KULTURPOLITIK AKTUELL Der Kommentar Der Kulturinfarkt – eine Kontraindikation Von Oliver Scheytt und Norbert Sievers E in Gespenst geht um in der deutschen Kulturpolitik, es ist das Gespenst des Kulturinfarktes. Zuerst aufgetreten ist es im SPIEGEL Nr. 11/2012 als Vorabdruck aus der gleichnamigen Publikation des Autorenquartetts Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz. Seitdem treibt es sein Unwesen in den Gazetten des kulturpolitischen Feuilletons und auf den Fluren des Kulturbetriebs. Kopfschütteln bei den einen, klammheimliche Freude bei den anderen. Alle Register werden gezogen: Verkürzung, Unterstellung, Beschimpfung, Drohung, Ablenkung. Wie im richtigen Leben, wenn es zur Sache geht, wenn ein Nerv getroffen wurde. Die Besitzstandswahrer, Interessenvertreter und kulturpolitisch Engagierten sind sich einig: Das Buch ist ein Affront, pure Provokation, eine Steilvorlage für die Kulturkürzer – ein Dolchstoß ins Herz der kulturpolitisch Aufrechten. Andere signalisieren immerhin Verständnis, interpretieren die Polemik eher als Stilmittel und Impuls, um eine notwendige Diskussion zu beleben. Worum geht es? Die Autoren, allesamt in der kulturpolitischen Fachdiskussion keine Unbekannten, die zum Teil selbst am Programm der Neuen Kulturpolitik aktiv mitgewirkt haben, diagnostizieren einen Infarkt des öffentlichen Kulturfördersystems, festgemacht an den Kriterien der Immobilität, des Erneuerungsstaus, ja der Innovationsfeindlichkeit. Dabei dekonstruieren sie den Legitimationshaushalt der Kulturpolitik gleich mit. Der Kulturstaat: eine »Ersatzveranstaltung«, ein ideologisches Konstrukt des 18. Jahrhunderts. Vielfalt: kein Ergebnis der Kulturförderung, die eher zur Konformität führe. »Kultur für alle«: eine Schimäre, vergebliches Bemühen, gescheiterter Versuch der bürgerlichen Klasse, ihr autoritäres kulturelles Erziehungsprogramm umzusetzen. Der Ausbau der kulturellen Infrastruktur: die »letzte Offensive des vordemokratischen Modells des Kunstbürgers«, dessen »ästhetisches Projekt« von »Anfang an« im Widerspruch zum demokratischen Projekt des »mündigen, selbstbestimmten Bürgers« stand. Was für ein Aufschlag! Dass wir das noch erleben dürfen: So viel Seminardiskurs, aber auch so viel Selbstkritik. Wer kennt nicht das heimliche Vergnügen an der (Selbst-)Demontage, gespeist aus Ernüchterung und Enttäuschung und verbunden mit dem Versuch, einen neuen radikalen Gegenentwurf zu wagen. In der Geschichte der – wie die Autoren uns weismachen wollen – völlig gescheiterten Neuen Kulturpolitik gibt es etliche davon. Ihr Programm war Reflexivität, InfrageStellung, Veränderung, auch wenn sie dieses 20 realpolitisch nicht immer umsetzen konnte. In dieser Tradition stehen auch die Autoren, nur dass sich ihre Kritik jetzt gegen das Programm selbst wendet, jedenfalls gegen das Zerrbild, das sie davon zeichnen. Vielleicht liegt es daran, dass man bei vielen Argumenten den Eindruck hat, sie schon mal gehört zu haben: bei Hermann Glaser, Alfons Spielhoff, Albrecht Göschel, Bernd Wagner und bei Gerhard Schulze, den die Autoren offensichtlich besonders genau gelesen haben, aber auch bei den vielen anderen AutorInnen der Kulturpolitischen Mitteilungen, der Jahrbücher für Kulturpolitik und vieler anderer Publikationen. Gab es da nicht einen Kulturpolitischen Bundeskongress »publikum.macht.kultur« im Jahr 2005, mit dem eine stärker nachfrageorientierte Kulturpolitik gefordert wurde? All diese Debatten und Argumente, die es ja schon gab und gibt, werden nicht aufgenommen, geschweige denn verarbeitet. Das ist irritierend. Das Buch will offenbar in erster Linie provozieren und nicht argumentieren. Das ist schade. Die Autoren plädieren für Neues und Innovatives, für einen Umbau des öffentlichen Kultursystems. Das ist positiv. Aber warum wird fast alles, was in den letzten Jahrzehnten entstanden ist, schlecht geredet? Warum setzen sie nicht an den neuen Entwicklungen