Täglich in die und aus der Taufe kriechen Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis Gottesdienst mit Feier der heiligen Taufe Helene Marie Daiber Evangelische Bergkirche Wiesbaden 6.9.2015 Von Martin Luther erzählt man sich, dass er, wenn er sich ungeborgen, unverstanden, entmutigt, von Gott und allen Geistern verlassen fühlte, das Wort „bapizatus sum“, zu deutsch: „Ich bin getauft“ mit Kreide auf den Tisch schrieb und sich sogleich getröstet erhoben habe. Eigenartig, dass er sich von einem so äußeren Ereignis, an das er sich noch nicht einmal erinnern konnte - er wurde unmittelbar nach seiner Geburt am 11. November 1483 getauft - dass er sich also von einem Ereignis, an das er sich noch nicht einmal erinnern konnte, Trost erhoffte und Ermutigung empfing. Dass dem so war, ruft uns selbst, die wir einst getauft wurden und ruft das Kind auf den Plan, das heute getauft wird. Ziehen wir aus unserer Taufe Trost oder Ermutigung? Bewirkt die Erinnerung daran, dass wir getauft sind, denn das ist eine nachvollziehbare, uns erzählte und in Bildern dokumentierte Tatsache, bewirkt diese – sagen wir besser – Vergewisserung, dass wir uns getröstet, geborgen, bejaht und beschützt fühlen? Wird Helene sich einst, wenn sie sich angefochten, unverstanden, ungeborgen fühlen wird – davor bewahrt die Taufe nicht – wird sie sich dann ihrer Taufe erinnern und daraus Trost, Ermutigung und ein Gefühl von Geborgenheit ziehen, von dem Sie, liebe Viola, lieber Jonas sich wünschen, dass es sie lebenslang trage? Luther erläutert seine Tauffrömmigkeit, indem er zu wissen gibt, dass es dem Christenmenschen anstehe „täglich in die Taufe und aus ihr heraus zu kriechen“. In etwas hineinkriechen kann meinen, dass die Seele, wenn sie nicht mehr aufrecht gehen kann, wenn sie müde geworden und angefochten ist, wenn sie sich in der Ungeborgenheit der täglichen Auseinandersetzung und der geforderten Selbstbehauptung schutzlos ausgeliefert fühlt, dass sie sich dann hineinkriecht in einen wie auch immer gearteten Schutzraum. Einen Raum, in dem ich mich geborgen weiß, in dem ich bar jeder Leistung und Selbstbehauptung Sicherheit und Schutz, wirkliche Bejahung meiner selbst erfahre. Einen solchen Raum eröffnen Sie Ihrer Tochter. Sie gaben mir zu verstehen, dass sie sich in größeren Zusammenhängen weniger wohl fühle. Sie weiß sich bei Ihnen geborgen. Sie weiß sich von Ihnen angenommen. Sie weiß sich bei Ihnen bejaht. Wie einst Jesus von Nazareth, der die innere Erfahrung machte, dass der Vater ihn ganz und gar als seinen geliebten Sohn angenommen hatte. Diese Erfahrung sprechen Sie Ihrer Tochter zu, wenn Sie ihr nicht nur zukommen lassen, was sie zum Leben braucht, sondern ihr immer und immer wieder sagen und sagen werden: „Du bist unsere geliebte Tochter!“ Ein solches Wort schafft Raum, in den man sich bergen kann. Nicht nur, aber insonderheit, wenn man sich ungeborgen fühlt. Erwachsen geworden flüchten wir uns hin und wieder in solche erinnerten Räume. Es ist als kämen wir nach Hause, wo wir sein dürfen, die wir waren und sind. So stelle ich mir vor, dass Luther bei dem Wissen um seine Taufe Zuflucht suchte. Gott eröffnet in der Taufe einen Raum, in den wir kriechen, wenn Sie wollen auch zurückkriechen können, wenn wir ohne Ort sind. In einen Raum, in dem wir uns jenseits jeder Leistung angenommen und selbst gegen uns selbst bejaht fühlen dürfen. Ein wenig ist diese Rückkehr oder Einkehr, ist das „In-dieTaufe-Kriechen“ eine Rückkehr in unsere innerste Mitte, die Gott uns inwendig eröffnet, die er wachsen lässt, die die Färbung eines Zutrauens zu uns selbst gewinnt. Und zwar eines Zutrauens nicht zu unserer Leistungsfähigkeit, sondern zu unserem Selbst-Wert, den wir vor und jenseits jeder Leistung für IHN und vor uns haben. Das meint das reformatorische „sola gratia“ / „aus reiner Gnade“! Wir taufen Helene im Kleinstkindalter und sind überwiegend im Kleinstkindalter getauft. Warum? Um darzustellen, dass Gott sie und uns längst vor aller Leistung angenommen hat. Sie soll sich, wir sollen uns nicht rechtfertigen müssen: nicht für unser Da-Sein und nicht für unser So-Sein. Nicht vor uns selbst, nicht vor anderen, nicht mittels dieser und jener Fertigkeit. Wir sind längst gerechtfertigt von und vor IHM, vor uns und voreinander. Das ist und schafft Geborgenheit – jenseits jeder (Vor-)Leistung. Sie, Viola und Jonas, fühlen sich dadurch entlastet, dass nicht sie allein, sondern Gott (mit und hin und wieder auch durch Sie) Helene diese innere Gewissheit zuspricht und sie wirkt. Sie dürfen also getrost einen Großteil der Verantwortung, die Sie für Ihre Tochter wahrnehmen an IHN abgeben. Nicht leichtfertig, aber eben doch letzten Endes. Er macht, dass sie sich macht. Auch Menschen, die