm. Wiedemann/Arnold; vom 26.1.1994 – 10 AZR 611/92 – AP Nr. 22 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz und vom 23.3.2005 – 4 AZR 203/04 – AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz m. Anm. Waas; zustimmend Wiedemann/Wank, § 4 Rn. 297 f; Jacobs/Krause/Oetker, § 7 Rn. 212 ff Kritik: Das Spezialitätsprinzip taugt nur dazu, das Rangverhältnis zwischen Normen desselben Normgebers zu bestimmen. Zwischen den Tarifverträgen verschiedener Vertragspartner gibt es kein „Spezialitätsverhältnis“, vielmehr ist ein Vorrang in der Normsetzungskompetenz zu bestimmen. Richtig ist aber, dass im Ergebnis die „sachnäheren“ Tarifparteien Vorrang genießen müssen – weil deren Normsetzungskompetenz (= gemeinsame Tarifzuständigkeit) einen stärkeren Bezug zu den Arbeitsverhältnissen und den betrieblichen Rechtsverhältnissen aufweist. Im Ergebnis geht jedenfalls der (speziellere) Haustarif dem Flächentarif vor – und zwar auch dann, wenn der Firmentarifvertrag die Arbeitnehmer stärker belastet (Stichwort: „Sanierungstarifvertrag“). Ein Günstigkeitsvergleich kommt nicht in Betracht. BAG vom 4.4.2001 – 4 AZR 237/00 – NZA 2001, 1085; BAG vom 23.3.2005 – 4 AZR 203/04 – AP Nr. 29 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; eingehend Rieble, Tarifvertrag und Beschäftigung, ZfA 2004, 1, 18 f. Der nachrangige Tarifvertrag wird weder aufgehoben, noch sonst unwirksam – sondern nur „verdrängt“. Rechtsfolge ist ein „Anwendungsvorrang“. e. Ergebnis Egal wie man die „Spezialität“ eines Tarifvertrags bestimmen will, geht im Rahmen der Tarifkonkurrenz stets der Haustarifvertrag dem Verbandstarifvertrag vor. III. Ergebnis: auszuzahlen ist eine Einmalzahlung i.H.v. 300 €
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