Exposé für Promotionsvorhaben Maurice Schuhmann: Zur Aktualität der Individualitätskonzepte von Friedrich Nietzsche, Marquis de Sade und Max Stirner Wie kein anderer Denker seiner Zeit hat Friedrich Nietzsche die Philosophie der Moderne geprägt und viele maßgebliche Impulse für die laufenden Diskurse der Spät- bzw. Postmoderne geliefert. In den vergangenen hundert Jahren hat es eine breite, Fakultäten übergreifende und bis heute ungebrochen anhaltende vielschichtige Rezeption seines Werkes gegeben. Die aktuellen Diskussionen der akademischen Philosophie zehren z.T. immer noch von dem Erbe des schwer verdaulichen “Dichterphilosophen”, dessen Philosophie sich um die Frage nach dem souveränen Individuum – u.a. in Form des “Genies”, des “großen Menschen” und des “Übermenschen” – und dem Verhältnis von Individualität und Gesellschaft gruppiert. Neben ihm waren es lediglich der französische Schriftsteller Marquis de Sade (1740-1814) und der deutsche Junghegelianer Max Stirner (1806-1856), die in ähnlich radikaler Weise die Idee von “Individualität” in den Vordergrund ihrer Philosophie gestellt und darauf aufbauend eine existenzialistische Philosophie des Individualismus entworfen haben. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Werke der drei Denker sehr gut als Gedankenexperimente bezüglich der Individualisierung einer Gesellschaft sowie der sich daraus ergebenden Anforderungen an das einzelne Individuum nutzbar machen. In ihrer karikaturhaft überzeichneten Art bieten sie einen geschärften Blickwinkel auf die Entwicklungen einer individualisierten Gesellschaft und loten sowohl deren Gefahren als auch Potentiale dieser aus. Die von ihnen häufig nur sehr skizzenhaft ausgearbeiteten Gedankengebäude weisen in vielen Aspekten Überschneidungen zu den aktuellen, seit den 80er Jahren in den sozialwissenschaftlichen Diskursen über Individualisierungstendenzen der westlichen Gesellschaften schwellenden Analysen auf – allerdings werden sie von diesen aber bislang nicht zu Rate gezogen. In dieser interdisziplinär angelegten Arbeit geht es daher darum, die in genauer Analyse ausgewählter Texte der drei Denker gewonnenen Erkenntnisse über die Chancen, Risiken und Anforderungen eines radikalen Individualismus für das Individuum als auch für die daraus resultierenden sozialen Rahmenbedingungen auf einen sozial- und politikwissenschaftlichen Diskurs zu übertragen. Ich erhoffe mir von den Ergebnissen eine neue Perspektive auf die Problemstellung einer zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft sowie, daraus resultierend, neue Impulse für die laufende Exposé für Promotionsvorhaben sozialwissenschaftliche Debatte. Im Mittelpunkt steht dabei die Analyse der einzelnen Aspekte von Individualität in den Werken der einzelnen Denker und der konfrontative Vergleich ihrer Konzepte, die bislang in der Forschung weitestgehend vernachlässigt wurden, ausgehend von der Frage, welche Anforderungen an das Individuum und die Gesellschaft bei einer solchen Entwicklung gestellt werden. Im ersten Schritt erfolgt somit eine Klärung der Konzepte, auf denen aufbauend im zweiten Schritt nach Übertragungsmöglichkeiten und Berührungspunkten für den sozialwissenschaftlichen Diskurs gefragt wird. Trotz des redundanten Verweises auf die Bedeutung der “Individualität” im Werke Nietzsches in der Sekundärliteratur liegen bislang nur vereinzelte, meist lediglich auf die Geburt der Tragödie, “Zweite Unzeitgemäße Betrachtung” und Also sprach Zarathustra fokussierte Untersuchungen vor; Analysen über direkte Einflüsse auf seinen Begriff der Individualität sind hingegen rar. In den vorhandenen Studien wird redundant auf die Überschneidungen bzw. die Differenzen zum Stirnerschen Individualismuskonzeptes verwiesen – während andere mögliche geistige Einflüsse auf sein Konzept weitestgehend ignoriert werden. Um diesen Aspekt zu verifizieren und auch den Blick für die Konzeption von Individualität bei Friedrich Nietzsche zu schärfen, werde ich die von Nietzsche überlieferten Aufzeichnungen bzw. Anstreichungen in den Werken von Percy Bysshe Shelley, Bernhard Shaw und Ralph Waldo Emerson sowie weitere Inspirationsquellen aufdecken und untersuchen. Weiterhin benötige ich Einblick in die Notizen zu George Gordon Byron und Johann Wolfgang von Goethe, in deren Werken der Begriff Übermenschen auftaucht, um ihn näher bestimmen und pointierter definieren zu können. Zudem bietet sich der Einblick in die Anmerkungen