füreinander viel sind und möglicherweise zu viel sein wollen, dürfen sich darin getröstet und entlastet fühlen, dass Gott mittels ihrer und jenseits ihrer den Geliebten, die Geliebte trägt und – wo er, wo sie den Geliebten, die Geliebte nicht halten kann - im Inneren hält. Nunn will uns Luther mit dem „In-die-Taufe-Kriechen“ nicht dazu anhalten uns in der Taufe zu ver-kriechen. Wenn der von Ihnen gewählte Taufspruch bekennt: „Von allen Seiten umgibst Du mich“, meint der Psalmist nicht, dass Gott ihn derart umgebe, dass er umschlossen im Sinne von gefangen sei. So als ob er nur in diesem Schutzraum lebensfähig wäre. Er meint viel mehr, dass Gott ihn in allen möglichen Situationen, vor denen keiner bewahrt wird, gar noch in den unmöglichen oder nicht für möglich gehaltenen Situationen umgibt und stützt. Ich würde noch lieber sagen umweht. Wir empfingen, Helene empfängt in der Taufe Gottes Geist, der sich nicht aufdrängt, der nicht einengt, der eher leise und doch kraftvoll, der eher zärtlich und immer behutsam daherkommt, der eher innerlich als äußerlich wirkt, der in ihr, in uns zu uns spricht, uns ermutigt, uns begeistert statt uns ent-geistert zurückzulassen. Gott ist nicht im Gewitter und im Sturm, sondern im leisen Säuseln. Sehen Sie für einen Augenblick auf die Titelseite des Liedblattes. Picasso hat dieses in der Taufe zum Ausdruck gebrachte Wirken Gottes in seiner Geist-Darstellung wunderbar auf die Leinwand gebracht. Nur ein paar Striche und doch so aussagekräftigt. Ich sehe die erwachsene Helene von Gottes Geist umspielt. Er hält ihr und uns den Lebenszweig entgegen, den Gott uns – wie einst Noach - in der Taufe unsichtbar reichte und der uns singen macht: „Du bist die Wurzel des Glücks. Du vertreibst den Tod. Du bist mein grüner Zweig“. Mit Ihm wird sie kraft des Todes und der Auferstehung Christi noch jenseits des Todes auf „einen grünen Zweig kommen“. Das ist meine Vision für sie: dass der Geist in Gestalt einer Taube mit ihr gewachsen sie beflügle. Zur Liebe. Zum Leben. Zur Seligkeit. Dass dieser Geist sich verbinde mit ihrem Geist. Dieser Geist engt nicht ein. Zu enge Räume tun uns nicht gut. Wir brauchen Frei-Räume. Kinder brauchen keine Eltern, die sie ängstlich und im Sinne eines Overprotecting oder eines weit verbreiteten Helicoptering vor den Gefahren des Lebens bewahren wollen. Eine solche – Entschuldigung – Affenliebe erdrückt. Sie erdrückt nicht nur Kinder, sondern Partnerinnen und Partner jedweder Provenienz. Wir brauchen Räume, aus denen wir treten – mit Luther “kriechen“ – dürfen. Räume, die uns bergen und uns zugleich ermutigt entlassen. In die Freiheit eines Christenmenschen, der selbstbewußt, selbstbestimmt, kämpferisch, leidenschaftlich, freiheitsliebend daherkommt. Die Taufe macht uns nicht zu Kriechern, sondern eröffnet uns die Möglichkeit herauszukriechen und uns aufzurichten. Sie stärkt und bricht nicht unser Rückgrat. Der Geist Gottes will uns ermutigen aus der Taufe zu kriechen statt uns in ihr zu verkriechen. Die Dynamik des Lebens setzt diesen Prozess schon in unserer Geburt in Gang, da wir aus dem bergenden Mutterleib entlassen eigenständigem Leben entgegengehen- oder krabbeln, - oder robben. Die Taufe ermutigt zum Leben. „Täglich neu den alten Adam ersäufen“, so Luther, heißt unsere Ängste, unser verlorenes Zutrauen, unsere Zweifel, unsere Selbstanklage, unsere Bosheit, das, was uns am Leben hindert in der Taufe ersäufen und aus der Gewissheit unserer Taufe als neue Menschen auf den Plan treten, innere und äußere Kämpfe bestehen, sich befreit fühlen zu sich selbst, zu einer Meinung, zu einem Engagement, zu politischem Handeln, zu einer Haltung und zum eigenen Da-Sein. Das meint „Aus-der-Taufe-kriechen“. Sich nicht ver-kriechen, sondern sich einmischen, sich erneuern, die Welt erneuern helfen, sich in eine Gesellschaft einbringen. Letzten Endes heißt „Aus-derTaufe-Kriechen“ jenseits der Versuchung sich wo auch immer- möglicherweise im eigenen Selbst - zu verkriechen – einen Menschen lieben lernen. Das schönste Taufgeschenk, das wir Helene machen könnten, wäre: heute und täglich „in die Taufe und aus ihr zu kriechen“. Sie nicht zu reduzieren auf ein bürgerliches Ritual, sondern zu einem Lebensprinzip zu erheben, das sich dem Gott verdankt, der Helene und mit ihr aufs Neue uns ruft in die „Kirche der Freiheit“. In diesem Sinne lasse ich noch einmal Luther das Wort: „Ein christlich Leben ist nichts anderes als eine tägliche Taufe, einmal angefangen und immer darin gegangen.“ Die Taufe „stärkt täglich den neuen Menschen“, sie „dauert und bleibt“. Darum „soll ein jeglicher die Taufe als sein täglich Kleid halten, darin er immerdar gehen soll.“ Amen
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