Predigt über „Lebensklugheit angesichts der Grenzen des Lebens“ gehalten am 8. März 2015 in der Martinskirche Pfullingen von Pfarrer Gerald Büchsel „Lehre uns unsere Tage zählen, damit Weisheit in unser Herz kommt.“ (Psalm 90,12) Liebe Gemeinde, ich solle doch möglichst anschaulich und lebensnah erzählen aus meinem Alltag in der Klinikseelsorge im Umgang mit dem Tod. So sagte man mir in der Vorbereitung auf diesen Gottesdienst. Auch wenn es natürlich wahr ist, dass wir als Krankenhauspfarrer überdurchschnittlich oft zu dramatischen Situationen gerufen werden. Davon möchte ich heute trotzdem nicht reden. Aus gutem Grund. Gleich vorweg will ich vielmehr feststellen: Die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen stirbt friedlich. Auch im Krankenhaus. Um den Tod ginge es ohnehin nicht in erster Linie mit der Kirchentagslosung. Wäre da nicht der vertraute Klang der Übersetzung Luthers von Psalm 90. Der hat zwar sehr lebensklug interpretiert, aber nicht wörtlich übersetzt. Von Tod und Sterben steht da nichts. Sehr wohl aber ist die Rede von der Begrenztheit des Lebens, von der Zählung und Zuteilung der Zeit. Von der prinzipiellen Endlichkeit alles Lebendigen. 1 Und es geht allerdings um die Weisheit der Herzen. Letztlich ist die Frage ja einfach die: Was kann ich tun, um mich – mitten im Leben – rechtzeitig mit der Tatsache Tod auszusöhnen? So, dass mein Leben sich an der begrenzten Spanne der Tage ausrichtet, die mir zugemessen ist. So, dass ich ganz alltäglich meine Aufmerksamkeit und meine Kraft dem Leben widme und dem was ihm dient. Was muss ich tun? Die erste Antwort ist vom Glauben her gesehen sehr schlicht: Ich muss gar nichts tun. Das, was zu tun ist, ist schon getan. In Christus hat Gott den Tod besiegt. Er selbst ist mit Christus in die letzte Tiefe gegangen und hat damit die wertvollste Wahrheit besiegelt, die wir kennen: Die Liebe ist stark wie der Tod. Das mag mein Glaube sein, aber es macht den Tod nicht zu etwas Harmlosem. Und der Auftrag ist nicht – wie heute oft zu hören ist – uns mit dem Tod „anzufreunden“. Christoph Blumhardt der jüngere hat - ganz im Gegenteil - einmal über uns Christen gesagt, wir seien „Protestleute gegen den Tod“. Und da gibt es auch gar kein Vertun: Der Tod hat viele gewaltsame Seiten, mit denen wir uns nie „anfreunden“ werden: Das massenhafte Sterben von unterernährten Kindern weltweit, damit will und kann ich mich niemals abfinden, der Tod von jungen Menschen bei Verkehrsunfällen 2 oder durch Selbsttötung, hundsgemeine Krankheiten, die Menschen wahllos und viel zu früh aus Beziehungen reißen. All das empfinden wir zu Recht als skandalös und es lässt uns oft genug untröstlich zurück. Das, was uns den Tod so schwer macht, ist nämlich im Grunde genau dasselbe wie das, was uns das Leben schwer macht. Und eines davon ist die Angst. Martin Buber weist darauf hin mit einer seiner „Erzählungen der Chassidim“. Sie hat die Überschrift: Die Angst vor dem Tod Der Gerer Rabbi sprach einmal: „Was ängstigt der Mensch sich vor seinem Tode? Er geht doch zu seinem Vater! Der Mensch ängstigt sich vor dem Augenblick, wo er von drüben alles überschaut, was sich hier mit ihm begeben hat.“1 Es geht an diesem Punkt nicht um eine Vorstellung vom Sterben, sondern vom „tot-sein“. Es geht um die Rückschau. Ein Blick auf das Leben als ein Gewordenes. Und das ist unabänderlich. Das betrifft natürlich auch die Lebenden: Wenn wir Abschied nehmen von einem Menschen, dann pflegen wir zurückzuschauen auf das vergangene Leben. Und wir können nichts mehr daran verändern, als allein den eigenen Blick darauf. Und darin mag sich eine gewisse 1 Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, S. 833 3 Nachdenklichkeit einstellen: Und meine Tage? Was wird bleiben von mir? Etwas, das der Rede wert ist? Die Vorstellung eines „fertigen“ Bildes kann der Ausgangspunkt sein für die Lebensklugheit, die uns der Psalm 90 empfiehlt: Nicht erst am Ende des Lebens an der unüberwindlichen Grenze zu stehen. Die Endlichkeit beginnt immer heute. Ich kenne Menschen aus der „Eso-Ecke“, die sich das zur täglichen Übung machen: Morgens aufstehen, ins Bad gehen, sich vor den Spiegel stellen und sich den Satz laut ins Gesicht sagen: „Ich werde sterben.“ Die gute Absicht daran kann ich verstehen. Sich täglich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst sein um achtsam mit der eigenen Zeit umzugehen. Ich finde es dennoch etwas skurril und würde nicht so weit gehen, mich damit zu quälen. Eine Weisheit eigener Art ist es dennoch, dem Schrecken zuvor zu kommen. Nicht zu warten, bis uns ein nahestehender Mensch abhanden kommt und ich ihm nicht mehr sagen und zeigen kann, was er mir bedeutet. Es nicht darauf ankommen lassen, bis eine erschreckende Diagnose mich aus dem Traum weckt, ich könnte meine Lebenspläne einfach unbegrenzt immer so fortspinnen. Überhaupt: Das notwendige nicht verschieben. Sondern die Ziele, die Wünsche, die Träume ins hier und jetzt zu holen. 