zu Charles Baudelaires Gedichten und Paul Bourgets literaturwissenschaftliche Studien an, um eine potentielle indirekte Rezeption de Sades nachzuweisen, in der Forschung wiederholt konstruiert wird.12 Sie könnte eine weitere Quelle zum Verständnis Nietzsches Bewertung des Individualismus darstellen. Die Deskription und Analyse der Individualitätskonzepte der drei Denker im Hauptteil der Arbeit verläuft anhand von sieben ausgewählten Komponenten, die wiederum mit Exkursen über ihre jeweilige Einflüsse und literarisch-philosophischen Rückgriffe, in einen ideengeschichtlichen Kontext gestellt werden. Dies erscheint gerade vor der Frage nach dem Ausmaß der Stirnerrezeption Friedrich Nietzsches, die in dieser Arbeit nur rudimentär thematisiert wird, als auch dessen Wagner1 Vgl. u.a. Mark Boulby (1976), O. V. Stroganova (1996), John Phillips (2005). 2 Vgl. u.a. Mark Boulby (1976), Reay Tannahill (1982), O. V. Stroganova (1996), John Phillips (2005). Exposé für Promotionsvorhaben und Schopenhauerrezeption neben den bereits genannten Literaten für das Verständnis seiner Aussagen relevant zu sein. Zudem läßt es eine schärfere Trennung zwischen von anderen Denker im wesentlichen übernommenen und originär eigenen Überlegungen zu. Die Basis der Untersuchung bilden dabei vorrangig die Primärquellen. Dazu zählen die von Friedrich Nietzsche zwischen 1872 (Die Geburt der Tragödie) und 1888 (Götzendämmerung) zum Druck freigegebenen Werke, Marquis de Sades libertine Romane Die 120 Tage von Sodom (1785), Aline und Valcour (1795), Philosophie im Boudoir (1795) und Justine und Juliette (1797) sowie von Max Stirner der Aufsatz “Über das unwahre Prinzip unserer Erziehung” (1842), sein Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (1844) sowie die 1845 veröffentlichte Antwort auf seine Kritiker (“Recensenten Stirners”). Aufgrund des Umfangs des Werkes der drei Denker habe ich diese Auswahl getroffen unter dem Gesichtspunkt der Ergiebigkeit bezüglich meiner Fragestellung sowie der Authentizität jener Schriften. Im letzten Schritt der Arbeit werde ich die Ergebnisse meiner Untersuchung auf die im ersten Teil der Arbeit exzerpierte Problemstellung der Individualisierung und ihre aktuell diskutierten Aspekte übertragen. Auf die Modernität der drei Denker für die Diskurse wurde zwar bereits in den vergangenen Jahren redundant verwiesen (z.B. Istituto Suor Orsola Benicasa 1996; Ulrich 2002; Petrowski 2002), bislang unterblieb hierfür aber der Nachweis. Er soll mit der entstehenden Arbeit nachgereicht werden. Der Nachweis ist gleichzeitig mit einer Stärkung der Position der geisteswissenschaftlichen Grundlage innerhalb der sozialwissenschaftlichen Disziplinen verbunden, die in den letzten Jahren verstärkt durch eine rein empirisch Ausrichtung innerhalb der Fakultäten verdrängt wurde. Benutzte Quellen: Exposé für Promotionsvorhaben Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, 8 Bände, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / München 1986. Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bände, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / München 1980. de Sade, Marquis: Œuvres Complètes du Marquis de Sade, herausgegeben von Annie Le Brun und Jean-Jacques Pauvert, 16 Bände, Paris 1986-1991. Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1991. Ders.: Recensenten Stirners, in: Recensenten Stirners - Kritik und Antikritik. Mit einer Einleitung von Bernd Kast, herausgegeben von Kurt W. Fleming, Leipzig 2003. Ders.: Das unwahre Prinzip unserer Erziehung, in: Max Stirner: Parerga – Kritik – Repliken, herausgegeben von Bernd A. Laska, Nürnberg 1986, S. 75-98. Zitierte Literatur: Boulby, Mark (1976): Nietzsche and the Finis Latinorium, in: Studies in Nietzsche and the Istituto Suor Orsola Benincasa (Hrsg.) (1996): Max Stirner e l’individualismo moderno, Napoli. Petrowski, Andrejs (2002): Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer. Problematische Individualität in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts, Heidelberg. Phillips, John (2005): How to read Sade, London. Strogorova, O.V. (1996): Probleme der menschlichen Natur im Werk Laclos und de Sades (von der Libertinage zur Nietzscheanischen Weltanschauung), in: Vestnik SpbGU, Sankt Petersburg, 1996, Nr. 2, S. 95-97. Ulrich, Jörg (2002): Individualität als politische Religion, Albeck bei Ulm (Zugl., Uni.- Diss., Gießen, 2002).
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