an, die es in der Kulturpolitik gibt? Warum sind ihnen die Debatten, die wir in der Kulturpolitischen Gesellschaft immer wieder geführt haben, nur wenige Zeilen wert? Warum wird ein kulturpolitischer Meilenstein wie der Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Kultur in Deutschland« abgetan als Dokument der »Regelungslust«, das »das Verschwinden der Kultur im Gesetzesdschungel« vorwegnehme? Was soll diese Verkürzung, diese unnötige, ja oft zynische Polemik, die ihrerseits nur Polemik erzeugt? Warum springen sie wie Kai aus der Kiste in die Diskurslandschaft, um den Ewiggestrigen – und man hat den Eindruck, das sind fast alle, außer eben sie selbst – die Leviten zu lesen und den kulturstaatsautoritären Kulturpolitikern zu zeigen, wo es lang geht? Soll das ein Gesprächsangebot sein? Da wird etwa geschrieben, noch immer seien es nur 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung, die sich für das Hochkulturangebot interessierten. Das ist schlicht falsch, wenn denn die Untersuchungen des Zentrums für Kulturforschung stimmen. Bei dieser Gruppe handelt es sich um die Intensivnutzer, nicht um diejenigen, die Interesse haben und interessiert werden könnten, was sich ja die Kulturpolitik als Aufgabe vorgenommen hat. Die unbestreitbaren Erfolge der Kulturellen Bildung und Vermittlung der letzten Jahre werden nicht anerkannt, vielmehr schlagen die selbst ernannten Kulturärzte vor, das Programm »Jedem Kind ein Instrument« durch »Jedem Kind ein Tablet« zu steigern. Da ist von »kultureller Flutung« Deutschlands die Rede, weil immer vom Angebot und nicht von der Nachfrage her gedacht worden sei. Sicher ist die Angebotsorientierung im Kulturbereich zu hinterfragen. Aber muss man deshalb von »kultureller Flutung« sprechen, als sei irgendwo, wahrscheinlich vom »hoheitlichen Kulturstaat«, eine Schleuse geöffnet worden? Die fortlaufenden Pauschalierungen (»die Kulturpolitik«, »der Kulturbetrieb») verstellen die Einsicht in die diffizilen kulturpolitischen Entscheidungsprozesse. Mit dieser simplen Haltung lässt sich aber Politik weder erklären noch gestalten. Die Kulturpolitik braucht aufrüttelnde Diskussionen. Ja, es gibt Probleme in der öffentlichen Kulturfinanzierung, bei der Nutzung und Entwicklung der kulturellen Infrastruktur. Und ja, wir werden uns darauf einstellen müssen, dass diese Probleme größer und nicht kleiner werden. Deshalb sei jenen, die aus wohlverstandenem Interesse ihren Abwehrreflex aktivieren, die Aussagen der Autoren ihrerseits verkürzen und das ganze Buch für Quatsch halten, gesagt: Denkverbote lösen keine Probleme. Die Kulturpolitik tut sich keinen Gefallen damit, wenn sie sich auf ihre Bunkermentalität besinnt und jene altbekannten Argumente wiederholt, die ihrerseits infarktbedroht sind: »Mit dem wenigen Geld, das die Kultur braucht, kann kein Haushalt saniert werden.« »Eine Einrichtung, die geschlossen wurde, ist ein für alle Mal weg.« »Theater muss sein.« »Kultur lässt die Seele fliegen.« Das mag alles richtig sein, aber derartige Formeln reichen nicht mehr aus, um Kulturpolitik in Zukunft legitimieren und gestalten zu können. Wir brauchen bessere Argumente, um die öffentlichen Ausgaben für diesen Bereich zu begründen und die Bürger davon zu überzeugen. Und wir brauchen Sinn für das Notwendige und Gestaltbare. Die Kulturpolitische Gesellschaft hat sich immer als Impulsgeber für Reformprozesse verstanden, die auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen reagieren. Der »Infarktimpuls« hat zu einer neuen Aufmerksamkeit für kulturpolitisches Denken und Handeln geführt. Diese sollten wir nutzen, einen kompetenten Diskurs über eine kluge Revision der kulturellen Infrastruktur zu entwickeln. Aufgabe der Kulturpolitischen Gesellschaft ist es, darauf zu achten, dass daraus keine Gespensterdebatte wird. Kulturpolitische Mitteilungen • Nr. 136 • I/2012
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