4 Das wäre die „Weisheit“. Was es allerdings noch gibt, das ist eine ganz praktische Art der Klugheit oder Besonnenheit angesichts der Endlichkeit unseres Lebens. Vor einigen Jahren hat einer der führenden Palliativmediziner Deutschlands, Gian Domenico Borasio, ein bemerkenswertes Buch geschrieben, das den schlichten Titel „Über das Sterben“ trägt. Ebenso nüchtern wie leidenschaftlich ermutigt er dazu, beizeiten das Notwendige zu bedenken. Dazu gehört es selbstverständlich, ein Testament zu machen, eine Vorsorgevollmacht auszustellen, eine Patientenverfügung zu formulieren. Noch wichtiger aber – sagt er – ist es mit Angehörigen, Freunden, oder – noch besser – einem Arzt über die Werte zu sprechen, die einen in den Entscheidungen heute leiten. Und dazu gibt er ein ganz einfaches Fragenraster an die Hand, aus dem ich ihnen vorlesen möchte: - Wie sind Sie bisher mit leidvollen Erfahrungen in Ihrem Leben umgegangen? Haben Sie sich dabei von anderen helfen lassen, oder haben Sie versucht, alles allein zu regeln und alles mit sich selbst auszumachen? 5 - Haben Sie Angst, anderen zur Last zu fallen, oder sind Sie der Meinung, dass Sie sich getrost helfen lassen dürfen? - Wollen Sie noch möglichst lange leben? Oder ist Ihnen die Intensität Ihres zukünftigen Lebens wichtiger als die Lebensdauer? - Was wäre für Sie die schlimmste Form einer Behinderung? Welches Mindestmaß an Selbständigkeit ist für Ihre Lebensqualität unbedingt notwendig? - Gibt es viele unerledigte Dinge oder Aufgaben in Ihrem Leben, für deren Regelung Sie unbedingt noch Zeit brauchen? - Welche Rolle spielt die Religion in Ihrer Lebensgestaltung? - Haben Sie gern vertraute Menschen um sich, wenn es Ihnen schlecht geht, oder ziehen Sie sich lieber zurück? (in Ausw. a.a.O. S.149) Und wieder landen wir an der selben Stelle: Das, was uns den Tod schwer macht, ist im Grunde genau dasselbe, was uns das Leben schwer macht: mit Brüchen leben, mit Einschränkungen klar kommen, um Vertrauen ringen, und womöglich eben gerade das Unvollkommene zu lieben. Und selbst auf schreckliche Weise imperfekt zu sein. Einen weiteren wichtigen Hinweis gibt es noch in dem Buch von Borasio. 6 Es gibt zwei Phasen im Leben eines Menschen, die so etwas sind, wie ein natürliches Programm, das planvoll abläuft: Geburt und Sterben. Und für beide Phasen gilt: Es ist am Besten in diese natürlichen Abläufe so wenig wie möglich einzugreifen. Das ist keine Kritik an den Fortschritten der Medizin und es ist auch kein Plädoyer für irgendwelche Formen von Fatalismus. Es ist lediglich ein berechtigter Einspruch gegen die gängigen Vorstellungen von Machbarkeit und Souveränität. Die Medizin selbst wird sich in ethischen Fragen zunehmend klar darüber: Reanimieren und Beatmen oder nicht? Künstlich ernähren und damit unter Umständen Leiden verlängern oder nicht? Einer Organentnahme zustimmen oder nicht? Je mehr wir entscheiden müssen, desto mehr Verantwortung ziehen wir auf uns. Wen wundert‘s, wenn am Ende die Menschenwürde nicht mehr als verliehen gilt, sondern als etwas, das autonom zu steuern ist. Wer die Würde des Menschen aber so definiert, dass sie abhängig ist von Freiheit und Selbstverantwortung, der kommt am Ende tatsächlich nicht aus ohne die Möglichkeit des Freitods. Der Tod ist aber eben nicht ein problematisches Restrisiko am Ende des Lebens. Er ist vielmehr ein planvoller Teil der Existenz selbst. Und weil Ihnen das 7 wahrscheinlich viel zu kompliziert und theoretisch klingt, sage ich es noch einmal ganz einfach: Es gibt einen wunderbaren Hinweis aus der Schöpfungsgeschichte, der das veranschaulicht: Schöpfungswerk um Schöpfungswerk wird beschrieben, Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Pflanzen und Tiere, und immer heißt es am Ende des Abschnitts: und Gott sah, dass es gut war. Und nachdem die ersten sechs Tage um sind heißt es gar: Und siehe, es war sehr gut. Wie wir aber alle wissen, ist die Schöpfung damit noch nicht fertig. Am Ende erschafft Gott das Kostbarste: Die Ruhe. Schon der Klang des hebräischen Wortes für Ruhe scheint anzuzeigen, worum es geht: Menuchah. Das klingt wie ein tiefes Ausatmen. Menuchah. Was es am Ende braucht ist eben genau dies: Nun lass es gut sein. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass in diesem Gedanken der Tod in einer guten Weise von Anfang an mitgedacht ist als Ziel aller Lebensklugheit: So zu leben, das am Ende das Einverständnis stehen kann: So, wie es geworden ist, so kann ich es jetzt gut sein lassen. Amen 8
© Copyright 2024 ExpyDoc